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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Neue Lyrik

mich etwas Outriertes, ein Krampf, etwas Überhitztes. Sein Humor hat mir
nie das Herz erwärmt, und so stehe ich auch in diesem letzten Buche solchen
Stücken, wie "Der gestörte Nachtwandler", "Stilleben", "Der Hähnenkampf",
"Die neue Würde" abwehrend gegenüber; es fehlt ihnen die Befreiung, das
Schweben, die selbstverständliche Überlegenheit. In den größeren Dichtungen
"Die Hafenfeier" und "Die Musik des Mont Blanc" hallt eine weitschwingende,
spanische Melodie. Hier stehen einige jener starken Stellen, wie sie nur Dehmel
gelingen; tönende, kraftvolle, bildhafte Verse. Manchmal freilich stört mich das
Deskriptive, wie es wohl Walt Whitman in unsere Dichtung eingeführt hat;
aber ein fremdes Reis ist schwierig aufzupfropfen. Und eine solche Strophe:

empfinde ich fast als gereimte Zeitungsnotiz. Nicht etwa darum, weil ihr die
"Romantik" sehlt, weil "Schutzleute, Kurtisanen p. p." an sich als undichterisch
gelten, sondern weil der freischwebende Rhythmus nicht erklingt, weil ich das
Gefühl des Zusammengesuchten, Aneinandergeklebten nicht los werden kann.
Mir erscheinen die kurzen, liedhaften Verse als die besten, ausgeglichensten. Da
finden sich kleine Kostbarkeiten: "Märzlied", "Verklärung", "Aufrichtung" (sehr
schön von Richard Wetz komponiert), "Nachglanz", "Gleichnis", "Lied im
Winter". "Der Schwimmer", "Feierabend". "Nachtgebet". Dieses letzte Gedicht
mit seiner Stille und innigen Melodie möge als Probe abgedruckt sein:

Ein hohes Ziel hat sich Hans Benzmann mit seiner "Evangelienharmonie"
gesteckt (Fritz Eckardt, Leipzig). Dieser Gedichtzyklus will als Ganzes wirken
und soll auch so betrachtet sein. Im einzelnen wäre vielerlei zu beanstanden;
mancher Erdenrest, peinlich zu tragen; manche nüchterne Wendung, namentlich
in den nacherzählten Bibelberichten. Benzmann dringt nicht immer bis zu dem --
im besten Sinne -- symbolischen durch. Aber sein Wollen und ernstes Streben
verdienen Achtung. In diesem Buche hat sich der Dichter weit über seine früheren
Bücher erhoben; ein dunkeltönender Akkord durchflutet diese kräftigen Verse. Es
ist eine große Ehrlichkeit darin, ein Suchen und Sehnen. In den ersten drei


Neue Lyrik

mich etwas Outriertes, ein Krampf, etwas Überhitztes. Sein Humor hat mir
nie das Herz erwärmt, und so stehe ich auch in diesem letzten Buche solchen
Stücken, wie „Der gestörte Nachtwandler", „Stilleben", „Der Hähnenkampf",
„Die neue Würde" abwehrend gegenüber; es fehlt ihnen die Befreiung, das
Schweben, die selbstverständliche Überlegenheit. In den größeren Dichtungen
„Die Hafenfeier" und „Die Musik des Mont Blanc" hallt eine weitschwingende,
spanische Melodie. Hier stehen einige jener starken Stellen, wie sie nur Dehmel
gelingen; tönende, kraftvolle, bildhafte Verse. Manchmal freilich stört mich das
Deskriptive, wie es wohl Walt Whitman in unsere Dichtung eingeführt hat;
aber ein fremdes Reis ist schwierig aufzupfropfen. Und eine solche Strophe:

empfinde ich fast als gereimte Zeitungsnotiz. Nicht etwa darum, weil ihr die
„Romantik" sehlt, weil „Schutzleute, Kurtisanen p. p." an sich als undichterisch
gelten, sondern weil der freischwebende Rhythmus nicht erklingt, weil ich das
Gefühl des Zusammengesuchten, Aneinandergeklebten nicht los werden kann.
Mir erscheinen die kurzen, liedhaften Verse als die besten, ausgeglichensten. Da
finden sich kleine Kostbarkeiten: „Märzlied", „Verklärung", „Aufrichtung" (sehr
schön von Richard Wetz komponiert), „Nachglanz", „Gleichnis", „Lied im
Winter". „Der Schwimmer", „Feierabend". „Nachtgebet". Dieses letzte Gedicht
mit seiner Stille und innigen Melodie möge als Probe abgedruckt sein:

Ein hohes Ziel hat sich Hans Benzmann mit seiner „Evangelienharmonie"
gesteckt (Fritz Eckardt, Leipzig). Dieser Gedichtzyklus will als Ganzes wirken
und soll auch so betrachtet sein. Im einzelnen wäre vielerlei zu beanstanden;
mancher Erdenrest, peinlich zu tragen; manche nüchterne Wendung, namentlich
in den nacherzählten Bibelberichten. Benzmann dringt nicht immer bis zu dem —
im besten Sinne — symbolischen durch. Aber sein Wollen und ernstes Streben
verdienen Achtung. In diesem Buche hat sich der Dichter weit über seine früheren
Bücher erhoben; ein dunkeltönender Akkord durchflutet diese kräftigen Verse. Es
ist eine große Ehrlichkeit darin, ein Suchen und Sehnen. In den ersten drei


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[0391] Neue Lyrik mich etwas Outriertes, ein Krampf, etwas Überhitztes. Sein Humor hat mir nie das Herz erwärmt, und so stehe ich auch in diesem letzten Buche solchen Stücken, wie „Der gestörte Nachtwandler", „Stilleben", „Der Hähnenkampf", „Die neue Würde" abwehrend gegenüber; es fehlt ihnen die Befreiung, das Schweben, die selbstverständliche Überlegenheit. In den größeren Dichtungen „Die Hafenfeier" und „Die Musik des Mont Blanc" hallt eine weitschwingende, spanische Melodie. Hier stehen einige jener starken Stellen, wie sie nur Dehmel gelingen; tönende, kraftvolle, bildhafte Verse. Manchmal freilich stört mich das Deskriptive, wie es wohl Walt Whitman in unsere Dichtung eingeführt hat; aber ein fremdes Reis ist schwierig aufzupfropfen. Und eine solche Strophe: empfinde ich fast als gereimte Zeitungsnotiz. Nicht etwa darum, weil ihr die „Romantik" sehlt, weil „Schutzleute, Kurtisanen p. p." an sich als undichterisch gelten, sondern weil der freischwebende Rhythmus nicht erklingt, weil ich das Gefühl des Zusammengesuchten, Aneinandergeklebten nicht los werden kann. Mir erscheinen die kurzen, liedhaften Verse als die besten, ausgeglichensten. Da finden sich kleine Kostbarkeiten: „Märzlied", „Verklärung", „Aufrichtung" (sehr schön von Richard Wetz komponiert), „Nachglanz", „Gleichnis", „Lied im Winter". „Der Schwimmer", „Feierabend". „Nachtgebet". Dieses letzte Gedicht mit seiner Stille und innigen Melodie möge als Probe abgedruckt sein: Ein hohes Ziel hat sich Hans Benzmann mit seiner „Evangelienharmonie" gesteckt (Fritz Eckardt, Leipzig). Dieser Gedichtzyklus will als Ganzes wirken und soll auch so betrachtet sein. Im einzelnen wäre vielerlei zu beanstanden; mancher Erdenrest, peinlich zu tragen; manche nüchterne Wendung, namentlich in den nacherzählten Bibelberichten. Benzmann dringt nicht immer bis zu dem — im besten Sinne — symbolischen durch. Aber sein Wollen und ernstes Streben verdienen Achtung. In diesem Buche hat sich der Dichter weit über seine früheren Bücher erhoben; ein dunkeltönender Akkord durchflutet diese kräftigen Verse. Es ist eine große Ehrlichkeit darin, ein Suchen und Sehnen. In den ersten drei

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/391>, abgerufen am 24.08.2024.