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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Neue Lyrik
Immer
Könnt ich mich je bedenken,
mich an die Kinder zu verschenken?
Und Leiden gar ist Lust, das Liebesopfer ist. (!)
Niemand ermißt,
wie selig sich sein Herz verbluten kann,
das sich aus lauter Lieb vergißt.
Wer stände, sein zu spotten, denn dafür um Dank Wohl an. (I!)

Ich frage mich vergebens, was diese holperige, unklare letzte Zeile recht¬
fertigen kann. Schaukal gefällt sich in derartigen parenthetischen Ungeschickt-
heiten, die zur Manier werden:

Oder:

Und selbst die Liebe zu den Kindern, von welcher diese Verse singen, vermag
nicht zu überzeugen. Ich kann an ein Gedicht, wie "Die Mutter", nicht glauben:

Ist das Wahrheit, innerstes Muß? Nein, nein! Pose, Anstrengung,
Parfüm! Und so sand ich nur ein Gedicht, das mich befriedigte, "Das Garten-
zimmer"; hier spricht aber auch noch der Richard Schaukal aus früheren Tagen.

Wie anders wirkt da Heinrich Spiero! Sein Buch mit dem nicht gerade
geschmackvollen Titel "Kranz und Krähen" (Xenien-Verlag, Leipzig) ist doch
wenigstens echt und kräftig. Freilich ist ihm eine gewisse Sprödigkeit eigen;
es fehlt die heimliche Melodie, der verklärende Hauch. Man könnte (nicht eben
im tadelnden Sinn) von deutscher Biederkeit reden. Und ich glaube, daß Spiero
selbst, von dem ich feine, verständige Essays gelesen habe, diese schlichten Verse
nicht als seines Wesens innerste Offenbarung betrachtet. Immerhin sind mir
Gedichte wie "Sommerabend". "Rast". "Rückschau", "Unter Mittage", "Trüber
Abend" in ihrer ruhigen Klarheit und Sicherheit weit lieber wie Schaukals
gemachte Naivitäten, wenn sie mich auch nicht zu ergreifen wissen.

Nach geraumer Zeit hat Richard Dehmel ein neues Gedichtbuch veröffent¬
licht: "Schöne wilde Welt" (Verlag S. Fischer, Berlin). Es fügt dem Bilde
des Dichters keine neuen, wesentlichen Züge ein. Dehmels Entwickelung ist ab¬
geschlossen; und was er noch gibt, sind gewissermassen Paralipomena. Seine
hohe Bedeutung für unsere Zeit ist mir nie fremd geblieben, und manche seiner
kleineren lyrischen Gebilde haben sich mir unverlierbar eingeprägt. Sicherlich
steht seine grüblerische, ringende, ernste Gestalt ehrfurchtgebietend in der Kunst
unserer Tage. Aber ich bin niemals seiner ganz froh geworden; zu oft störte


Neue Lyrik
Immer
Könnt ich mich je bedenken,
mich an die Kinder zu verschenken?
Und Leiden gar ist Lust, das Liebesopfer ist. (!)
Niemand ermißt,
wie selig sich sein Herz verbluten kann,
das sich aus lauter Lieb vergißt.
Wer stände, sein zu spotten, denn dafür um Dank Wohl an. (I!)

Ich frage mich vergebens, was diese holperige, unklare letzte Zeile recht¬
fertigen kann. Schaukal gefällt sich in derartigen parenthetischen Ungeschickt-
heiten, die zur Manier werden:

Oder:

Und selbst die Liebe zu den Kindern, von welcher diese Verse singen, vermag
nicht zu überzeugen. Ich kann an ein Gedicht, wie „Die Mutter", nicht glauben:

Ist das Wahrheit, innerstes Muß? Nein, nein! Pose, Anstrengung,
Parfüm! Und so sand ich nur ein Gedicht, das mich befriedigte, „Das Garten-
zimmer"; hier spricht aber auch noch der Richard Schaukal aus früheren Tagen.

Wie anders wirkt da Heinrich Spiero! Sein Buch mit dem nicht gerade
geschmackvollen Titel „Kranz und Krähen" (Xenien-Verlag, Leipzig) ist doch
wenigstens echt und kräftig. Freilich ist ihm eine gewisse Sprödigkeit eigen;
es fehlt die heimliche Melodie, der verklärende Hauch. Man könnte (nicht eben
im tadelnden Sinn) von deutscher Biederkeit reden. Und ich glaube, daß Spiero
selbst, von dem ich feine, verständige Essays gelesen habe, diese schlichten Verse
nicht als seines Wesens innerste Offenbarung betrachtet. Immerhin sind mir
Gedichte wie „Sommerabend". „Rast". „Rückschau", „Unter Mittage", „Trüber
Abend" in ihrer ruhigen Klarheit und Sicherheit weit lieber wie Schaukals
gemachte Naivitäten, wenn sie mich auch nicht zu ergreifen wissen.

Nach geraumer Zeit hat Richard Dehmel ein neues Gedichtbuch veröffent¬
licht: „Schöne wilde Welt" (Verlag S. Fischer, Berlin). Es fügt dem Bilde
des Dichters keine neuen, wesentlichen Züge ein. Dehmels Entwickelung ist ab¬
geschlossen; und was er noch gibt, sind gewissermassen Paralipomena. Seine
hohe Bedeutung für unsere Zeit ist mir nie fremd geblieben, und manche seiner
kleineren lyrischen Gebilde haben sich mir unverlierbar eingeprägt. Sicherlich
steht seine grüblerische, ringende, ernste Gestalt ehrfurchtgebietend in der Kunst
unserer Tage. Aber ich bin niemals seiner ganz froh geworden; zu oft störte


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[0390] Neue Lyrik Immer Könnt ich mich je bedenken, mich an die Kinder zu verschenken? Und Leiden gar ist Lust, das Liebesopfer ist. (!) Niemand ermißt, wie selig sich sein Herz verbluten kann, das sich aus lauter Lieb vergißt. Wer stände, sein zu spotten, denn dafür um Dank Wohl an. (I!) Ich frage mich vergebens, was diese holperige, unklare letzte Zeile recht¬ fertigen kann. Schaukal gefällt sich in derartigen parenthetischen Ungeschickt- heiten, die zur Manier werden: Oder: Und selbst die Liebe zu den Kindern, von welcher diese Verse singen, vermag nicht zu überzeugen. Ich kann an ein Gedicht, wie „Die Mutter", nicht glauben: Ist das Wahrheit, innerstes Muß? Nein, nein! Pose, Anstrengung, Parfüm! Und so sand ich nur ein Gedicht, das mich befriedigte, „Das Garten- zimmer"; hier spricht aber auch noch der Richard Schaukal aus früheren Tagen. Wie anders wirkt da Heinrich Spiero! Sein Buch mit dem nicht gerade geschmackvollen Titel „Kranz und Krähen" (Xenien-Verlag, Leipzig) ist doch wenigstens echt und kräftig. Freilich ist ihm eine gewisse Sprödigkeit eigen; es fehlt die heimliche Melodie, der verklärende Hauch. Man könnte (nicht eben im tadelnden Sinn) von deutscher Biederkeit reden. Und ich glaube, daß Spiero selbst, von dem ich feine, verständige Essays gelesen habe, diese schlichten Verse nicht als seines Wesens innerste Offenbarung betrachtet. Immerhin sind mir Gedichte wie „Sommerabend". „Rast". „Rückschau", „Unter Mittage", „Trüber Abend" in ihrer ruhigen Klarheit und Sicherheit weit lieber wie Schaukals gemachte Naivitäten, wenn sie mich auch nicht zu ergreifen wissen. Nach geraumer Zeit hat Richard Dehmel ein neues Gedichtbuch veröffent¬ licht: „Schöne wilde Welt" (Verlag S. Fischer, Berlin). Es fügt dem Bilde des Dichters keine neuen, wesentlichen Züge ein. Dehmels Entwickelung ist ab¬ geschlossen; und was er noch gibt, sind gewissermassen Paralipomena. Seine hohe Bedeutung für unsere Zeit ist mir nie fremd geblieben, und manche seiner kleineren lyrischen Gebilde haben sich mir unverlierbar eingeprägt. Sicherlich steht seine grüblerische, ringende, ernste Gestalt ehrfurchtgebietend in der Kunst unserer Tage. Aber ich bin niemals seiner ganz froh geworden; zu oft störte

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/390>, abgerufen am 24.08.2024.