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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Ein englisches Nationaltheater

größten Erfolge im Tragischen einbrachten. Leider war gerade unter den
lebenden Dichtern, die Berücksichtigung bei Sadlers Wells fanden, kein einziges
kräftiges Theatertalent: so verschwanden Robert Brownings, F. G. Tomlins,
Talfourds Dramen, deren man sich annahm, schnell wieder von der Nord-
londoner Literaturbühne.

Das künstlerische Programm der Bühne sprach in eben so bestimmter wie
bescheidener Form die Vorankündigung der ersten Vorstellung -- es war "Macbeth"
-- aus: "Dieses Unternehmen beginnt in einer Zeit, wo die Bühnen, welche
ausschließlich ,die nationalen' genannt worden sind, entweder ganz geschlossen
oder aber Zwecken geöffnet sind, welche sehr verschieden von der Absicht sind,
das wirkliche Drama Englands zu zeigen. Und unser Theater wird fernerhin
eröffnet zu einer Zeit, wo das Gesetz alle Bühnen in bezug auf )>as Ansehen
gleichgestellt hat -- indem es nur noch einen einzigen Unterschied macht: in der
Art, wie die Direktion geführt wird." Zuvörderst aber sollte der vernachlässigte,
vom Zentrum durch den Mangel an geeigneter Verbindung noch weit entfernte
Norden der Weltstadt für seine Umwohner eine würdige Stätte erhalten.
Sadlers Wells war also der Prototyp des modernen "Suburban Theatre", des
Vorstadttheaters mit großstädtischen Repertoir und Ensemble, wie es heute vor
allem in Robert Arthurs verschiedenen Bühnen Außen-Londons ausgebildet ist.
Das Hauvtkontingent des Publikums stellte wirklich das kleine Bürgertum, das
nicht unempfänglich für Kunst war, wie man schon aus der Existenz der für die
gleiche Stadtgegend damals typischen guten kleinen Rauchtheater schließen kann.
Diese Zuschauer, die sür ihre ehrlich verdienten zwei Schilling das geräumige
Parkett und den oberen Rang allabendlich füllten, tranken zwar vor und nach
Shakespeare und in jeder Zwischenpause zur Stummelpfeife ihren Whisky
gegenüber in den Middelton Arms, aber während der Aufführung waren sie
so aufmerksam, dankbar und mit der Zeit auch sachverständig, wie irgendeiner
von den vornehmen Gästen aus dem vornehmen Westend, die die "teuren"
Plätze aus dem von Phelps neu eingebauten Balkon -- sie kosteten auch nie
mehr als 3 Mark! -- inne zu haben pflegten. Denn schon wenige Jahre
nach seiner Wiedereröffnung hielten die modischen Karossen der fashionablen
Welt in immer längeren Reihen vor dem Portal des lange verpöntem Sadlers
Wells-Theaters, und im Januar 1858 schlug Phelps sogar seinen Rivalen
Kean zu dessen nie verwundenem Ärger um mehrere Nasenlängen, als er vom
Hofe eingeladen wurde, bei der Hochzeit des preußischen Prinzen und späteren
Kaisers Friedrich mit seinem Ensemble die Galavorstellung von "Macbeth" an
Her Majestys Theatre zu übernehmen, nachdem er fünf Jahre zuvor schon zur
Befriedigung seiner Königin in Windsor Castle mit "Heinrich dein Fünften"
gastiert hatte.

Von der klugen menschlichen und künstlerischen Einsicht des Samuel Phelps,
der zudem gegenüber Charles Kean die Priorität der Shakespearebelebung für
sich in Anspruch nehmen durfte, da er um volle sechs Jahre früher in Sadlers


Ein englisches Nationaltheater

größten Erfolge im Tragischen einbrachten. Leider war gerade unter den
lebenden Dichtern, die Berücksichtigung bei Sadlers Wells fanden, kein einziges
kräftiges Theatertalent: so verschwanden Robert Brownings, F. G. Tomlins,
Talfourds Dramen, deren man sich annahm, schnell wieder von der Nord-
londoner Literaturbühne.

Das künstlerische Programm der Bühne sprach in eben so bestimmter wie
bescheidener Form die Vorankündigung der ersten Vorstellung — es war „Macbeth"
— aus: „Dieses Unternehmen beginnt in einer Zeit, wo die Bühnen, welche
ausschließlich ,die nationalen' genannt worden sind, entweder ganz geschlossen
oder aber Zwecken geöffnet sind, welche sehr verschieden von der Absicht sind,
das wirkliche Drama Englands zu zeigen. Und unser Theater wird fernerhin
eröffnet zu einer Zeit, wo das Gesetz alle Bühnen in bezug auf )>as Ansehen
gleichgestellt hat — indem es nur noch einen einzigen Unterschied macht: in der
Art, wie die Direktion geführt wird." Zuvörderst aber sollte der vernachlässigte,
vom Zentrum durch den Mangel an geeigneter Verbindung noch weit entfernte
Norden der Weltstadt für seine Umwohner eine würdige Stätte erhalten.
Sadlers Wells war also der Prototyp des modernen „Suburban Theatre", des
Vorstadttheaters mit großstädtischen Repertoir und Ensemble, wie es heute vor
allem in Robert Arthurs verschiedenen Bühnen Außen-Londons ausgebildet ist.
Das Hauvtkontingent des Publikums stellte wirklich das kleine Bürgertum, das
nicht unempfänglich für Kunst war, wie man schon aus der Existenz der für die
gleiche Stadtgegend damals typischen guten kleinen Rauchtheater schließen kann.
Diese Zuschauer, die sür ihre ehrlich verdienten zwei Schilling das geräumige
Parkett und den oberen Rang allabendlich füllten, tranken zwar vor und nach
Shakespeare und in jeder Zwischenpause zur Stummelpfeife ihren Whisky
gegenüber in den Middelton Arms, aber während der Aufführung waren sie
so aufmerksam, dankbar und mit der Zeit auch sachverständig, wie irgendeiner
von den vornehmen Gästen aus dem vornehmen Westend, die die „teuren"
Plätze aus dem von Phelps neu eingebauten Balkon — sie kosteten auch nie
mehr als 3 Mark! — inne zu haben pflegten. Denn schon wenige Jahre
nach seiner Wiedereröffnung hielten die modischen Karossen der fashionablen
Welt in immer längeren Reihen vor dem Portal des lange verpöntem Sadlers
Wells-Theaters, und im Januar 1858 schlug Phelps sogar seinen Rivalen
Kean zu dessen nie verwundenem Ärger um mehrere Nasenlängen, als er vom
Hofe eingeladen wurde, bei der Hochzeit des preußischen Prinzen und späteren
Kaisers Friedrich mit seinem Ensemble die Galavorstellung von „Macbeth" an
Her Majestys Theatre zu übernehmen, nachdem er fünf Jahre zuvor schon zur
Befriedigung seiner Königin in Windsor Castle mit „Heinrich dein Fünften"
gastiert hatte.

Von der klugen menschlichen und künstlerischen Einsicht des Samuel Phelps,
der zudem gegenüber Charles Kean die Priorität der Shakespearebelebung für
sich in Anspruch nehmen durfte, da er um volle sechs Jahre früher in Sadlers


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/39>, abgerufen am 02.10.2024.