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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Die Eigenart der Geschlechter

daß die Knabenerziehung in ihrer ganzen historischen Entwicklung stets den
sozial-wirtschaftlichen Verhältnissen angepaßt wurde, während das Mädchen¬
schulwesen sich heute noch kaum die Basis für eine ruhige Weiterentwicklung
errungen hat.

Was die in der Einleitung an dritter Stelle angeführte sozialethische
Richtung in der Behandlung des Geschlechterproblems betrifft, so war sie leider
auf der Breslauer Tagung nicht mit einem zusammenhängenden Vortrage ver¬
treten. Die folgenden Ausführungen stellen deswegen nur eine Zusammenfassung
der einzelnen in Vorträgen und Diskussion geäußerten sozialethischen Grundgedanken
dar. Das Problem, das hier zur Erörterung steht, ist das Verhältnis der
Geschlechter zueinander. Hier handelt es sich nicht um unterrichtliche Fragen,
um Pädagogik und Didaktik im engsten Sinne. "Die Koinstruktion ist uns
gleichgültig, was uns junge Menschen innerlich bewegt, ist einzig und allein
die Frage der Koedukation, der Gemeinschaftserziehung von Jungen und Mädchen
zu Kameraden," so sprach ein junger Student als warmherziger Vertreter der
Jugend, und ähnlich klangen die Worte, die eine Mutter sprach als Vertreterin
für die vielen Tausende von Müttern, die in der Gemeinschaftserziehung einen
neuen, hoffnungsreichen Weg sehen, zwischen den beiden Geschlechtern die
Kameradschaftlichkeit im Leben zu schaffen, wie sie in der Familie schon zwischen
den Geschwistern besteht. Noch sind die heutigen Verhältnisse weit von einem
derartigen Ideal entfernt. Im wirtschaftlichen Leben trägt das Verhältnis
zwischen den beiden Geschlechtern den Charakter eines erbitterten Konkurrenz¬
kampfes, schlimmer aber noch ist die tatsächliche Stellung und die öffentliche
Einschätzung der berufsmäßig abhängigen Frau. "Eine Frau, die bei strenger
Erwerbsarbeit im schweren Lebenskampf eben um dieser Mühe willen durch
geringschätzige Behandlung in ihrer weiblichen Würde verletzt wird, ist stets in
Gefahr sittlich zu sinken. Aber mit ihr sinkt der Mann, der ihre Machtlosigkeit
mißbraucht, sinkt die öffentliche Moral." Achtung der Geschlechter voreinander.
Verständnis für die beiderseitige Eigenart, das sind die Voraussetzungen für
ein wirkungsreiches Familienleben, für die sittliche Höhe der wirtschaftlichen
wie der geistigen Kultur. Diese zu schaffen, an ihr im breitesten Umfange
ein Volk teilhaftig werden zu lassen, ist kein Weg geeigneter als die Einführung
der Gemeinschaftserziehung in allen unseren öffentlichen Schulen.

Blicken wir zurück auf die Anschauungsweisen und Denkrichtungen, die
sich auf der Breslauer Tagung mit dem Problem der Eigenart der Geschlechter
und der aus ihr sich ergebenden Konsequenzen für die Jugenderziehung be-
schäftigten, so ist klar, daß eine harmonische Lösung nicht möglich war und wohl
auch nicht erwartet wurde. Am nächsten kommen sich noch die sozial-wirtschaft¬
lich gefärbte und die sozialethische Richtung, hier bestehen innere und äußere
Verbindungen zwischen den Tatsachen, von denen die eine Ansicht ausgeht, und
den Zwecken, die sich die andere zum Ziele setzt. Aus dieser unzweideutigen
Divergenz, die zwischen den noch sehr verbesserungsbedürftigen Resultaten der


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Die Eigenart der Geschlechter

daß die Knabenerziehung in ihrer ganzen historischen Entwicklung stets den
sozial-wirtschaftlichen Verhältnissen angepaßt wurde, während das Mädchen¬
schulwesen sich heute noch kaum die Basis für eine ruhige Weiterentwicklung
errungen hat.

Was die in der Einleitung an dritter Stelle angeführte sozialethische
Richtung in der Behandlung des Geschlechterproblems betrifft, so war sie leider
auf der Breslauer Tagung nicht mit einem zusammenhängenden Vortrage ver¬
treten. Die folgenden Ausführungen stellen deswegen nur eine Zusammenfassung
der einzelnen in Vorträgen und Diskussion geäußerten sozialethischen Grundgedanken
dar. Das Problem, das hier zur Erörterung steht, ist das Verhältnis der
Geschlechter zueinander. Hier handelt es sich nicht um unterrichtliche Fragen,
um Pädagogik und Didaktik im engsten Sinne. „Die Koinstruktion ist uns
gleichgültig, was uns junge Menschen innerlich bewegt, ist einzig und allein
die Frage der Koedukation, der Gemeinschaftserziehung von Jungen und Mädchen
zu Kameraden," so sprach ein junger Student als warmherziger Vertreter der
Jugend, und ähnlich klangen die Worte, die eine Mutter sprach als Vertreterin
für die vielen Tausende von Müttern, die in der Gemeinschaftserziehung einen
neuen, hoffnungsreichen Weg sehen, zwischen den beiden Geschlechtern die
Kameradschaftlichkeit im Leben zu schaffen, wie sie in der Familie schon zwischen
den Geschwistern besteht. Noch sind die heutigen Verhältnisse weit von einem
derartigen Ideal entfernt. Im wirtschaftlichen Leben trägt das Verhältnis
zwischen den beiden Geschlechtern den Charakter eines erbitterten Konkurrenz¬
kampfes, schlimmer aber noch ist die tatsächliche Stellung und die öffentliche
Einschätzung der berufsmäßig abhängigen Frau. „Eine Frau, die bei strenger
Erwerbsarbeit im schweren Lebenskampf eben um dieser Mühe willen durch
geringschätzige Behandlung in ihrer weiblichen Würde verletzt wird, ist stets in
Gefahr sittlich zu sinken. Aber mit ihr sinkt der Mann, der ihre Machtlosigkeit
mißbraucht, sinkt die öffentliche Moral." Achtung der Geschlechter voreinander.
Verständnis für die beiderseitige Eigenart, das sind die Voraussetzungen für
ein wirkungsreiches Familienleben, für die sittliche Höhe der wirtschaftlichen
wie der geistigen Kultur. Diese zu schaffen, an ihr im breitesten Umfange
ein Volk teilhaftig werden zu lassen, ist kein Weg geeigneter als die Einführung
der Gemeinschaftserziehung in allen unseren öffentlichen Schulen.

Blicken wir zurück auf die Anschauungsweisen und Denkrichtungen, die
sich auf der Breslauer Tagung mit dem Problem der Eigenart der Geschlechter
und der aus ihr sich ergebenden Konsequenzen für die Jugenderziehung be-
schäftigten, so ist klar, daß eine harmonische Lösung nicht möglich war und wohl
auch nicht erwartet wurde. Am nächsten kommen sich noch die sozial-wirtschaft¬
lich gefärbte und die sozialethische Richtung, hier bestehen innere und äußere
Verbindungen zwischen den Tatsachen, von denen die eine Ansicht ausgeht, und
den Zwecken, die sich die andere zum Ziele setzt. Aus dieser unzweideutigen
Divergenz, die zwischen den noch sehr verbesserungsbedürftigen Resultaten der


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[0383] Die Eigenart der Geschlechter daß die Knabenerziehung in ihrer ganzen historischen Entwicklung stets den sozial-wirtschaftlichen Verhältnissen angepaßt wurde, während das Mädchen¬ schulwesen sich heute noch kaum die Basis für eine ruhige Weiterentwicklung errungen hat. Was die in der Einleitung an dritter Stelle angeführte sozialethische Richtung in der Behandlung des Geschlechterproblems betrifft, so war sie leider auf der Breslauer Tagung nicht mit einem zusammenhängenden Vortrage ver¬ treten. Die folgenden Ausführungen stellen deswegen nur eine Zusammenfassung der einzelnen in Vorträgen und Diskussion geäußerten sozialethischen Grundgedanken dar. Das Problem, das hier zur Erörterung steht, ist das Verhältnis der Geschlechter zueinander. Hier handelt es sich nicht um unterrichtliche Fragen, um Pädagogik und Didaktik im engsten Sinne. „Die Koinstruktion ist uns gleichgültig, was uns junge Menschen innerlich bewegt, ist einzig und allein die Frage der Koedukation, der Gemeinschaftserziehung von Jungen und Mädchen zu Kameraden," so sprach ein junger Student als warmherziger Vertreter der Jugend, und ähnlich klangen die Worte, die eine Mutter sprach als Vertreterin für die vielen Tausende von Müttern, die in der Gemeinschaftserziehung einen neuen, hoffnungsreichen Weg sehen, zwischen den beiden Geschlechtern die Kameradschaftlichkeit im Leben zu schaffen, wie sie in der Familie schon zwischen den Geschwistern besteht. Noch sind die heutigen Verhältnisse weit von einem derartigen Ideal entfernt. Im wirtschaftlichen Leben trägt das Verhältnis zwischen den beiden Geschlechtern den Charakter eines erbitterten Konkurrenz¬ kampfes, schlimmer aber noch ist die tatsächliche Stellung und die öffentliche Einschätzung der berufsmäßig abhängigen Frau. „Eine Frau, die bei strenger Erwerbsarbeit im schweren Lebenskampf eben um dieser Mühe willen durch geringschätzige Behandlung in ihrer weiblichen Würde verletzt wird, ist stets in Gefahr sittlich zu sinken. Aber mit ihr sinkt der Mann, der ihre Machtlosigkeit mißbraucht, sinkt die öffentliche Moral." Achtung der Geschlechter voreinander. Verständnis für die beiderseitige Eigenart, das sind die Voraussetzungen für ein wirkungsreiches Familienleben, für die sittliche Höhe der wirtschaftlichen wie der geistigen Kultur. Diese zu schaffen, an ihr im breitesten Umfange ein Volk teilhaftig werden zu lassen, ist kein Weg geeigneter als die Einführung der Gemeinschaftserziehung in allen unseren öffentlichen Schulen. Blicken wir zurück auf die Anschauungsweisen und Denkrichtungen, die sich auf der Breslauer Tagung mit dem Problem der Eigenart der Geschlechter und der aus ihr sich ergebenden Konsequenzen für die Jugenderziehung be- schäftigten, so ist klar, daß eine harmonische Lösung nicht möglich war und wohl auch nicht erwartet wurde. Am nächsten kommen sich noch die sozial-wirtschaft¬ lich gefärbte und die sozialethische Richtung, hier bestehen innere und äußere Verbindungen zwischen den Tatsachen, von denen die eine Ansicht ausgeht, und den Zwecken, die sich die andere zum Ziele setzt. Aus dieser unzweideutigen Divergenz, die zwischen den noch sehr verbesserungsbedürftigen Resultaten der 24'

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/383>, abgerufen am 24.08.2024.