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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Die Eigenart der Geschlechter

Die Breslauer Tagung läßt bei der Beantwortung des Kongreßthemas
ganz deutlich drei Grundrichtungen erkennen. Die erste wird durch die psycho¬
logische Wissenschaft vertreten; sie will den Unterschied der Geschlechter nach den
Resultaten praktischer und experimenteller Erfahrungen feststellen und die Fol¬
gerungen aus diesen rein objektiven Ergebnissen der praktischen Pädagogik über¬
lassen. Die zweite Richtung geht von den bestehenden Kulturverhältnissen aus,
Zieht aber ihre Konsequenzen in erster Linie aus den wirtschaftlichen und sozialen
Zuständen des Gegenwartslebens und will danach die Erziehung gestalten.
Von vornherein ist klar, daß hier schon bei der Kritik des wirtschaftlichen und
sozialen Lebens verschiedene Werturteile und damit auch verschiedene Kon¬
sequenzen möglich sind. Die dritte Richtung -- ich möchte sie die sozial¬
ethische nennen -- steht wohl in engem Zusammenhang mit der zweiten und
will auch zu der ersten keinen Gegensatz, aber in erster Linie erfaßt sie das
Problem der Knaben- und Mädchenerziehung als eine Kulturfrage; sie trägt
einen ausgesprochen idealistischen Charakter.

Zusammenfassend können wir bereits im voraus bemerken, daß die eigent¬
liche Bedeutung der Breslauer Tagung darin beruht, daß die psychologische
Forschung bisher nicht imstande ist. sichere Resultate und einwandfreie Methoden
vorzulegen, daß aber dessen ungeachtet sich eine ziemlich fühlbare Schwenkung
Zu der kultur-pädagogischen Auffassung vollzog unter starker Berücksichtigung der
aus den sozialen und wirtschaftlichen Verhältnissen sich ergebenden Konsequenzen.
In den folgenden Ausführungen sollen die Hauptvertreter der drei Richtungen
in der angegebenen Reihenfolge zu Worte kommen, eine kritische Würdigung der
Ergebnisse wird den Schluß bilden.

Im Mittelpunkt der Verhandlungen des ersten Tages stand die Frage
nach demi Unterschied der Geschlechter in körperlicher und geistiger Beziehung.
Leider war der Hauptreferent, Professor Ernst Meumann-Hamburg, durch
Krankheit verhindert, seinen Vortrag zu halten, wir müssen ihn deswegen hier
nach der kurzen Zusammenfassung im Vorbericht wiedergeben.

Nach Meumann kann allein die exakte empirische und experimentelle
Jugendforschung die Grundlage für alle Fragen der Koedukation und der
Konstruktion bilden. Ihre Aufgabe ist es festzustellen, welchen Entwicklungs.
gang die psychische und physische Eigenart beider Geschlechter nimmt und in-
wieweit die hervortretenden Unterschiede nicht bloß als individuelle Differenzen,
sondern als wirkliche konstitutionelle Geschlechtsunterschiede zu betrachten sind.
Die bisherigen Untersuchungen reichen zur Beantwortung dieser Frage noch in
keiner Weise aus. und so verlangt Meumann eine systematische vergleichende
Gegenüberstellung von Untersuchungen der jugendlichen Geschlechter an Schulen
mit getrennter Erziehung und mit Koedukation, an Schulen mit männlichen
und mit weiblichen Lehrkräften, an Schulen mit verschiedenen Bildungszielen
und an Schulen mit Kindern aus verschiedenem sozialen Milieu, vor allem
fordert er eine vergleichende Untersuchung von Knaben und Mädchen in den


Die Eigenart der Geschlechter

Die Breslauer Tagung läßt bei der Beantwortung des Kongreßthemas
ganz deutlich drei Grundrichtungen erkennen. Die erste wird durch die psycho¬
logische Wissenschaft vertreten; sie will den Unterschied der Geschlechter nach den
Resultaten praktischer und experimenteller Erfahrungen feststellen und die Fol¬
gerungen aus diesen rein objektiven Ergebnissen der praktischen Pädagogik über¬
lassen. Die zweite Richtung geht von den bestehenden Kulturverhältnissen aus,
Zieht aber ihre Konsequenzen in erster Linie aus den wirtschaftlichen und sozialen
Zuständen des Gegenwartslebens und will danach die Erziehung gestalten.
Von vornherein ist klar, daß hier schon bei der Kritik des wirtschaftlichen und
sozialen Lebens verschiedene Werturteile und damit auch verschiedene Kon¬
sequenzen möglich sind. Die dritte Richtung — ich möchte sie die sozial¬
ethische nennen — steht wohl in engem Zusammenhang mit der zweiten und
will auch zu der ersten keinen Gegensatz, aber in erster Linie erfaßt sie das
Problem der Knaben- und Mädchenerziehung als eine Kulturfrage; sie trägt
einen ausgesprochen idealistischen Charakter.

Zusammenfassend können wir bereits im voraus bemerken, daß die eigent¬
liche Bedeutung der Breslauer Tagung darin beruht, daß die psychologische
Forschung bisher nicht imstande ist. sichere Resultate und einwandfreie Methoden
vorzulegen, daß aber dessen ungeachtet sich eine ziemlich fühlbare Schwenkung
Zu der kultur-pädagogischen Auffassung vollzog unter starker Berücksichtigung der
aus den sozialen und wirtschaftlichen Verhältnissen sich ergebenden Konsequenzen.
In den folgenden Ausführungen sollen die Hauptvertreter der drei Richtungen
in der angegebenen Reihenfolge zu Worte kommen, eine kritische Würdigung der
Ergebnisse wird den Schluß bilden.

Im Mittelpunkt der Verhandlungen des ersten Tages stand die Frage
nach demi Unterschied der Geschlechter in körperlicher und geistiger Beziehung.
Leider war der Hauptreferent, Professor Ernst Meumann-Hamburg, durch
Krankheit verhindert, seinen Vortrag zu halten, wir müssen ihn deswegen hier
nach der kurzen Zusammenfassung im Vorbericht wiedergeben.

Nach Meumann kann allein die exakte empirische und experimentelle
Jugendforschung die Grundlage für alle Fragen der Koedukation und der
Konstruktion bilden. Ihre Aufgabe ist es festzustellen, welchen Entwicklungs.
gang die psychische und physische Eigenart beider Geschlechter nimmt und in-
wieweit die hervortretenden Unterschiede nicht bloß als individuelle Differenzen,
sondern als wirkliche konstitutionelle Geschlechtsunterschiede zu betrachten sind.
Die bisherigen Untersuchungen reichen zur Beantwortung dieser Frage noch in
keiner Weise aus. und so verlangt Meumann eine systematische vergleichende
Gegenüberstellung von Untersuchungen der jugendlichen Geschlechter an Schulen
mit getrennter Erziehung und mit Koedukation, an Schulen mit männlichen
und mit weiblichen Lehrkräften, an Schulen mit verschiedenen Bildungszielen
und an Schulen mit Kindern aus verschiedenem sozialen Milieu, vor allem
fordert er eine vergleichende Untersuchung von Knaben und Mädchen in den


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[0377] Die Eigenart der Geschlechter Die Breslauer Tagung läßt bei der Beantwortung des Kongreßthemas ganz deutlich drei Grundrichtungen erkennen. Die erste wird durch die psycho¬ logische Wissenschaft vertreten; sie will den Unterschied der Geschlechter nach den Resultaten praktischer und experimenteller Erfahrungen feststellen und die Fol¬ gerungen aus diesen rein objektiven Ergebnissen der praktischen Pädagogik über¬ lassen. Die zweite Richtung geht von den bestehenden Kulturverhältnissen aus, Zieht aber ihre Konsequenzen in erster Linie aus den wirtschaftlichen und sozialen Zuständen des Gegenwartslebens und will danach die Erziehung gestalten. Von vornherein ist klar, daß hier schon bei der Kritik des wirtschaftlichen und sozialen Lebens verschiedene Werturteile und damit auch verschiedene Kon¬ sequenzen möglich sind. Die dritte Richtung — ich möchte sie die sozial¬ ethische nennen — steht wohl in engem Zusammenhang mit der zweiten und will auch zu der ersten keinen Gegensatz, aber in erster Linie erfaßt sie das Problem der Knaben- und Mädchenerziehung als eine Kulturfrage; sie trägt einen ausgesprochen idealistischen Charakter. Zusammenfassend können wir bereits im voraus bemerken, daß die eigent¬ liche Bedeutung der Breslauer Tagung darin beruht, daß die psychologische Forschung bisher nicht imstande ist. sichere Resultate und einwandfreie Methoden vorzulegen, daß aber dessen ungeachtet sich eine ziemlich fühlbare Schwenkung Zu der kultur-pädagogischen Auffassung vollzog unter starker Berücksichtigung der aus den sozialen und wirtschaftlichen Verhältnissen sich ergebenden Konsequenzen. In den folgenden Ausführungen sollen die Hauptvertreter der drei Richtungen in der angegebenen Reihenfolge zu Worte kommen, eine kritische Würdigung der Ergebnisse wird den Schluß bilden. Im Mittelpunkt der Verhandlungen des ersten Tages stand die Frage nach demi Unterschied der Geschlechter in körperlicher und geistiger Beziehung. Leider war der Hauptreferent, Professor Ernst Meumann-Hamburg, durch Krankheit verhindert, seinen Vortrag zu halten, wir müssen ihn deswegen hier nach der kurzen Zusammenfassung im Vorbericht wiedergeben. Nach Meumann kann allein die exakte empirische und experimentelle Jugendforschung die Grundlage für alle Fragen der Koedukation und der Konstruktion bilden. Ihre Aufgabe ist es festzustellen, welchen Entwicklungs. gang die psychische und physische Eigenart beider Geschlechter nimmt und in- wieweit die hervortretenden Unterschiede nicht bloß als individuelle Differenzen, sondern als wirkliche konstitutionelle Geschlechtsunterschiede zu betrachten sind. Die bisherigen Untersuchungen reichen zur Beantwortung dieser Frage noch in keiner Weise aus. und so verlangt Meumann eine systematische vergleichende Gegenüberstellung von Untersuchungen der jugendlichen Geschlechter an Schulen mit getrennter Erziehung und mit Koedukation, an Schulen mit männlichen und mit weiblichen Lehrkräften, an Schulen mit verschiedenen Bildungszielen und an Schulen mit Kindern aus verschiedenem sozialen Milieu, vor allem fordert er eine vergleichende Untersuchung von Knaben und Mädchen in den

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/377>, abgerufen am 24.08.2024.