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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Das Rechtsgefühl im Wandel der Zeiten

sterben kann. Auf der anderen Seite jugendliche frische Kräfte, die aus
Mangel an Unterhalt verderben, zu taufenden, bis auf den heutigen Tag.
Hundert, ja tausend gute Werke, welche mit dem Gelde der Alten voll¬
bracht werden könnten, müssen in das Kloster verschlossen werden.
Hundert, ja tausend Existenzen vielleicht können damit auf den richtigen
Weg gebracht, ein Dutzend Familien dem Elend, der Auflösung und dem
Untergange, sowie der Ausschweifung entrissen werden -- nur mit ihrem
Gelde! Töte sie, nimm ihr das Geld in der Absicht, es zu deiner
Unterstützung anzuwenden, dich selbst zum Dienst der gesamten Menschheit,
der Allgemeinheit zu bestimmen: wie denkst du, sollte nicht ein einziges,
nicht großes Verbrechen mit tausend guten Werken zu sühnen sein?
Für ein einziges Leben tausend andere gerettet vor Verderben und
Untergang? Für einen Tod hundert Leben -- das wäre das Exempel!
Und was ist das Leben dieser hektischen, einfältigen und bösartigen
Alten wert aus der Wage der Allgemeinheit? Nicht mehr, als das
Leben eines Ungeziefers, und noch nicht einmal soviel, weil die Alte bös¬
artig ist."

Die Rechnung, die Raskolnikow aufmacht, ist falsch; sie führt zur Auf¬
lösung der Rechtsordnung und der Gesellschaft. Und doch, wie tief derartige
Überlegungen das Empfinden des Volkes beeinflussen können, hat ein Fall
gezeigt, der vor einigen Jahren sich in Wien ereignet hat. Dort hatte ein
Student Fälschungen begangen, um sich die Mittel zu wissenschaftlichen, an¬
geblich für die Menschheit wertvollen Untersuchungen zu verschaffen. Weite
Kreise des Volkes hatten das Gefühl, daß der Student nicht bestraft werden
dürfe. Dieses Gefühl war ein vorübergehendes, und es war schlecht fundiert.
Aber immer und immer wieder kehrt eine andere, ähnlich geartete Frage
wieder, nämlich die, ob und inwieweit der politische Mord berechtigt ist.

Darüber, daß der politische Mord nicht weniger verwerflich ist als jeder
andere Mord, sollte es nur eine Stimme geben. Und doch hat sich unser sitt¬
liches und unser Rechtsempfinden abgestumpft gegen Vorgänge, wie die Hin¬
richtung Jakobs des Ersten in England und Ludwig des Vierzehnten von
Frankreich, obschon beide Monarchen nicht schlechter waren als viele andere
Monarchen, obwohl sie im wesentlichen nur gebüßt haben für die Sünden
ihrer Väter und Vorgänger. Und darüber hinaus wird sogar in unseren
Schulen noch heute der Mord des Tyrannen verherrlicht. Wir alle haben in
unserer Jugend mit heißen Köpfen und warmen Herzen den "Wilhelm Teil"
gelesen, und haben uns begeistert für Wilhelm Teil, den Mann, der aus dem
Hinterhalt meuchelmörderisch den Mächtigeren, Geßler, erschoß. Allerdings
handelt Teil nicht aus politischen Motiven. Als Parricida, der den
Kaiser erschlagen hat, zu ihm kommt, tritt Teil ihm mit den Worten
entgegen:


Das Rechtsgefühl im Wandel der Zeiten

sterben kann. Auf der anderen Seite jugendliche frische Kräfte, die aus
Mangel an Unterhalt verderben, zu taufenden, bis auf den heutigen Tag.
Hundert, ja tausend gute Werke, welche mit dem Gelde der Alten voll¬
bracht werden könnten, müssen in das Kloster verschlossen werden.
Hundert, ja tausend Existenzen vielleicht können damit auf den richtigen
Weg gebracht, ein Dutzend Familien dem Elend, der Auflösung und dem
Untergange, sowie der Ausschweifung entrissen werden — nur mit ihrem
Gelde! Töte sie, nimm ihr das Geld in der Absicht, es zu deiner
Unterstützung anzuwenden, dich selbst zum Dienst der gesamten Menschheit,
der Allgemeinheit zu bestimmen: wie denkst du, sollte nicht ein einziges,
nicht großes Verbrechen mit tausend guten Werken zu sühnen sein?
Für ein einziges Leben tausend andere gerettet vor Verderben und
Untergang? Für einen Tod hundert Leben — das wäre das Exempel!
Und was ist das Leben dieser hektischen, einfältigen und bösartigen
Alten wert aus der Wage der Allgemeinheit? Nicht mehr, als das
Leben eines Ungeziefers, und noch nicht einmal soviel, weil die Alte bös¬
artig ist."

Die Rechnung, die Raskolnikow aufmacht, ist falsch; sie führt zur Auf¬
lösung der Rechtsordnung und der Gesellschaft. Und doch, wie tief derartige
Überlegungen das Empfinden des Volkes beeinflussen können, hat ein Fall
gezeigt, der vor einigen Jahren sich in Wien ereignet hat. Dort hatte ein
Student Fälschungen begangen, um sich die Mittel zu wissenschaftlichen, an¬
geblich für die Menschheit wertvollen Untersuchungen zu verschaffen. Weite
Kreise des Volkes hatten das Gefühl, daß der Student nicht bestraft werden
dürfe. Dieses Gefühl war ein vorübergehendes, und es war schlecht fundiert.
Aber immer und immer wieder kehrt eine andere, ähnlich geartete Frage
wieder, nämlich die, ob und inwieweit der politische Mord berechtigt ist.

Darüber, daß der politische Mord nicht weniger verwerflich ist als jeder
andere Mord, sollte es nur eine Stimme geben. Und doch hat sich unser sitt¬
liches und unser Rechtsempfinden abgestumpft gegen Vorgänge, wie die Hin¬
richtung Jakobs des Ersten in England und Ludwig des Vierzehnten von
Frankreich, obschon beide Monarchen nicht schlechter waren als viele andere
Monarchen, obwohl sie im wesentlichen nur gebüßt haben für die Sünden
ihrer Väter und Vorgänger. Und darüber hinaus wird sogar in unseren
Schulen noch heute der Mord des Tyrannen verherrlicht. Wir alle haben in
unserer Jugend mit heißen Köpfen und warmen Herzen den „Wilhelm Teil"
gelesen, und haben uns begeistert für Wilhelm Teil, den Mann, der aus dem
Hinterhalt meuchelmörderisch den Mächtigeren, Geßler, erschoß. Allerdings
handelt Teil nicht aus politischen Motiven. Als Parricida, der den
Kaiser erschlagen hat, zu ihm kommt, tritt Teil ihm mit den Worten
entgegen:


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/33>, abgerufen am 29.06.2024.