Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Das Rcchtsaefnhl im Wandel der Zeiten

den Sachverhalt aufzuklären, waren sie nicht gewachsen und darum ließen sie
in jedem einzelnen Falle durch die Blutrache die Todesstrafe vollziehen. Nur
der Erfolg entschied, nicht die Absicht, und man kann sich kaum andere Gründe
dafür vorstellen als bloße Zweckmäßigkeitsgründe.

Dieser Grundsatz hat sich bis auf den heutigen Tag erhalten. Der Offizier,
der von einem anderen laeues angegriffen wird, muß diesen zum Duell fordern,
und wenn der andere auch in sinnloser Trunkenheit gehandelt hat. Und über
diesen Einzelfall hinaus kann die moderne Entwicklung der Psychologie ganz
allgemein in absehbarer Zeit dahin führen, daß Zweckmäßigkeitsgründe wieder
einen stärkeren Einfluß auf das Rechtsgefühl gewinnen können.

Seit altersher ist die Frage der Willensfreiheit eine der umstrittensten
gewesen. Wenn die Psychologie einmal nachweisen sollte, daß der Wille des
Menschen nicht frei ist, daß er unter dem Zwange äußerer Umstände handelt,
so würde das Rechtsgefühl notwendig verlangen, daß auch der Verbrecher für
seine Handlungen nicht verantwortlich gemacht werden kann. Unmöglich aber
könnte man hieraus die praktische Konsequenz ziehen. Im Interesse des Staates
und der Gesellschaft würde der Verbrecher auch dann für eine Handlung ver¬
antwortlich gemacht werden müssen, und diese Zweckmäßigkeitsgründe würden
die logische Einsicht des Volkes überwuchern und die Grundlage für sein Rechts-
gefühl geben. Und auch wenn eine weitere Entwicklung unserer Kenntnis der
geistigen Erkrankungen ergäbe, daß ein noch weit größerer Teil der Verbrecher
geisteskrank ist, als man heute annimmt, würde das Volksempfinden sich, und
zwar wiederum aus Zweckmäßigkeitsgründen, dagegen auflehnen, daß diese
geisteskranken Verbrecher der Strafe nicht unterworfen würden. Schon heute
ist nicht zu verkennen, daß das Rechtsgefühl großer Teile des Volkes sich gegen
die Ergebnisse der Wissenschaft über geisteskranke Verbrecher auflehnt, und die
Juristen müssen oft genug den Vorwurf über sich ergehen lassen, daß sie zu
leicht den Gutachten der Ärzte nachgeben und sich durch Simulationen geschickter
Verbrecher täuschen lassen. Meist sind diese Urteile von keinerlei Sachkenntnis
getrübt; sie beweisen aber, wie das Rechtsgefühl des Volkes sich gegen die
moderne wissenschaftliche Entwicklung sträubt.

Wir sprachen vorhin von dem Wechsel des Nechtsgefühls gegenüber der
Tötung eines Menschen. Auch hier hat ein Dichter die Frage des Rechts¬
gefühls gegenüber dem Morde vertieft. Dostojewsky hat in seinem Romane
"Raskolnikow", vielleicht dem besten Verbrecherroman, der je geschrieben worden
ist, einen Mann dargestellt, der kaltblütig vor dem Morde sich Rechenschaft
darüber ablegt, ob der Mord, den er ausführen will, berechtigt sei oder nicht.
Vor dem Morde setzt Raskolnikow einem Offizier seinen Plan auseinander; er
sagt zu ihm:

"Sieh an: auf der einen Seite eine einfältige, gedankenlose,
unnütze, bösartige kranke Alte, die niemandem nützt, die vielmehr allen
feindselig gesinnt, selbst nicht weiß, weshalb sie lebt, und morgen schon


Das Rcchtsaefnhl im Wandel der Zeiten

den Sachverhalt aufzuklären, waren sie nicht gewachsen und darum ließen sie
in jedem einzelnen Falle durch die Blutrache die Todesstrafe vollziehen. Nur
der Erfolg entschied, nicht die Absicht, und man kann sich kaum andere Gründe
dafür vorstellen als bloße Zweckmäßigkeitsgründe.

Dieser Grundsatz hat sich bis auf den heutigen Tag erhalten. Der Offizier,
der von einem anderen laeues angegriffen wird, muß diesen zum Duell fordern,
und wenn der andere auch in sinnloser Trunkenheit gehandelt hat. Und über
diesen Einzelfall hinaus kann die moderne Entwicklung der Psychologie ganz
allgemein in absehbarer Zeit dahin führen, daß Zweckmäßigkeitsgründe wieder
einen stärkeren Einfluß auf das Rechtsgefühl gewinnen können.

Seit altersher ist die Frage der Willensfreiheit eine der umstrittensten
gewesen. Wenn die Psychologie einmal nachweisen sollte, daß der Wille des
Menschen nicht frei ist, daß er unter dem Zwange äußerer Umstände handelt,
so würde das Rechtsgefühl notwendig verlangen, daß auch der Verbrecher für
seine Handlungen nicht verantwortlich gemacht werden kann. Unmöglich aber
könnte man hieraus die praktische Konsequenz ziehen. Im Interesse des Staates
und der Gesellschaft würde der Verbrecher auch dann für eine Handlung ver¬
antwortlich gemacht werden müssen, und diese Zweckmäßigkeitsgründe würden
die logische Einsicht des Volkes überwuchern und die Grundlage für sein Rechts-
gefühl geben. Und auch wenn eine weitere Entwicklung unserer Kenntnis der
geistigen Erkrankungen ergäbe, daß ein noch weit größerer Teil der Verbrecher
geisteskrank ist, als man heute annimmt, würde das Volksempfinden sich, und
zwar wiederum aus Zweckmäßigkeitsgründen, dagegen auflehnen, daß diese
geisteskranken Verbrecher der Strafe nicht unterworfen würden. Schon heute
ist nicht zu verkennen, daß das Rechtsgefühl großer Teile des Volkes sich gegen
die Ergebnisse der Wissenschaft über geisteskranke Verbrecher auflehnt, und die
Juristen müssen oft genug den Vorwurf über sich ergehen lassen, daß sie zu
leicht den Gutachten der Ärzte nachgeben und sich durch Simulationen geschickter
Verbrecher täuschen lassen. Meist sind diese Urteile von keinerlei Sachkenntnis
getrübt; sie beweisen aber, wie das Rechtsgefühl des Volkes sich gegen die
moderne wissenschaftliche Entwicklung sträubt.

Wir sprachen vorhin von dem Wechsel des Nechtsgefühls gegenüber der
Tötung eines Menschen. Auch hier hat ein Dichter die Frage des Rechts¬
gefühls gegenüber dem Morde vertieft. Dostojewsky hat in seinem Romane
„Raskolnikow", vielleicht dem besten Verbrecherroman, der je geschrieben worden
ist, einen Mann dargestellt, der kaltblütig vor dem Morde sich Rechenschaft
darüber ablegt, ob der Mord, den er ausführen will, berechtigt sei oder nicht.
Vor dem Morde setzt Raskolnikow einem Offizier seinen Plan auseinander; er
sagt zu ihm:

„Sieh an: auf der einen Seite eine einfältige, gedankenlose,
unnütze, bösartige kranke Alte, die niemandem nützt, die vielmehr allen
feindselig gesinnt, selbst nicht weiß, weshalb sie lebt, und morgen schon


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0032" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/326844"/>
          <fw type="header" place="top"> Das Rcchtsaefnhl im Wandel der Zeiten</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_75" prev="#ID_74"> den Sachverhalt aufzuklären, waren sie nicht gewachsen und darum ließen sie<lb/>
in jedem einzelnen Falle durch die Blutrache die Todesstrafe vollziehen. Nur<lb/>
der Erfolg entschied, nicht die Absicht, und man kann sich kaum andere Gründe<lb/>
dafür vorstellen als bloße Zweckmäßigkeitsgründe.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_76"> Dieser Grundsatz hat sich bis auf den heutigen Tag erhalten. Der Offizier,<lb/>
der von einem anderen laeues angegriffen wird, muß diesen zum Duell fordern,<lb/>
und wenn der andere auch in sinnloser Trunkenheit gehandelt hat. Und über<lb/>
diesen Einzelfall hinaus kann die moderne Entwicklung der Psychologie ganz<lb/>
allgemein in absehbarer Zeit dahin führen, daß Zweckmäßigkeitsgründe wieder<lb/>
einen stärkeren Einfluß auf das Rechtsgefühl gewinnen können.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_77"> Seit altersher ist die Frage der Willensfreiheit eine der umstrittensten<lb/>
gewesen. Wenn die Psychologie einmal nachweisen sollte, daß der Wille des<lb/>
Menschen nicht frei ist, daß er unter dem Zwange äußerer Umstände handelt,<lb/>
so würde das Rechtsgefühl notwendig verlangen, daß auch der Verbrecher für<lb/>
seine Handlungen nicht verantwortlich gemacht werden kann. Unmöglich aber<lb/>
könnte man hieraus die praktische Konsequenz ziehen. Im Interesse des Staates<lb/>
und der Gesellschaft würde der Verbrecher auch dann für eine Handlung ver¬<lb/>
antwortlich gemacht werden müssen, und diese Zweckmäßigkeitsgründe würden<lb/>
die logische Einsicht des Volkes überwuchern und die Grundlage für sein Rechts-<lb/>
gefühl geben. Und auch wenn eine weitere Entwicklung unserer Kenntnis der<lb/>
geistigen Erkrankungen ergäbe, daß ein noch weit größerer Teil der Verbrecher<lb/>
geisteskrank ist, als man heute annimmt, würde das Volksempfinden sich, und<lb/>
zwar wiederum aus Zweckmäßigkeitsgründen, dagegen auflehnen, daß diese<lb/>
geisteskranken Verbrecher der Strafe nicht unterworfen würden. Schon heute<lb/>
ist nicht zu verkennen, daß das Rechtsgefühl großer Teile des Volkes sich gegen<lb/>
die Ergebnisse der Wissenschaft über geisteskranke Verbrecher auflehnt, und die<lb/>
Juristen müssen oft genug den Vorwurf über sich ergehen lassen, daß sie zu<lb/>
leicht den Gutachten der Ärzte nachgeben und sich durch Simulationen geschickter<lb/>
Verbrecher täuschen lassen. Meist sind diese Urteile von keinerlei Sachkenntnis<lb/>
getrübt; sie beweisen aber, wie das Rechtsgefühl des Volkes sich gegen die<lb/>
moderne wissenschaftliche Entwicklung sträubt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_78"> Wir sprachen vorhin von dem Wechsel des Nechtsgefühls gegenüber der<lb/>
Tötung eines Menschen. Auch hier hat ein Dichter die Frage des Rechts¬<lb/>
gefühls gegenüber dem Morde vertieft. Dostojewsky hat in seinem Romane<lb/>
&#x201E;Raskolnikow", vielleicht dem besten Verbrecherroman, der je geschrieben worden<lb/>
ist, einen Mann dargestellt, der kaltblütig vor dem Morde sich Rechenschaft<lb/>
darüber ablegt, ob der Mord, den er ausführen will, berechtigt sei oder nicht.<lb/>
Vor dem Morde setzt Raskolnikow einem Offizier seinen Plan auseinander; er<lb/>
sagt zu ihm:</p><lb/>
          <p xml:id="ID_79"> &#x201E;Sieh an: auf der einen Seite eine einfältige, gedankenlose,<lb/>
unnütze, bösartige kranke Alte, die niemandem nützt, die vielmehr allen<lb/>
feindselig gesinnt, selbst nicht weiß, weshalb sie lebt, und morgen schon</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0032] Das Rcchtsaefnhl im Wandel der Zeiten den Sachverhalt aufzuklären, waren sie nicht gewachsen und darum ließen sie in jedem einzelnen Falle durch die Blutrache die Todesstrafe vollziehen. Nur der Erfolg entschied, nicht die Absicht, und man kann sich kaum andere Gründe dafür vorstellen als bloße Zweckmäßigkeitsgründe. Dieser Grundsatz hat sich bis auf den heutigen Tag erhalten. Der Offizier, der von einem anderen laeues angegriffen wird, muß diesen zum Duell fordern, und wenn der andere auch in sinnloser Trunkenheit gehandelt hat. Und über diesen Einzelfall hinaus kann die moderne Entwicklung der Psychologie ganz allgemein in absehbarer Zeit dahin führen, daß Zweckmäßigkeitsgründe wieder einen stärkeren Einfluß auf das Rechtsgefühl gewinnen können. Seit altersher ist die Frage der Willensfreiheit eine der umstrittensten gewesen. Wenn die Psychologie einmal nachweisen sollte, daß der Wille des Menschen nicht frei ist, daß er unter dem Zwange äußerer Umstände handelt, so würde das Rechtsgefühl notwendig verlangen, daß auch der Verbrecher für seine Handlungen nicht verantwortlich gemacht werden kann. Unmöglich aber könnte man hieraus die praktische Konsequenz ziehen. Im Interesse des Staates und der Gesellschaft würde der Verbrecher auch dann für eine Handlung ver¬ antwortlich gemacht werden müssen, und diese Zweckmäßigkeitsgründe würden die logische Einsicht des Volkes überwuchern und die Grundlage für sein Rechts- gefühl geben. Und auch wenn eine weitere Entwicklung unserer Kenntnis der geistigen Erkrankungen ergäbe, daß ein noch weit größerer Teil der Verbrecher geisteskrank ist, als man heute annimmt, würde das Volksempfinden sich, und zwar wiederum aus Zweckmäßigkeitsgründen, dagegen auflehnen, daß diese geisteskranken Verbrecher der Strafe nicht unterworfen würden. Schon heute ist nicht zu verkennen, daß das Rechtsgefühl großer Teile des Volkes sich gegen die Ergebnisse der Wissenschaft über geisteskranke Verbrecher auflehnt, und die Juristen müssen oft genug den Vorwurf über sich ergehen lassen, daß sie zu leicht den Gutachten der Ärzte nachgeben und sich durch Simulationen geschickter Verbrecher täuschen lassen. Meist sind diese Urteile von keinerlei Sachkenntnis getrübt; sie beweisen aber, wie das Rechtsgefühl des Volkes sich gegen die moderne wissenschaftliche Entwicklung sträubt. Wir sprachen vorhin von dem Wechsel des Nechtsgefühls gegenüber der Tötung eines Menschen. Auch hier hat ein Dichter die Frage des Rechts¬ gefühls gegenüber dem Morde vertieft. Dostojewsky hat in seinem Romane „Raskolnikow", vielleicht dem besten Verbrecherroman, der je geschrieben worden ist, einen Mann dargestellt, der kaltblütig vor dem Morde sich Rechenschaft darüber ablegt, ob der Mord, den er ausführen will, berechtigt sei oder nicht. Vor dem Morde setzt Raskolnikow einem Offizier seinen Plan auseinander; er sagt zu ihm: „Sieh an: auf der einen Seite eine einfältige, gedankenlose, unnütze, bösartige kranke Alte, die niemandem nützt, die vielmehr allen feindselig gesinnt, selbst nicht weiß, weshalb sie lebt, und morgen schon

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/32
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/32>, abgerufen am 26.06.2024.