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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Reichsspiegel

nicht gepflegt werden. Einfache Nachmittagsspaziergänge reizen die Jugend
nicht; sie will eine besondere Leistung dabei haben. Da ihnen der Reiz großer
Wanderfahrten mit Nachtlagern und tagelangem Auf-sich-selbst-gestellt-sein ver¬
schlossen ist, so laufen diese jungen Leute mit Heller Freude den soldatischen
Wanderübungen zu. Man muß nur unsere heranwachsende Jugend kennen,
um diesen Vorgang höchst unpolitisch rein psychologisch zu verstehen. Was
gar der "Drill" hier soll, ist mir unverständlich. Der Hauptbestandteil der
Pfadfinderübungen ist Geländeaufklärung -- das ist doch wohl gerade das,
was man im Militär dem "Kasernenhofdrill" entgegensetzt.

Viel ärger als diese Mißverständnisse ist die Unterstellung, die Pfadfinder
und vor allem der Jungdeutschlandbund seien "konservativ". Was soll man
darunter verstehen? Unter einem "konservativen" im Gegensatz zum allgemein
"nationalen" Verein versteht man doch wohl einen, in dem Propaganda für
den "lückenlosen Zolltarif", "Arbeitswilligenschutz" und dergleichen konservative
Fraktionsinteressen getrieben wird. Wer unsere Heranwachsenden kennt, weiß,
daß es kein besseres Mittel gäbe, sie aus einem Verein herauszugraulen.
Soziale und politische Fragen im engeren Sinne lassen sie gänzlich kalt. Was
sie aufnehmen, sind die großen Gegensätze: Nationalgefühl -- Internationalismus.
Damit freilich ist die Gegnerschaft gegen die sozialdemokratischen Jugendvereine
gegeben. Aber wenn Julius Bab befürchtet, nun würden wir in Konkurrenz national¬
liberale Vereine erleben, so kann ich ihn trösten: den Unterschied zwischen Konservativ
und Nationalliberal, ja, auch ebensogut Freisinnig begreift unsere Jugend nicht.

Und ein zweites. Die Deutsche Turnerschaft erhält so nebenbei von Julius
Bab eine lobende Zensur. Sollte es ihm entgangen sein, daß diese -- trotz kleiner
MißHelligkeiten mit der mitunter als Konkurrenz aufgefaßten Jungdeutschland'
buudbewegung -- stramm in der Reihe der "obrigkeitlichen" Jugendpflege mit¬
marschiert? Wagt es Julius Bab, auch ihr konservatives Parteiinteresse, viel¬
leicht gar "den stumpfen Geist bequemer Gegenwartsbejahung" oder das "Selbst¬
erhaltungsbedürfnis einer in der Macht befindlichen Klasse" anzudichten? Die
Deutsche Turnerschaft ist einst national gewesen, obwohl man damit das Ge¬
fängnis riskierte, sie ist heute national, obwohl die Obrigkeit dies begünstigt. Die
Deutsche Turnerschaft hat eben nie Opposition um jeden Preis getrieben, wie
ein gewisser unfruchtbarer Liberalismus, der sich eigentlich an den Lorbeeren
der Konfliktszeit die Finger genügend zerstochen haben sollte. Dabei aber ist --
unter Ausschließung eigentlicher Fraktionspolitik -- der Grundzug der Deutschen
Turnerschaft noch immer gut liberal. Freilich ist das ein Liberalismus, der in
allgemein nationalen Fragen, wie die Turnerei ist, auch konservative Leute
unter sich duldet. Aber ist denn das nun eigentlich Hereintragen politischer
Fragen in die Jugendpflege, oder trifft solches Urteil nicht eher das Vorgehen
meines geehrten Herrn Gegners?

Aber der Pferdefuß kommt noch deutlicher bei diesen Angriffen auf
die Jugendpflege heraus. Julius Bab schreibt: "Der Sport soll die neutrale


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nicht gepflegt werden. Einfache Nachmittagsspaziergänge reizen die Jugend
nicht; sie will eine besondere Leistung dabei haben. Da ihnen der Reiz großer
Wanderfahrten mit Nachtlagern und tagelangem Auf-sich-selbst-gestellt-sein ver¬
schlossen ist, so laufen diese jungen Leute mit Heller Freude den soldatischen
Wanderübungen zu. Man muß nur unsere heranwachsende Jugend kennen,
um diesen Vorgang höchst unpolitisch rein psychologisch zu verstehen. Was
gar der „Drill" hier soll, ist mir unverständlich. Der Hauptbestandteil der
Pfadfinderübungen ist Geländeaufklärung — das ist doch wohl gerade das,
was man im Militär dem „Kasernenhofdrill" entgegensetzt.

Viel ärger als diese Mißverständnisse ist die Unterstellung, die Pfadfinder
und vor allem der Jungdeutschlandbund seien „konservativ". Was soll man
darunter verstehen? Unter einem „konservativen" im Gegensatz zum allgemein
„nationalen" Verein versteht man doch wohl einen, in dem Propaganda für
den „lückenlosen Zolltarif", „Arbeitswilligenschutz" und dergleichen konservative
Fraktionsinteressen getrieben wird. Wer unsere Heranwachsenden kennt, weiß,
daß es kein besseres Mittel gäbe, sie aus einem Verein herauszugraulen.
Soziale und politische Fragen im engeren Sinne lassen sie gänzlich kalt. Was
sie aufnehmen, sind die großen Gegensätze: Nationalgefühl — Internationalismus.
Damit freilich ist die Gegnerschaft gegen die sozialdemokratischen Jugendvereine
gegeben. Aber wenn Julius Bab befürchtet, nun würden wir in Konkurrenz national¬
liberale Vereine erleben, so kann ich ihn trösten: den Unterschied zwischen Konservativ
und Nationalliberal, ja, auch ebensogut Freisinnig begreift unsere Jugend nicht.

Und ein zweites. Die Deutsche Turnerschaft erhält so nebenbei von Julius
Bab eine lobende Zensur. Sollte es ihm entgangen sein, daß diese — trotz kleiner
MißHelligkeiten mit der mitunter als Konkurrenz aufgefaßten Jungdeutschland'
buudbewegung — stramm in der Reihe der „obrigkeitlichen" Jugendpflege mit¬
marschiert? Wagt es Julius Bab, auch ihr konservatives Parteiinteresse, viel¬
leicht gar „den stumpfen Geist bequemer Gegenwartsbejahung" oder das „Selbst¬
erhaltungsbedürfnis einer in der Macht befindlichen Klasse" anzudichten? Die
Deutsche Turnerschaft ist einst national gewesen, obwohl man damit das Ge¬
fängnis riskierte, sie ist heute national, obwohl die Obrigkeit dies begünstigt. Die
Deutsche Turnerschaft hat eben nie Opposition um jeden Preis getrieben, wie
ein gewisser unfruchtbarer Liberalismus, der sich eigentlich an den Lorbeeren
der Konfliktszeit die Finger genügend zerstochen haben sollte. Dabei aber ist —
unter Ausschließung eigentlicher Fraktionspolitik — der Grundzug der Deutschen
Turnerschaft noch immer gut liberal. Freilich ist das ein Liberalismus, der in
allgemein nationalen Fragen, wie die Turnerei ist, auch konservative Leute
unter sich duldet. Aber ist denn das nun eigentlich Hereintragen politischer
Fragen in die Jugendpflege, oder trifft solches Urteil nicht eher das Vorgehen
meines geehrten Herrn Gegners?

Aber der Pferdefuß kommt noch deutlicher bei diesen Angriffen auf
die Jugendpflege heraus. Julius Bab schreibt: „Der Sport soll die neutrale


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/242>, abgerufen am 22.07.2024.