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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Der Zeichenunterricht und die Ankunft unserer höheren Schulen

sonst leicht geschehen, daß die Schulverwaltungen, auf die Verschiedenheit der
kindlichen Begabungen pochend, das ganze Fach entgelten ließen, was die über¬
triebene Steigerung einer seiner Richtungen verschuldet hat.

Jedenfalls sollte das Zeichnen als bloßer Ausdruck räumlicher Vorstellungen
nicht ganz durch das künstlerische Zeichnen verdrängt werden, sondern im vollen
Umfang daneben bestehen bleiben. Und zwar nicht nur als gebundenes Zeichnen,
sondern auch als Freihandzeichnen. Die Fähigkeit des graphischen Ausdrucks
-- von aller Kunst abgesehen -- ist dem Menschen im späteren Leben unent¬
behrlich. Wir alle kommen einmal in die Lage, uns in architektonischen Plänen,
Geländezeichnungen, Maschinendarstellungen u. tgi. zurechtzufinden, und die
meisten Menschen können in ihrem Berufe die Fähigkeit rascher zeichnerischer
Veranschaulichung ihrer Ideen nicht entbehren. Wo sollen sie diese aber anders
erwerben als in der Schule?

Tatsächlich sieht es damit nun ziemlich übel aus. Daß die Vorbildung
für die technischen Berufe im Gymnasium, wo der Zeichenunterricht in den
oberen Klassen nicht einmal obligatorisch ist, keineswegs genügt, ergibt sich schon
aus der Einführung vorbereitender Kurse an den technischen Hochschulen, durch
welche die Gymnasialabiturienten den Realschulabiturienten gegenüber ein ganzes
Jahr verlieren. Aber auch an den Realschulen wird das Zeichnen nach meinen
Beobachtungen nicht so lebhaft betrieben, wie es im Interesse der künstigen
Künstler und Techniker zu wünschen wäre. Vieles mag dabei von der Persön¬
lichkeit des Lehrers abhängen -- in keinem Unterrichtsfach ist diese so wichtig
wie beim Zeichnen --, außerdem sind aber auch die Einrichtungen selbst zum
Teil daran schuld. Tatsächlich haben ja auch die Klagen der Zeichenlehrer in
den letzten Jahren durchaus nicht aufgehört. Man bedauert allgemein, daß die
Zahl der Stunden (zwei oder drei wöchentlich!) nicht genügend sei; daß der
Unterricht meistens auf den Nachmittag verlegt werde, wo die Schüler nicht
mehr frisch seien; daß er bei Prüfungen und Versetzungen nicht die Rolle spiele,
die seiner Wichtigkeit entspreche, usw.

Das ist gewiß alles richtig. Die Frage ist nur, ob in dem Lehrplan der
Realschule, so wie er jetzt ist, das Zeichnen noch mehr Zeit beanspruchen darf,
als man ihm gegenwärtig einräumt. Der Tag hat vierundzwanzig Stunden,
von denen acht dem Schlafe und mindestens vier dem Essen und der Bewegung
in freier Luft gewidmet sein sollen. Welche Fülle von Stoff muß in den übrigen
zwölf bewältigt werden!

Auf der anderen Seite ist nicht zu leugnen, daß für zahlreiche Berufe die
Vorbereitung im Zeichnen, die dem Schüler jetzt zuteil wird, durchaus nicht
genügt. Zwei bis drei Stunden in der Woche stehen in keinem Verhältnis zu
der Tatsache, daß das Zeichnen das eigentliche Lebenselement, die Ausdrucks¬
sprache nicht nur der Künstler, sondern auch der Ingenieure und Techniker ist.
Von den Künstlern brauche ich kaum zu reden. Jedermann weiß, welche
Schwierigkeiten ihre Vorbildung macht. Nimmt man den Knaben zu früh aus


Der Zeichenunterricht und die Ankunft unserer höheren Schulen

sonst leicht geschehen, daß die Schulverwaltungen, auf die Verschiedenheit der
kindlichen Begabungen pochend, das ganze Fach entgelten ließen, was die über¬
triebene Steigerung einer seiner Richtungen verschuldet hat.

Jedenfalls sollte das Zeichnen als bloßer Ausdruck räumlicher Vorstellungen
nicht ganz durch das künstlerische Zeichnen verdrängt werden, sondern im vollen
Umfang daneben bestehen bleiben. Und zwar nicht nur als gebundenes Zeichnen,
sondern auch als Freihandzeichnen. Die Fähigkeit des graphischen Ausdrucks
— von aller Kunst abgesehen — ist dem Menschen im späteren Leben unent¬
behrlich. Wir alle kommen einmal in die Lage, uns in architektonischen Plänen,
Geländezeichnungen, Maschinendarstellungen u. tgi. zurechtzufinden, und die
meisten Menschen können in ihrem Berufe die Fähigkeit rascher zeichnerischer
Veranschaulichung ihrer Ideen nicht entbehren. Wo sollen sie diese aber anders
erwerben als in der Schule?

Tatsächlich sieht es damit nun ziemlich übel aus. Daß die Vorbildung
für die technischen Berufe im Gymnasium, wo der Zeichenunterricht in den
oberen Klassen nicht einmal obligatorisch ist, keineswegs genügt, ergibt sich schon
aus der Einführung vorbereitender Kurse an den technischen Hochschulen, durch
welche die Gymnasialabiturienten den Realschulabiturienten gegenüber ein ganzes
Jahr verlieren. Aber auch an den Realschulen wird das Zeichnen nach meinen
Beobachtungen nicht so lebhaft betrieben, wie es im Interesse der künstigen
Künstler und Techniker zu wünschen wäre. Vieles mag dabei von der Persön¬
lichkeit des Lehrers abhängen — in keinem Unterrichtsfach ist diese so wichtig
wie beim Zeichnen —, außerdem sind aber auch die Einrichtungen selbst zum
Teil daran schuld. Tatsächlich haben ja auch die Klagen der Zeichenlehrer in
den letzten Jahren durchaus nicht aufgehört. Man bedauert allgemein, daß die
Zahl der Stunden (zwei oder drei wöchentlich!) nicht genügend sei; daß der
Unterricht meistens auf den Nachmittag verlegt werde, wo die Schüler nicht
mehr frisch seien; daß er bei Prüfungen und Versetzungen nicht die Rolle spiele,
die seiner Wichtigkeit entspreche, usw.

Das ist gewiß alles richtig. Die Frage ist nur, ob in dem Lehrplan der
Realschule, so wie er jetzt ist, das Zeichnen noch mehr Zeit beanspruchen darf,
als man ihm gegenwärtig einräumt. Der Tag hat vierundzwanzig Stunden,
von denen acht dem Schlafe und mindestens vier dem Essen und der Bewegung
in freier Luft gewidmet sein sollen. Welche Fülle von Stoff muß in den übrigen
zwölf bewältigt werden!

Auf der anderen Seite ist nicht zu leugnen, daß für zahlreiche Berufe die
Vorbereitung im Zeichnen, die dem Schüler jetzt zuteil wird, durchaus nicht
genügt. Zwei bis drei Stunden in der Woche stehen in keinem Verhältnis zu
der Tatsache, daß das Zeichnen das eigentliche Lebenselement, die Ausdrucks¬
sprache nicht nur der Künstler, sondern auch der Ingenieure und Techniker ist.
Von den Künstlern brauche ich kaum zu reden. Jedermann weiß, welche
Schwierigkeiten ihre Vorbildung macht. Nimmt man den Knaben zu früh aus


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/220>, abgerufen am 02.07.2024.