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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Der Zeichenunterricht und die Zukunft unserer HSHeren Schulen

hoffähig machen. Damit verließ man aber den Boden, auf dem er seine
eigentliche Stärke suchen mußte. Man nahm ihm den künstlerischen Charakter,
d. h. seinen spezifischen Wert im Vergleich mit den übrigen Fächern. Gewiß ist
weder die Technik noch die wissenschaftliche Grundlage zu entbehren. Aber das
Manuelle spielt beim Zeichnen keine größere Rolle als die Bewegung der Zunge
und des Kehlkopfs beim Reden oder die Haltung der Hand beim Schreiben.
Und Kunst wird das Zeichnen erst von dem Augenblick an, wo es sich von der
wissenschaftlichen Darstellung, der bloßen Richtigkeit loslöst, d. h. wo es Phan¬
tasietätigkeit wird.

Ferner wurde ich von jenem Schulmann gefragt, ob zeichnerische Begabung
bei allen Schülern vorauszusetzen sei. Das ist für den Pädagogen keineswegs
gleichgültig. Denn wäre die Begabung keine allgemeine, so dürfte das Zeichnen
schon deshalb im Jugendunterricht keine große Rolle spielen. Ich antwortete,
daß man dabei zweierlei unterscheiden müsse, nämlich das künstlerische Zeichnen
und das Zeichnen als bloßes Ausdrucksmittel für visuelle Vorstellungen. Das
erstere sei natürlich nur denen zugänglich, die künstlerische Begabung hätten,
während das letztere mit Fleiß und Ausdauer von jedem normal begabten
Schüler gelernt werden könne.

Das sind zwei Seiten des Zeichnens, die noch immer nicht genügend aus¬
einandergehalten werden. Zeichnen mit der Absicht, durch die Art der Natur¬
auswahl, die besondere Akzentuierung und die wirksame Technik die Suggestion
irgendeines Naturgegenstandes, einer Form, Bewegung usw. zu erzeugen, ist
etwas anderes, als irgendeinen Gegenstand oder eine räumliche Vorstellung, die
man hat, richtig und einigermaßen anschaulich auf die Fläche des Papiers zu
projizieren. Das letztere ist allen Schülern ohne Ausnahme erreichbar, das
erstere nur den künstlerisch begabten unter ihnen.

Der frühere Zeichenunterricht nun. der als Massenunterricht gedacht war,
konnte nur auf die Durchschnittsbegabung berechnet sein. Deshalb war er aber
auch für künstlerisch Begabte so wenig anregend, hatte er eine merkwürdige Gabe,
ihnen die Freude am Zeichnen fürs ganze Leben zu vergällen.

So mußte denn die Reform kommen, die wir vor kurzem erlebt haben.
Man besann sich wieder darauf, daß Zeichnen doch gewissermaßen eine Kunst
sei. Und die Schülerausstellungen der letzten Jahre haben uns belehrt, wie
überraschend hoch die Leistungen sind, die man mit der neuen Methode erreichen
kann, und wie zahlreiche bisher brachliegende künstlerische Kräfte durch sie ent¬
bunden werden. Ich will hier nicht untersuchen, ob man dabei nicht zuweilen
über das Ziel hinausgeschossen hat, ob die Forderungen nicht manchmal zu hoch
gespannt worden sind, ob nicht der eine oder der andere Lehrer in das Bereich der
künstlerischen Fachschulen übergegriffen hat. Auch die Frage bleibe unberührt,
ob unsere Lehrerausbildung jetzt schon derart ist, daß höhere künstlerische Forde¬
rungen allgemein gestellt werden können. Ich möchte nur davor warnen, den
ganzen Zeichenunterricht auf den künstlerischen Zweck zuzuspitzen. Es könnte


Der Zeichenunterricht und die Zukunft unserer HSHeren Schulen

hoffähig machen. Damit verließ man aber den Boden, auf dem er seine
eigentliche Stärke suchen mußte. Man nahm ihm den künstlerischen Charakter,
d. h. seinen spezifischen Wert im Vergleich mit den übrigen Fächern. Gewiß ist
weder die Technik noch die wissenschaftliche Grundlage zu entbehren. Aber das
Manuelle spielt beim Zeichnen keine größere Rolle als die Bewegung der Zunge
und des Kehlkopfs beim Reden oder die Haltung der Hand beim Schreiben.
Und Kunst wird das Zeichnen erst von dem Augenblick an, wo es sich von der
wissenschaftlichen Darstellung, der bloßen Richtigkeit loslöst, d. h. wo es Phan¬
tasietätigkeit wird.

Ferner wurde ich von jenem Schulmann gefragt, ob zeichnerische Begabung
bei allen Schülern vorauszusetzen sei. Das ist für den Pädagogen keineswegs
gleichgültig. Denn wäre die Begabung keine allgemeine, so dürfte das Zeichnen
schon deshalb im Jugendunterricht keine große Rolle spielen. Ich antwortete,
daß man dabei zweierlei unterscheiden müsse, nämlich das künstlerische Zeichnen
und das Zeichnen als bloßes Ausdrucksmittel für visuelle Vorstellungen. Das
erstere sei natürlich nur denen zugänglich, die künstlerische Begabung hätten,
während das letztere mit Fleiß und Ausdauer von jedem normal begabten
Schüler gelernt werden könne.

Das sind zwei Seiten des Zeichnens, die noch immer nicht genügend aus¬
einandergehalten werden. Zeichnen mit der Absicht, durch die Art der Natur¬
auswahl, die besondere Akzentuierung und die wirksame Technik die Suggestion
irgendeines Naturgegenstandes, einer Form, Bewegung usw. zu erzeugen, ist
etwas anderes, als irgendeinen Gegenstand oder eine räumliche Vorstellung, die
man hat, richtig und einigermaßen anschaulich auf die Fläche des Papiers zu
projizieren. Das letztere ist allen Schülern ohne Ausnahme erreichbar, das
erstere nur den künstlerisch begabten unter ihnen.

Der frühere Zeichenunterricht nun. der als Massenunterricht gedacht war,
konnte nur auf die Durchschnittsbegabung berechnet sein. Deshalb war er aber
auch für künstlerisch Begabte so wenig anregend, hatte er eine merkwürdige Gabe,
ihnen die Freude am Zeichnen fürs ganze Leben zu vergällen.

So mußte denn die Reform kommen, die wir vor kurzem erlebt haben.
Man besann sich wieder darauf, daß Zeichnen doch gewissermaßen eine Kunst
sei. Und die Schülerausstellungen der letzten Jahre haben uns belehrt, wie
überraschend hoch die Leistungen sind, die man mit der neuen Methode erreichen
kann, und wie zahlreiche bisher brachliegende künstlerische Kräfte durch sie ent¬
bunden werden. Ich will hier nicht untersuchen, ob man dabei nicht zuweilen
über das Ziel hinausgeschossen hat, ob die Forderungen nicht manchmal zu hoch
gespannt worden sind, ob nicht der eine oder der andere Lehrer in das Bereich der
künstlerischen Fachschulen übergegriffen hat. Auch die Frage bleibe unberührt,
ob unsere Lehrerausbildung jetzt schon derart ist, daß höhere künstlerische Forde¬
rungen allgemein gestellt werden können. Ich möchte nur davor warnen, den
ganzen Zeichenunterricht auf den künstlerischen Zweck zuzuspitzen. Es könnte


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[0219] Der Zeichenunterricht und die Zukunft unserer HSHeren Schulen hoffähig machen. Damit verließ man aber den Boden, auf dem er seine eigentliche Stärke suchen mußte. Man nahm ihm den künstlerischen Charakter, d. h. seinen spezifischen Wert im Vergleich mit den übrigen Fächern. Gewiß ist weder die Technik noch die wissenschaftliche Grundlage zu entbehren. Aber das Manuelle spielt beim Zeichnen keine größere Rolle als die Bewegung der Zunge und des Kehlkopfs beim Reden oder die Haltung der Hand beim Schreiben. Und Kunst wird das Zeichnen erst von dem Augenblick an, wo es sich von der wissenschaftlichen Darstellung, der bloßen Richtigkeit loslöst, d. h. wo es Phan¬ tasietätigkeit wird. Ferner wurde ich von jenem Schulmann gefragt, ob zeichnerische Begabung bei allen Schülern vorauszusetzen sei. Das ist für den Pädagogen keineswegs gleichgültig. Denn wäre die Begabung keine allgemeine, so dürfte das Zeichnen schon deshalb im Jugendunterricht keine große Rolle spielen. Ich antwortete, daß man dabei zweierlei unterscheiden müsse, nämlich das künstlerische Zeichnen und das Zeichnen als bloßes Ausdrucksmittel für visuelle Vorstellungen. Das erstere sei natürlich nur denen zugänglich, die künstlerische Begabung hätten, während das letztere mit Fleiß und Ausdauer von jedem normal begabten Schüler gelernt werden könne. Das sind zwei Seiten des Zeichnens, die noch immer nicht genügend aus¬ einandergehalten werden. Zeichnen mit der Absicht, durch die Art der Natur¬ auswahl, die besondere Akzentuierung und die wirksame Technik die Suggestion irgendeines Naturgegenstandes, einer Form, Bewegung usw. zu erzeugen, ist etwas anderes, als irgendeinen Gegenstand oder eine räumliche Vorstellung, die man hat, richtig und einigermaßen anschaulich auf die Fläche des Papiers zu projizieren. Das letztere ist allen Schülern ohne Ausnahme erreichbar, das erstere nur den künstlerisch begabten unter ihnen. Der frühere Zeichenunterricht nun. der als Massenunterricht gedacht war, konnte nur auf die Durchschnittsbegabung berechnet sein. Deshalb war er aber auch für künstlerisch Begabte so wenig anregend, hatte er eine merkwürdige Gabe, ihnen die Freude am Zeichnen fürs ganze Leben zu vergällen. So mußte denn die Reform kommen, die wir vor kurzem erlebt haben. Man besann sich wieder darauf, daß Zeichnen doch gewissermaßen eine Kunst sei. Und die Schülerausstellungen der letzten Jahre haben uns belehrt, wie überraschend hoch die Leistungen sind, die man mit der neuen Methode erreichen kann, und wie zahlreiche bisher brachliegende künstlerische Kräfte durch sie ent¬ bunden werden. Ich will hier nicht untersuchen, ob man dabei nicht zuweilen über das Ziel hinausgeschossen hat, ob die Forderungen nicht manchmal zu hoch gespannt worden sind, ob nicht der eine oder der andere Lehrer in das Bereich der künstlerischen Fachschulen übergegriffen hat. Auch die Frage bleibe unberührt, ob unsere Lehrerausbildung jetzt schon derart ist, daß höhere künstlerische Forde¬ rungen allgemein gestellt werden können. Ich möchte nur davor warnen, den ganzen Zeichenunterricht auf den künstlerischen Zweck zuzuspitzen. Es könnte

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/219>, abgerufen am 30.06.2024.