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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Konrad Ferdinand Meyer, der Novellist

so bedeutende Rolle, daß das überarbeiten oft ein völliges Umarbeiten wird.
"Seine Liebe zur Vollendung" nennt der Dichter das: es ist ihm "ein Genuß,
immer wieder den vollendeteren Ausdruck zu suchen".

Das eigentlich Persönliche und menschlich Große liegt in der Gehalts¬
beschaffenheit der Novellen Meyers. Zwar sie sind nicht unmittelbare Erlebnis¬
schilderungen, kein Bekennen oder Gestalten nach persönlichen Lebensschicksalen.
Aber doch drücken die problemtiefen ethischen, psychologischen oder geschichts-
philosophischen Gehalte, mit denen seine Kunst nicht belastet, sondern leicht durch¬
setzt ist, des Dichters innerste Gefühlswelt aus. Meyer selbst nennt sich einmal
den Schilderer der "welthistorischen Mächte" -- es sind ganz wie bei Schiller
"der Menschheit große Gegenstände", die seine künstlerische Gestaltungskraft und
seine große ethische Natur zur dichterischen Bewältigung aufrufen. Den Werde-
prozeß der Meyerschen Dichtungen muß man sich etwa so vorstellen. Der
Dichter sieht in der Tatsachenwelt der Geschichte irgendein bewegtes Ereignis
sich abspielen, hinter dem allerlei Problematisches steckt, in dem er eine "Idee"
lebendig sieht, und diese seine "Idee", deren Manifestation jenes Ereignis ist,
verlangt es ihn nun zu "realisieren". Oder er stößt auf einen interessanten
Charakter, der hochragend und womöglich vom Zwielicht vager Überlieferungen
umflossen. aus dem Wust der Geschichte heraussticht und den er nun "enträtseln"
("Der Heilige") oder aber zu einem Rätsel machen ("Jürg Jenatsch") oder in
einer edelmenschlichen Gestalt wieder erstehen lassen ("Hütten") will. Dieses
Gestalten nach "Ideen", die ihm auf den Nägeln brannten wie anderen Dichtern
etwa persönliches Erleben und Erleiden, wies Meyer ähnlich wie Schiller, seinem
Seelenverwandten, zum vornhinein die Geschichte als das Feld seines Schaffens
zu, und zwar die Kolossalwelt der Geschichte, die von Riesengestalten zu berichten
weiß. So sind es fast immer große Stoffe und große Figuren, denen der
Pathetiker Meyer den Odem seiner weiträumiger und aufs Große gestimmten
Seele einzublasen weiß. Was diese großen Gehalte seiner Kunst aber erst
wertvoll macht, ist das weise Maßhalten in der Steigerung der Verhältnisse
und der Charaktere: nie wachsen ihm seine Helden, weder im Guten noch im
Bösen, über das Menschliche hinaus, nie wird die Zuspitzung eines Konflikts,
ein tragischer Ausgang psychologisch zu einer Unmöglichkeit. Meyer ist ein
Menschenkenner von Raffinement und bleibt daher bei aller Großzügigkeit immer
in den Grenzen einer realistischen Erfassung des Lebens. Dabei versieht er
seine Dichtungen doch -- es gibt einen "Realismus" in der Kunst, der alles
Ethische mit einer Art von närrischer Idiosynkrasie ignorieren zu sollen meint
-- mit starken ethischen Einschlagen, ohne indessen auch nur die Handbewegung
eines Predigers der Moral zu machen. Schon von der Zeit seines dichterischen
Offenbareres wird es ihm klar, daß "allenthalben erst das moralische Element
den Kunstwerken Tiefe und Anziehungskraft geben kann" und über der Arbeit
am "Pescara" bekennt er: "Ich fühle immer mehr, was für eine ungeheure
Macht das Ethische ist; es soll in meinem neuen Buche mit Posaunen und
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Konrad Ferdinand Meyer, der Novellist

so bedeutende Rolle, daß das überarbeiten oft ein völliges Umarbeiten wird.
„Seine Liebe zur Vollendung" nennt der Dichter das: es ist ihm „ein Genuß,
immer wieder den vollendeteren Ausdruck zu suchen".

Das eigentlich Persönliche und menschlich Große liegt in der Gehalts¬
beschaffenheit der Novellen Meyers. Zwar sie sind nicht unmittelbare Erlebnis¬
schilderungen, kein Bekennen oder Gestalten nach persönlichen Lebensschicksalen.
Aber doch drücken die problemtiefen ethischen, psychologischen oder geschichts-
philosophischen Gehalte, mit denen seine Kunst nicht belastet, sondern leicht durch¬
setzt ist, des Dichters innerste Gefühlswelt aus. Meyer selbst nennt sich einmal
den Schilderer der „welthistorischen Mächte" — es sind ganz wie bei Schiller
„der Menschheit große Gegenstände", die seine künstlerische Gestaltungskraft und
seine große ethische Natur zur dichterischen Bewältigung aufrufen. Den Werde-
prozeß der Meyerschen Dichtungen muß man sich etwa so vorstellen. Der
Dichter sieht in der Tatsachenwelt der Geschichte irgendein bewegtes Ereignis
sich abspielen, hinter dem allerlei Problematisches steckt, in dem er eine „Idee"
lebendig sieht, und diese seine „Idee", deren Manifestation jenes Ereignis ist,
verlangt es ihn nun zu „realisieren". Oder er stößt auf einen interessanten
Charakter, der hochragend und womöglich vom Zwielicht vager Überlieferungen
umflossen. aus dem Wust der Geschichte heraussticht und den er nun „enträtseln"
(„Der Heilige") oder aber zu einem Rätsel machen („Jürg Jenatsch") oder in
einer edelmenschlichen Gestalt wieder erstehen lassen („Hütten") will. Dieses
Gestalten nach „Ideen", die ihm auf den Nägeln brannten wie anderen Dichtern
etwa persönliches Erleben und Erleiden, wies Meyer ähnlich wie Schiller, seinem
Seelenverwandten, zum vornhinein die Geschichte als das Feld seines Schaffens
zu, und zwar die Kolossalwelt der Geschichte, die von Riesengestalten zu berichten
weiß. So sind es fast immer große Stoffe und große Figuren, denen der
Pathetiker Meyer den Odem seiner weiträumiger und aufs Große gestimmten
Seele einzublasen weiß. Was diese großen Gehalte seiner Kunst aber erst
wertvoll macht, ist das weise Maßhalten in der Steigerung der Verhältnisse
und der Charaktere: nie wachsen ihm seine Helden, weder im Guten noch im
Bösen, über das Menschliche hinaus, nie wird die Zuspitzung eines Konflikts,
ein tragischer Ausgang psychologisch zu einer Unmöglichkeit. Meyer ist ein
Menschenkenner von Raffinement und bleibt daher bei aller Großzügigkeit immer
in den Grenzen einer realistischen Erfassung des Lebens. Dabei versieht er
seine Dichtungen doch — es gibt einen „Realismus" in der Kunst, der alles
Ethische mit einer Art von närrischer Idiosynkrasie ignorieren zu sollen meint
— mit starken ethischen Einschlagen, ohne indessen auch nur die Handbewegung
eines Predigers der Moral zu machen. Schon von der Zeit seines dichterischen
Offenbareres wird es ihm klar, daß „allenthalben erst das moralische Element
den Kunstwerken Tiefe und Anziehungskraft geben kann" und über der Arbeit
am „Pescara" bekennt er: „Ich fühle immer mehr, was für eine ungeheure
Macht das Ethische ist; es soll in meinem neuen Buche mit Posaunen und
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/175>, abgerufen am 02.10.2024.