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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Ritualmord und Bluwbcrglaubc

Repräsentant des Lebens sei. Deshalb hat von jeher in der Heilbehandlung
das Blut eine große Rolle gespielt, wie Professor Magnus klar nachgewiesen
hat. Die überaus zahlreichen Materialien, welche die volkskundlichen Forschungen
der letzten Jahrzehnte ergeben haben, sind von Hovorka und Kronfeld in ihrem
bekannten Werke über die Volksmedizin systematisch zusammengestellt worden.
Aus ihm ergibt sich mit voller Klarheit, daß die Anschauung primitiver Völker
über die Heilwirkung des Blutes auch in den unteren Schichten der modernen
Kulturvölker noch überaus lebenskräftig sich erhalten hat. Das Blut ist jedoch nach
dem primitiven Volksglauben nicht nur ein ausgezeichnetes Heilmittel, sondern
-- und das hängt eng damit zusammen -- gleichzeitig auch ein vorzügliches
Zaubermittel. Wie die Beobachtungen bei den Kulturvölkern der Jetztzeit erwiesen
haben -- ich verweise aus die zahlreichen Materialien bei Westermarck --,
glaubt man wohl allgemein, daß die Seele des Menschen auch nach seinem Tode
noch an dem Blute hafte und daß es daher möglich sei, durch Trinken des
Blutes, durch Beschmieren des Gesichts mit dem Blute Erschlagener, oder durch
ähnliche Zeremonien die Seele des Verstorbenen sich dienstbar zu machen, und
dadurch allerlei Kräfte und Zaubergaben zu gewinnen, über die man sonst
nicht verfügt. Auch dieser Glaube an die Zauberkraft des Blutes ist, wie
gleichfalls über allen Zweifel festgestellt ist, noch im modernen Volksglauben
lebendig. Nur mit einigen wenigen bezeichnenden Beispielen sei es gestattet,
diese dem Laien meistens unbekannten Tatsachen zu belegen.

Am 3. Juli 1891 wurde in dem Dorfe Stary Ssallmann im Gouvernement
Kasan die Leiche eines sechsjährigen Mädchens gefunden. Es ergab sich, daß
ihr die Kehle durchschnitten und die Brust- und Magenhöhle geöffnet war. Das
Herz war aus der Leiche herausgenommen und fortgebracht. Es wurde fest¬
gestellt, daß dies Verbrechen gemeinschaftlich von einem Mann und seinem Sohne
verübt worden war, und zwar, um den Vater dadurch von einer Krankheit zu
kurieren, daß er das Herz des Mädchens aufaße. Zahlreiche Fälle sind auch
in den letzten Jahrzehnten in Rußland bekannt geworden, in welchen Diebe
Leichenschändungen begangen haben, um sich nach altem Volksglauben -- der
übrigens auch bei uns bekannt ist -- aus Menschenfett ein sogenanntes Diebs¬
licht zu fertigen. Diese Kerze aus Menschenfett soll die für lichtscheues Gesindel
angenehme Eigenschaft haben, diejenigen, die sie sich als Opfer ausersehen haben,
so einzuschläfern, daß der Diebstahl unentdeckt verübt werden kann.

Vielfach glaubt man auch, man könne sich von der Hexerei befreien, wenn
man die Hexe blutig schlage, und mit ihrem Blute den Behexten bestreiche.
Weit verbreitet ist dieser Glaube auch heutigen Tages noch namentlich im Osten
Deutschlands. So schlugen beispielsweise im Januar 1874 ein Landschullehrer
im Kreise Straßburg und seine Frau auf den Rat einer Wahrsagerin ihre
eigene Tante mit der Feuerzange, bis Blut floß, mit welchen! sie dann ihr ver¬
meintlich von der Mißhandelten behextes Kind benetzten. Derartige Fälle sind
vielfach vorgekommen. So wurde im Jahre 1868 einem schon längere Zeit


Ritualmord und Bluwbcrglaubc

Repräsentant des Lebens sei. Deshalb hat von jeher in der Heilbehandlung
das Blut eine große Rolle gespielt, wie Professor Magnus klar nachgewiesen
hat. Die überaus zahlreichen Materialien, welche die volkskundlichen Forschungen
der letzten Jahrzehnte ergeben haben, sind von Hovorka und Kronfeld in ihrem
bekannten Werke über die Volksmedizin systematisch zusammengestellt worden.
Aus ihm ergibt sich mit voller Klarheit, daß die Anschauung primitiver Völker
über die Heilwirkung des Blutes auch in den unteren Schichten der modernen
Kulturvölker noch überaus lebenskräftig sich erhalten hat. Das Blut ist jedoch nach
dem primitiven Volksglauben nicht nur ein ausgezeichnetes Heilmittel, sondern
— und das hängt eng damit zusammen — gleichzeitig auch ein vorzügliches
Zaubermittel. Wie die Beobachtungen bei den Kulturvölkern der Jetztzeit erwiesen
haben — ich verweise aus die zahlreichen Materialien bei Westermarck —,
glaubt man wohl allgemein, daß die Seele des Menschen auch nach seinem Tode
noch an dem Blute hafte und daß es daher möglich sei, durch Trinken des
Blutes, durch Beschmieren des Gesichts mit dem Blute Erschlagener, oder durch
ähnliche Zeremonien die Seele des Verstorbenen sich dienstbar zu machen, und
dadurch allerlei Kräfte und Zaubergaben zu gewinnen, über die man sonst
nicht verfügt. Auch dieser Glaube an die Zauberkraft des Blutes ist, wie
gleichfalls über allen Zweifel festgestellt ist, noch im modernen Volksglauben
lebendig. Nur mit einigen wenigen bezeichnenden Beispielen sei es gestattet,
diese dem Laien meistens unbekannten Tatsachen zu belegen.

Am 3. Juli 1891 wurde in dem Dorfe Stary Ssallmann im Gouvernement
Kasan die Leiche eines sechsjährigen Mädchens gefunden. Es ergab sich, daß
ihr die Kehle durchschnitten und die Brust- und Magenhöhle geöffnet war. Das
Herz war aus der Leiche herausgenommen und fortgebracht. Es wurde fest¬
gestellt, daß dies Verbrechen gemeinschaftlich von einem Mann und seinem Sohne
verübt worden war, und zwar, um den Vater dadurch von einer Krankheit zu
kurieren, daß er das Herz des Mädchens aufaße. Zahlreiche Fälle sind auch
in den letzten Jahrzehnten in Rußland bekannt geworden, in welchen Diebe
Leichenschändungen begangen haben, um sich nach altem Volksglauben — der
übrigens auch bei uns bekannt ist — aus Menschenfett ein sogenanntes Diebs¬
licht zu fertigen. Diese Kerze aus Menschenfett soll die für lichtscheues Gesindel
angenehme Eigenschaft haben, diejenigen, die sie sich als Opfer ausersehen haben,
so einzuschläfern, daß der Diebstahl unentdeckt verübt werden kann.

Vielfach glaubt man auch, man könne sich von der Hexerei befreien, wenn
man die Hexe blutig schlage, und mit ihrem Blute den Behexten bestreiche.
Weit verbreitet ist dieser Glaube auch heutigen Tages noch namentlich im Osten
Deutschlands. So schlugen beispielsweise im Januar 1874 ein Landschullehrer
im Kreise Straßburg und seine Frau auf den Rat einer Wahrsagerin ihre
eigene Tante mit der Feuerzange, bis Blut floß, mit welchen! sie dann ihr ver¬
meintlich von der Mißhandelten behextes Kind benetzten. Derartige Fälle sind
vielfach vorgekommen. So wurde im Jahre 1868 einem schon längere Zeit


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[0165] Ritualmord und Bluwbcrglaubc Repräsentant des Lebens sei. Deshalb hat von jeher in der Heilbehandlung das Blut eine große Rolle gespielt, wie Professor Magnus klar nachgewiesen hat. Die überaus zahlreichen Materialien, welche die volkskundlichen Forschungen der letzten Jahrzehnte ergeben haben, sind von Hovorka und Kronfeld in ihrem bekannten Werke über die Volksmedizin systematisch zusammengestellt worden. Aus ihm ergibt sich mit voller Klarheit, daß die Anschauung primitiver Völker über die Heilwirkung des Blutes auch in den unteren Schichten der modernen Kulturvölker noch überaus lebenskräftig sich erhalten hat. Das Blut ist jedoch nach dem primitiven Volksglauben nicht nur ein ausgezeichnetes Heilmittel, sondern — und das hängt eng damit zusammen — gleichzeitig auch ein vorzügliches Zaubermittel. Wie die Beobachtungen bei den Kulturvölkern der Jetztzeit erwiesen haben — ich verweise aus die zahlreichen Materialien bei Westermarck —, glaubt man wohl allgemein, daß die Seele des Menschen auch nach seinem Tode noch an dem Blute hafte und daß es daher möglich sei, durch Trinken des Blutes, durch Beschmieren des Gesichts mit dem Blute Erschlagener, oder durch ähnliche Zeremonien die Seele des Verstorbenen sich dienstbar zu machen, und dadurch allerlei Kräfte und Zaubergaben zu gewinnen, über die man sonst nicht verfügt. Auch dieser Glaube an die Zauberkraft des Blutes ist, wie gleichfalls über allen Zweifel festgestellt ist, noch im modernen Volksglauben lebendig. Nur mit einigen wenigen bezeichnenden Beispielen sei es gestattet, diese dem Laien meistens unbekannten Tatsachen zu belegen. Am 3. Juli 1891 wurde in dem Dorfe Stary Ssallmann im Gouvernement Kasan die Leiche eines sechsjährigen Mädchens gefunden. Es ergab sich, daß ihr die Kehle durchschnitten und die Brust- und Magenhöhle geöffnet war. Das Herz war aus der Leiche herausgenommen und fortgebracht. Es wurde fest¬ gestellt, daß dies Verbrechen gemeinschaftlich von einem Mann und seinem Sohne verübt worden war, und zwar, um den Vater dadurch von einer Krankheit zu kurieren, daß er das Herz des Mädchens aufaße. Zahlreiche Fälle sind auch in den letzten Jahrzehnten in Rußland bekannt geworden, in welchen Diebe Leichenschändungen begangen haben, um sich nach altem Volksglauben — der übrigens auch bei uns bekannt ist — aus Menschenfett ein sogenanntes Diebs¬ licht zu fertigen. Diese Kerze aus Menschenfett soll die für lichtscheues Gesindel angenehme Eigenschaft haben, diejenigen, die sie sich als Opfer ausersehen haben, so einzuschläfern, daß der Diebstahl unentdeckt verübt werden kann. Vielfach glaubt man auch, man könne sich von der Hexerei befreien, wenn man die Hexe blutig schlage, und mit ihrem Blute den Behexten bestreiche. Weit verbreitet ist dieser Glaube auch heutigen Tages noch namentlich im Osten Deutschlands. So schlugen beispielsweise im Januar 1874 ein Landschullehrer im Kreise Straßburg und seine Frau auf den Rat einer Wahrsagerin ihre eigene Tante mit der Feuerzange, bis Blut floß, mit welchen! sie dann ihr ver¬ meintlich von der Mißhandelten behextes Kind benetzten. Derartige Fälle sind vielfach vorgekommen. So wurde im Jahre 1868 einem schon längere Zeit

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/165>, abgerufen am 29.07.2024.