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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Ritualmord und Blutaberglcmbe

forschung der einschlügigen jüdischen Religionsschriften. Insbesondere verweise
ich auf die sorgfältigen, völlig tendenziösen Untersuchungen des Berliner Theologen
Professor Strack, der nicht eine einzige Stelle aus der jüdischen Literatur bei¬
bringen kann, die einen Anhaltspunkt für eine derartige Beschuldigung der
jüdischen Religion geben würde. Wenn das Gegenteil behauptet wurde, wie dies
unzählige Male, vom Mittelalter an bis auf unsere Tage geschehen ist, so hat
unbefangene Nachprüfung immer wieder festgestellt, daß es sich entweder um
absichtliche Fälschungen und bewußte Entstellungen gehandelt hat, oder um Mi߬
verständnisse mancher schwieriger Quellenstellen. Strack bringt sogar eine Reihe
von Belegen dafür bei, daß nach dem ganzen Zusammenhange der in der
jüdischen Religionsliteratur sich vorfindenden Anschauungen über Blut und Blut¬
genuß es an und für sich schon höchst unwahrscheinlich sei, daß der Ritualmord¬
gedanke in dem jüdischen Religionssystem enthalten sei. Auf diese zuletzt er¬
wähnte Tatsache wird man allerdings, wie wir weiter unten sehen werden, allzu
großes Gewicht nicht legen dürfen. Entscheidend für uns ist die Tatsache,
daß trotz der Jahrhunderte alten Blutbeschuldigung sich noch niemals irgend¬
eine Quellenstelle hat nachweisen lassen, welche diese Blutbeschuldigung als be¬
rechtigt erscheinen lassen würde.

Wie erklärt es sich nun, daß trotz dieser Unhaltbarkeit der Blutbeschuldigung
seit Jahrhunderten immer wieder von neuem der Ritualmordgedanke auftaucht,
in zahlreichen Prozessen eine Rolle gespielt hat, und auch heute noch in den
Köpfen herumspukt? Erst wenn wir dieses Problem befriedigend gelöst haben,
können wir sagen, daß das Ritualmordproblem völlig geklärt ist.

Wenn wir der Frage näher treten, wie sich die Entstehung dieses Volks¬
glaubens erklärt, so werden wir auf zweierlei Gedankenkreise hinweisen müssen;
einmal auf die Rolle, welche das Blut im Aberglauben der Naturvölker sowohl,
wie auch der Kulturvölker spielt, und zweitens auf die gleichfalls universale
Erscheinung, daß man Fremde, insbesondere, soweit sie einer anderen Nasse
oder einer anderen Religion angehören, von jeher mit besonderem Mißtrauen
betrachtet hat und ihnen alles Schlechte zuzutrauen pflegt.

Was zunächst den ersten Gedankenkreis anbetrifft, so ist es einem jeden
mit ethnologischen oder volkskundlichen Forschungen Vertrauten eine nur allzu
bekannte Tatsache, daß das Blut allüberall auf dem ganzen Erdenrund als ein
besonderer Saft gilt, dem mannigfache Zauberkräfte eigen sind. Wenn man
daran denkt, daß in primitiven Verhältnissen der Mensch sich tagtäglich, im
Kampfe sowohl wie auf der Jagd, davon überzeugen mußte, daß das Bestehen
des Lebens an die Erhaltung des Blutes gebunden, daß mit einem größeren
Blutverlust stets eine schwere Schädigung aller Lebensäußerungen, wenn nicht
gar völliger Verlust des Lebens gegeben ist, so ist es nur zu verständlich, daß
aus derartigen Beobachtungen heraus ganz unvermittelt die Anschauung erwuchs,
das Blut sei der Träger allen Lebens, das Leben mit allen seinen mannig¬
fachen Erscheinungsformen sitze im Blut, so daß dieses eigentlich der stoffliche


Ritualmord und Blutaberglcmbe

forschung der einschlügigen jüdischen Religionsschriften. Insbesondere verweise
ich auf die sorgfältigen, völlig tendenziösen Untersuchungen des Berliner Theologen
Professor Strack, der nicht eine einzige Stelle aus der jüdischen Literatur bei¬
bringen kann, die einen Anhaltspunkt für eine derartige Beschuldigung der
jüdischen Religion geben würde. Wenn das Gegenteil behauptet wurde, wie dies
unzählige Male, vom Mittelalter an bis auf unsere Tage geschehen ist, so hat
unbefangene Nachprüfung immer wieder festgestellt, daß es sich entweder um
absichtliche Fälschungen und bewußte Entstellungen gehandelt hat, oder um Mi߬
verständnisse mancher schwieriger Quellenstellen. Strack bringt sogar eine Reihe
von Belegen dafür bei, daß nach dem ganzen Zusammenhange der in der
jüdischen Religionsliteratur sich vorfindenden Anschauungen über Blut und Blut¬
genuß es an und für sich schon höchst unwahrscheinlich sei, daß der Ritualmord¬
gedanke in dem jüdischen Religionssystem enthalten sei. Auf diese zuletzt er¬
wähnte Tatsache wird man allerdings, wie wir weiter unten sehen werden, allzu
großes Gewicht nicht legen dürfen. Entscheidend für uns ist die Tatsache,
daß trotz der Jahrhunderte alten Blutbeschuldigung sich noch niemals irgend¬
eine Quellenstelle hat nachweisen lassen, welche diese Blutbeschuldigung als be¬
rechtigt erscheinen lassen würde.

Wie erklärt es sich nun, daß trotz dieser Unhaltbarkeit der Blutbeschuldigung
seit Jahrhunderten immer wieder von neuem der Ritualmordgedanke auftaucht,
in zahlreichen Prozessen eine Rolle gespielt hat, und auch heute noch in den
Köpfen herumspukt? Erst wenn wir dieses Problem befriedigend gelöst haben,
können wir sagen, daß das Ritualmordproblem völlig geklärt ist.

Wenn wir der Frage näher treten, wie sich die Entstehung dieses Volks¬
glaubens erklärt, so werden wir auf zweierlei Gedankenkreise hinweisen müssen;
einmal auf die Rolle, welche das Blut im Aberglauben der Naturvölker sowohl,
wie auch der Kulturvölker spielt, und zweitens auf die gleichfalls universale
Erscheinung, daß man Fremde, insbesondere, soweit sie einer anderen Nasse
oder einer anderen Religion angehören, von jeher mit besonderem Mißtrauen
betrachtet hat und ihnen alles Schlechte zuzutrauen pflegt.

Was zunächst den ersten Gedankenkreis anbetrifft, so ist es einem jeden
mit ethnologischen oder volkskundlichen Forschungen Vertrauten eine nur allzu
bekannte Tatsache, daß das Blut allüberall auf dem ganzen Erdenrund als ein
besonderer Saft gilt, dem mannigfache Zauberkräfte eigen sind. Wenn man
daran denkt, daß in primitiven Verhältnissen der Mensch sich tagtäglich, im
Kampfe sowohl wie auf der Jagd, davon überzeugen mußte, daß das Bestehen
des Lebens an die Erhaltung des Blutes gebunden, daß mit einem größeren
Blutverlust stets eine schwere Schädigung aller Lebensäußerungen, wenn nicht
gar völliger Verlust des Lebens gegeben ist, so ist es nur zu verständlich, daß
aus derartigen Beobachtungen heraus ganz unvermittelt die Anschauung erwuchs,
das Blut sei der Träger allen Lebens, das Leben mit allen seinen mannig¬
fachen Erscheinungsformen sitze im Blut, so daß dieses eigentlich der stoffliche


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[0164] Ritualmord und Blutaberglcmbe forschung der einschlügigen jüdischen Religionsschriften. Insbesondere verweise ich auf die sorgfältigen, völlig tendenziösen Untersuchungen des Berliner Theologen Professor Strack, der nicht eine einzige Stelle aus der jüdischen Literatur bei¬ bringen kann, die einen Anhaltspunkt für eine derartige Beschuldigung der jüdischen Religion geben würde. Wenn das Gegenteil behauptet wurde, wie dies unzählige Male, vom Mittelalter an bis auf unsere Tage geschehen ist, so hat unbefangene Nachprüfung immer wieder festgestellt, daß es sich entweder um absichtliche Fälschungen und bewußte Entstellungen gehandelt hat, oder um Mi߬ verständnisse mancher schwieriger Quellenstellen. Strack bringt sogar eine Reihe von Belegen dafür bei, daß nach dem ganzen Zusammenhange der in der jüdischen Religionsliteratur sich vorfindenden Anschauungen über Blut und Blut¬ genuß es an und für sich schon höchst unwahrscheinlich sei, daß der Ritualmord¬ gedanke in dem jüdischen Religionssystem enthalten sei. Auf diese zuletzt er¬ wähnte Tatsache wird man allerdings, wie wir weiter unten sehen werden, allzu großes Gewicht nicht legen dürfen. Entscheidend für uns ist die Tatsache, daß trotz der Jahrhunderte alten Blutbeschuldigung sich noch niemals irgend¬ eine Quellenstelle hat nachweisen lassen, welche diese Blutbeschuldigung als be¬ rechtigt erscheinen lassen würde. Wie erklärt es sich nun, daß trotz dieser Unhaltbarkeit der Blutbeschuldigung seit Jahrhunderten immer wieder von neuem der Ritualmordgedanke auftaucht, in zahlreichen Prozessen eine Rolle gespielt hat, und auch heute noch in den Köpfen herumspukt? Erst wenn wir dieses Problem befriedigend gelöst haben, können wir sagen, daß das Ritualmordproblem völlig geklärt ist. Wenn wir der Frage näher treten, wie sich die Entstehung dieses Volks¬ glaubens erklärt, so werden wir auf zweierlei Gedankenkreise hinweisen müssen; einmal auf die Rolle, welche das Blut im Aberglauben der Naturvölker sowohl, wie auch der Kulturvölker spielt, und zweitens auf die gleichfalls universale Erscheinung, daß man Fremde, insbesondere, soweit sie einer anderen Nasse oder einer anderen Religion angehören, von jeher mit besonderem Mißtrauen betrachtet hat und ihnen alles Schlechte zuzutrauen pflegt. Was zunächst den ersten Gedankenkreis anbetrifft, so ist es einem jeden mit ethnologischen oder volkskundlichen Forschungen Vertrauten eine nur allzu bekannte Tatsache, daß das Blut allüberall auf dem ganzen Erdenrund als ein besonderer Saft gilt, dem mannigfache Zauberkräfte eigen sind. Wenn man daran denkt, daß in primitiven Verhältnissen der Mensch sich tagtäglich, im Kampfe sowohl wie auf der Jagd, davon überzeugen mußte, daß das Bestehen des Lebens an die Erhaltung des Blutes gebunden, daß mit einem größeren Blutverlust stets eine schwere Schädigung aller Lebensäußerungen, wenn nicht gar völliger Verlust des Lebens gegeben ist, so ist es nur zu verständlich, daß aus derartigen Beobachtungen heraus ganz unvermittelt die Anschauung erwuchs, das Blut sei der Träger allen Lebens, das Leben mit allen seinen mannig¬ fachen Erscheinungsformen sitze im Blut, so daß dieses eigentlich der stoffliche

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/164>, abgerufen am 29.07.2024.