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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Uleist ein Alajsiker?

Und was sollte Kleist endlich in der Schule? Unseren jungen Mädchen
erscheint das Käthchen, was man auch von echt deutscher, inniger Hingebung
reden mag, unwürdig, unseren Sekundanern der Prinz von Homburg ebenso,
und warum wollten wir der Jugend ihr auf ihrer Entwicklungsstufe durchaus
berechtigtes echtes Gefühl durch die Literatur rauben? Oder sollen wir es dahin
bringen, daß jeder Feigling sich trösten kann, daß es dem Prinzen von Hom¬
burg, den Kleist doch als Helden aufgefaßt haben wolle, gerade so ginge wie
ihm und daß das gerade echt menschlich wäre, oder daß jede hinterlistige Kanaille
sich auf Hermann den Cherusker beruft? Ich sage nichts gegen die hohe
dichterische Kunst, die in diesen Zügen liegt, und die ich von jeher bewundert
habe, ich unterscheide mich nur darin von den Kleist-Propheten, daß ich diese
Bewunderung recht gut für mich behalten kann. Daß ferner "Penthesilea" nicht
in die Schule gehört, weil sie viel zu schwer ist, wird mir jeder zugeben, und
der "Zerbrochene Krug" kann nur von der Bühne herab wirken. Das einzige
für Knaben, aber nicht für Mädchen, wäre der "Michael Kohlhaas", der wegen
seiner typischen Bedeutung für werdende Männer von Reiferen allgemein gelesen
werden sollte, obwohl sie die Kraft der Objektivierung noch nicht zu würdigen
Verstehen und Kleists Prosa, so großartig sie an sich ist, alles andere als vor¬
bildlich genannt werden kann.

Mit Ausnahme des "Kohlhaas" möchte ich Kleist also für die Schule streichen.
Abgesehen davon, daß ihm jene krönende, weittragende Bedeutung in der Ent¬
wicklung unseres Geisteslebens, um derentwillen wir die Klassiker lesen lassen,
fehlt, erfordert er ein Maß psychologischen Verständnisses, das sich bei der
Jugend mangels eigener Erlebnisse noch nicht finden kann. Und wo nicht das
Beste zum Verständnis aus der Brust des Lesers kommen kann, da wird auch
der Lehrer und Erklärer nichts Fruchtbringendes ausrichten können.




Uleist ein Alajsiker?

Und was sollte Kleist endlich in der Schule? Unseren jungen Mädchen
erscheint das Käthchen, was man auch von echt deutscher, inniger Hingebung
reden mag, unwürdig, unseren Sekundanern der Prinz von Homburg ebenso,
und warum wollten wir der Jugend ihr auf ihrer Entwicklungsstufe durchaus
berechtigtes echtes Gefühl durch die Literatur rauben? Oder sollen wir es dahin
bringen, daß jeder Feigling sich trösten kann, daß es dem Prinzen von Hom¬
burg, den Kleist doch als Helden aufgefaßt haben wolle, gerade so ginge wie
ihm und daß das gerade echt menschlich wäre, oder daß jede hinterlistige Kanaille
sich auf Hermann den Cherusker beruft? Ich sage nichts gegen die hohe
dichterische Kunst, die in diesen Zügen liegt, und die ich von jeher bewundert
habe, ich unterscheide mich nur darin von den Kleist-Propheten, daß ich diese
Bewunderung recht gut für mich behalten kann. Daß ferner „Penthesilea" nicht
in die Schule gehört, weil sie viel zu schwer ist, wird mir jeder zugeben, und
der „Zerbrochene Krug" kann nur von der Bühne herab wirken. Das einzige
für Knaben, aber nicht für Mädchen, wäre der „Michael Kohlhaas", der wegen
seiner typischen Bedeutung für werdende Männer von Reiferen allgemein gelesen
werden sollte, obwohl sie die Kraft der Objektivierung noch nicht zu würdigen
Verstehen und Kleists Prosa, so großartig sie an sich ist, alles andere als vor¬
bildlich genannt werden kann.

Mit Ausnahme des „Kohlhaas" möchte ich Kleist also für die Schule streichen.
Abgesehen davon, daß ihm jene krönende, weittragende Bedeutung in der Ent¬
wicklung unseres Geisteslebens, um derentwillen wir die Klassiker lesen lassen,
fehlt, erfordert er ein Maß psychologischen Verständnisses, das sich bei der
Jugend mangels eigener Erlebnisse noch nicht finden kann. Und wo nicht das
Beste zum Verständnis aus der Brust des Lesers kommen kann, da wird auch
der Lehrer und Erklärer nichts Fruchtbringendes ausrichten können.




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[0133] Uleist ein Alajsiker? Und was sollte Kleist endlich in der Schule? Unseren jungen Mädchen erscheint das Käthchen, was man auch von echt deutscher, inniger Hingebung reden mag, unwürdig, unseren Sekundanern der Prinz von Homburg ebenso, und warum wollten wir der Jugend ihr auf ihrer Entwicklungsstufe durchaus berechtigtes echtes Gefühl durch die Literatur rauben? Oder sollen wir es dahin bringen, daß jeder Feigling sich trösten kann, daß es dem Prinzen von Hom¬ burg, den Kleist doch als Helden aufgefaßt haben wolle, gerade so ginge wie ihm und daß das gerade echt menschlich wäre, oder daß jede hinterlistige Kanaille sich auf Hermann den Cherusker beruft? Ich sage nichts gegen die hohe dichterische Kunst, die in diesen Zügen liegt, und die ich von jeher bewundert habe, ich unterscheide mich nur darin von den Kleist-Propheten, daß ich diese Bewunderung recht gut für mich behalten kann. Daß ferner „Penthesilea" nicht in die Schule gehört, weil sie viel zu schwer ist, wird mir jeder zugeben, und der „Zerbrochene Krug" kann nur von der Bühne herab wirken. Das einzige für Knaben, aber nicht für Mädchen, wäre der „Michael Kohlhaas", der wegen seiner typischen Bedeutung für werdende Männer von Reiferen allgemein gelesen werden sollte, obwohl sie die Kraft der Objektivierung noch nicht zu würdigen Verstehen und Kleists Prosa, so großartig sie an sich ist, alles andere als vor¬ bildlich genannt werden kann. Mit Ausnahme des „Kohlhaas" möchte ich Kleist also für die Schule streichen. Abgesehen davon, daß ihm jene krönende, weittragende Bedeutung in der Ent¬ wicklung unseres Geisteslebens, um derentwillen wir die Klassiker lesen lassen, fehlt, erfordert er ein Maß psychologischen Verständnisses, das sich bei der Jugend mangels eigener Erlebnisse noch nicht finden kann. Und wo nicht das Beste zum Verständnis aus der Brust des Lesers kommen kann, da wird auch der Lehrer und Erklärer nichts Fruchtbringendes ausrichten können.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/133>, abgerufen am 22.07.2024.