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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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erst einmal berufenen Autoren überläßt, die Wahlrechtsfrage in der Literatur zu
klären. Mit der Formel des Neichstagswahlrechts ist für Preußen ebensowenig
anzufangen, wie mit den Versuchen einer Bewertung der einzelnen Stimmen.
Einen Weg scheinen die auf Verhältniswahl hinzielenden Vorschläge zu zeigen;
doch möchte ich glauben, daß man angesichts des tatsächlichen Zustandes der
politischen Parteien, angesichts des Mangels politischer Interessen und Be¬
geisterung, die Verhältniswahl nur dann praktisch und gerecht einrichten
könnte, wenn man sich entschlösse, auf die Grundsätze des Freiherrn von Stein,
also auf die ständische Grundlage der Volksvertretung zurückzugreifen, -- natür¬
lich habe ich dabei nicht die alten Stände im Auge, sondern denke an die
modernen Gebilde, die unter dem Schutz der Reichsverfassung als Vereine und
Verbände entstehen konnten.




Viel Befremden und Enttäuschung und in den zunächst beteiligten deutschen
Kreisen der Ostmark Entmutigung haben die Vorgänge gezeitigt, die als ein
neuer Kurs in der Polenfragc gedeutet werden. Nachdem Herr von
Waldow die Oberpräsidentschaft von Posen mit der von Stettin vertauschte und
Herr Schwartzkopff in Posen eingezogen ist, verließ vor einigen Monaten auch
der bewährte Präsident der Ansiedlungskommission Dr. Gramsch seinen Posten.
Kenner der inneren Vorgänge versichern. Gramsch sei zurückgetreten, weil die
vom ostelbischen Großgrundbesitz eingeschüchterte Negierung seine Siedlungstätigkeit
hinderte. Der Leser findet Näheres darüber in Heft 34 Seite 355 und Heft 37
Seite484 dieses Jahres. Nun ist der Posten seither unbesetzt geblieben, weil sich kaum
ein tüchtiger Mann finden dürfte, der seine Stellung an der Spitze der Ansiedlungs¬
kommission lediglich als Sinekure aufzufassen gewillt wäre. Schließlich wurden bei dem
jüngsten Aufenthalt des Kaisers in Posen eine Reihe von polnischen Herren zur kaiser¬
lichen Tafel herangezogen und ihm vorgestellt. So scheinen wir denn wieder einmal
in eine Zeit rückläufiger Entwicklung hineinzusteuern, in eine Periode, die wieder
auflösen soll, was die vorangegangene mühsam zusammengefügt hat. In früheren
Zeiten, z. B. bei jenem Intermezzo, das sich an den Namen des Herrn von
Koscielski (Admiralski) knüpft, konnte man bei dem Einlenken in einen versöhn¬
lichen Kurs noch einen Zweck erkennen. Der Kaiser wollte die Flotte bauen;
bei dem Stimmverhältnis im Reichstage brauchte er die Polenfraktion dazu;
er glaubte sie billiger, wie durch Liebenswürdigkeiten, nicht gewinnen zu können,
wobei freilich übersehen wurde, daß wichtige nationale Werte, die vorläufig
nicht in sichtbaren Gewinnen zutage treten können, gefährdet wurden. Die da¬
malige Annäherung hatte aber doch einen Sinn. Was aber steht uns jetzt
bevor? Welche Nebenzwecke werden gegenwärtig verfolgt? Nirgends in der
inneren Politik erkennen wir ein Gebiet, auf dem die Mitwirkung der Polen
notwendig wäre. Wollen sie am Staats- und Reichswagen mitziehen, so hindert
sie niemand daran, wollen sie nebenher laufen, so wird auch Liebenswürdigkeit


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erst einmal berufenen Autoren überläßt, die Wahlrechtsfrage in der Literatur zu
klären. Mit der Formel des Neichstagswahlrechts ist für Preußen ebensowenig
anzufangen, wie mit den Versuchen einer Bewertung der einzelnen Stimmen.
Einen Weg scheinen die auf Verhältniswahl hinzielenden Vorschläge zu zeigen;
doch möchte ich glauben, daß man angesichts des tatsächlichen Zustandes der
politischen Parteien, angesichts des Mangels politischer Interessen und Be¬
geisterung, die Verhältniswahl nur dann praktisch und gerecht einrichten
könnte, wenn man sich entschlösse, auf die Grundsätze des Freiherrn von Stein,
also auf die ständische Grundlage der Volksvertretung zurückzugreifen, — natür¬
lich habe ich dabei nicht die alten Stände im Auge, sondern denke an die
modernen Gebilde, die unter dem Schutz der Reichsverfassung als Vereine und
Verbände entstehen konnten.




Viel Befremden und Enttäuschung und in den zunächst beteiligten deutschen
Kreisen der Ostmark Entmutigung haben die Vorgänge gezeitigt, die als ein
neuer Kurs in der Polenfragc gedeutet werden. Nachdem Herr von
Waldow die Oberpräsidentschaft von Posen mit der von Stettin vertauschte und
Herr Schwartzkopff in Posen eingezogen ist, verließ vor einigen Monaten auch
der bewährte Präsident der Ansiedlungskommission Dr. Gramsch seinen Posten.
Kenner der inneren Vorgänge versichern. Gramsch sei zurückgetreten, weil die
vom ostelbischen Großgrundbesitz eingeschüchterte Negierung seine Siedlungstätigkeit
hinderte. Der Leser findet Näheres darüber in Heft 34 Seite 355 und Heft 37
Seite484 dieses Jahres. Nun ist der Posten seither unbesetzt geblieben, weil sich kaum
ein tüchtiger Mann finden dürfte, der seine Stellung an der Spitze der Ansiedlungs¬
kommission lediglich als Sinekure aufzufassen gewillt wäre. Schließlich wurden bei dem
jüngsten Aufenthalt des Kaisers in Posen eine Reihe von polnischen Herren zur kaiser¬
lichen Tafel herangezogen und ihm vorgestellt. So scheinen wir denn wieder einmal
in eine Zeit rückläufiger Entwicklung hineinzusteuern, in eine Periode, die wieder
auflösen soll, was die vorangegangene mühsam zusammengefügt hat. In früheren
Zeiten, z. B. bei jenem Intermezzo, das sich an den Namen des Herrn von
Koscielski (Admiralski) knüpft, konnte man bei dem Einlenken in einen versöhn¬
lichen Kurs noch einen Zweck erkennen. Der Kaiser wollte die Flotte bauen;
bei dem Stimmverhältnis im Reichstage brauchte er die Polenfraktion dazu;
er glaubte sie billiger, wie durch Liebenswürdigkeiten, nicht gewinnen zu können,
wobei freilich übersehen wurde, daß wichtige nationale Werte, die vorläufig
nicht in sichtbaren Gewinnen zutage treten können, gefährdet wurden. Die da¬
malige Annäherung hatte aber doch einen Sinn. Was aber steht uns jetzt
bevor? Welche Nebenzwecke werden gegenwärtig verfolgt? Nirgends in der
inneren Politik erkennen wir ein Gebiet, auf dem die Mitwirkung der Polen
notwendig wäre. Wollen sie am Staats- und Reichswagen mitziehen, so hindert
sie niemand daran, wollen sie nebenher laufen, so wird auch Liebenswürdigkeit


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[0102] Reichsspisgcl erst einmal berufenen Autoren überläßt, die Wahlrechtsfrage in der Literatur zu klären. Mit der Formel des Neichstagswahlrechts ist für Preußen ebensowenig anzufangen, wie mit den Versuchen einer Bewertung der einzelnen Stimmen. Einen Weg scheinen die auf Verhältniswahl hinzielenden Vorschläge zu zeigen; doch möchte ich glauben, daß man angesichts des tatsächlichen Zustandes der politischen Parteien, angesichts des Mangels politischer Interessen und Be¬ geisterung, die Verhältniswahl nur dann praktisch und gerecht einrichten könnte, wenn man sich entschlösse, auf die Grundsätze des Freiherrn von Stein, also auf die ständische Grundlage der Volksvertretung zurückzugreifen, — natür¬ lich habe ich dabei nicht die alten Stände im Auge, sondern denke an die modernen Gebilde, die unter dem Schutz der Reichsverfassung als Vereine und Verbände entstehen konnten. Viel Befremden und Enttäuschung und in den zunächst beteiligten deutschen Kreisen der Ostmark Entmutigung haben die Vorgänge gezeitigt, die als ein neuer Kurs in der Polenfragc gedeutet werden. Nachdem Herr von Waldow die Oberpräsidentschaft von Posen mit der von Stettin vertauschte und Herr Schwartzkopff in Posen eingezogen ist, verließ vor einigen Monaten auch der bewährte Präsident der Ansiedlungskommission Dr. Gramsch seinen Posten. Kenner der inneren Vorgänge versichern. Gramsch sei zurückgetreten, weil die vom ostelbischen Großgrundbesitz eingeschüchterte Negierung seine Siedlungstätigkeit hinderte. Der Leser findet Näheres darüber in Heft 34 Seite 355 und Heft 37 Seite484 dieses Jahres. Nun ist der Posten seither unbesetzt geblieben, weil sich kaum ein tüchtiger Mann finden dürfte, der seine Stellung an der Spitze der Ansiedlungs¬ kommission lediglich als Sinekure aufzufassen gewillt wäre. Schließlich wurden bei dem jüngsten Aufenthalt des Kaisers in Posen eine Reihe von polnischen Herren zur kaiser¬ lichen Tafel herangezogen und ihm vorgestellt. So scheinen wir denn wieder einmal in eine Zeit rückläufiger Entwicklung hineinzusteuern, in eine Periode, die wieder auflösen soll, was die vorangegangene mühsam zusammengefügt hat. In früheren Zeiten, z. B. bei jenem Intermezzo, das sich an den Namen des Herrn von Koscielski (Admiralski) knüpft, konnte man bei dem Einlenken in einen versöhn¬ lichen Kurs noch einen Zweck erkennen. Der Kaiser wollte die Flotte bauen; bei dem Stimmverhältnis im Reichstage brauchte er die Polenfraktion dazu; er glaubte sie billiger, wie durch Liebenswürdigkeiten, nicht gewinnen zu können, wobei freilich übersehen wurde, daß wichtige nationale Werte, die vorläufig nicht in sichtbaren Gewinnen zutage treten können, gefährdet wurden. Die da¬ malige Annäherung hatte aber doch einen Sinn. Was aber steht uns jetzt bevor? Welche Nebenzwecke werden gegenwärtig verfolgt? Nirgends in der inneren Politik erkennen wir ein Gebiet, auf dem die Mitwirkung der Polen notwendig wäre. Wollen sie am Staats- und Reichswagen mitziehen, so hindert sie niemand daran, wollen sie nebenher laufen, so wird auch Liebenswürdigkeit

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/102>, abgerufen am 23.07.2024.