Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Zur Geschichte der modernen Arbeiterbewegung

Die unabhängigen anarchistischen Gewerkschaften Italiens haben eine gewisse
Zentralisation in dem auf dem Kongreß zu Mailand am 1. November 1902
gegründeten Zentralkomitee "Sekretariat") clella rssistsnzn". Der Zweck dieses
Zentralkomitees sollte sein: die Einwirkung auf die Bildung neuer Fachverbände,
die Regelung der Initiative in Angelegenheiten von nationaler oder inter¬
nationaler gewerkschaftlicher Bedeutung, die Übermittlung der Reformforderungen
der Arbeiterklasse an die Vertreter des Proletariats in den Ortsvertretungen,
der Ausgleich von Konflikten, welche zwischen einzelnen Verbänden oder zwischen
der Gesamtheit der Verbände und den Arbeitskammern entstehen können, die
Einberufung nationaler Gewerkschaftskongresse, die Vertretung der Arbeiter¬
organisationen Italiens beim internationalen Arbeitsamt und die Aufstellung
gewerkschastlicher Statistik.

Eine weitere Zentralisation der Arbeitervereinigungen Italiens bilden
die den französischen Kourses ein travail nachgebildeten Arbeitskammern
(Lamere ack lavoro).

Da die große Mehrheit der Arbeitervereinigungen Italiens, sowie der
anarchistischen Organisationen überhaupt, den Charakter von Widerstandsoer-
einigungen, die für gewöhnlich alle Unterstützungen bei Krankheiten, Todes¬
fällen usw. ausschließen, tragen, sind eine ganze Anzahl der organisierten Ar¬
beiter Mitglieder der Unterstützungs- oder sogenannter Gegenseitigkeitsvereine,
deren Entstehung derjenigen der Widerstandsvereinigungen vorangegangen ist.
Nach den vorliegenden Berichten sollen diese zahlreichen Vereinigungen über
bedeutende Mittel verfügen und 767 von ihnen zu einem Landesverbände der
"t^eäera-lone äella Societa al IVlutua SvLLorso" (Verband der Vereinigungen
zur gegenseitigen Hilfe) zusammengeschlossen sein. Eine der stärksten unab¬
hängigen Organisationen Italiens ist der "Zentralverband der Bauarbeiter
Italiens", dessen Mitgliederzahl von 26653 im Jahre 1906 auf 50000 im
Jahre 1910 gestiegen ist.

Die Gewerkschaftsorganisationen Spaniens tragen wie diejenigen Italiens
fast durchweg den Charakter von Widerstandsvereinigungen. Bemerkt sei hier
gleich noch, daß, gleichwie in Frankreich, die fortwährenden politischen Unruhen
die spanische Arbeiterbewegung von jeher stark beeinflußt haben. Trotz der
Rückständigkeit aller öffentlichen Einrichtungen und der niedrigen Bildung der
großen Masse der Bevölkerung -- nur ungefähr ein Drittel der Erwachsenen
kann lesen und schreiben -- ist Spanien seit langer Zeit das unruhigste Land
Europas. Spanien ist außer Frankreich das einzige Land, in welchem die
Anarchisten in größerer Zahl und in gefestigten Gruppen anzutreffen sind und
dort macht sich auch ganz naturgemäß ihr Einfluß in den breiten Volksschichten
ziemlich stark bemerkbar. Kein Wunder ist es daher, wenn der Anarchismus
in der spanischen Arbeiterbewegung vorherrscht.

Auch hier in der Arbeiterbewegung Spaniens findet man ein stark aus¬
geprägtes Genossenschaftswesen. So wurden im Jahre 1906 allein schon


Zur Geschichte der modernen Arbeiterbewegung

Die unabhängigen anarchistischen Gewerkschaften Italiens haben eine gewisse
Zentralisation in dem auf dem Kongreß zu Mailand am 1. November 1902
gegründeten Zentralkomitee „Sekretariat«) clella rssistsnzn". Der Zweck dieses
Zentralkomitees sollte sein: die Einwirkung auf die Bildung neuer Fachverbände,
die Regelung der Initiative in Angelegenheiten von nationaler oder inter¬
nationaler gewerkschaftlicher Bedeutung, die Übermittlung der Reformforderungen
der Arbeiterklasse an die Vertreter des Proletariats in den Ortsvertretungen,
der Ausgleich von Konflikten, welche zwischen einzelnen Verbänden oder zwischen
der Gesamtheit der Verbände und den Arbeitskammern entstehen können, die
Einberufung nationaler Gewerkschaftskongresse, die Vertretung der Arbeiter¬
organisationen Italiens beim internationalen Arbeitsamt und die Aufstellung
gewerkschastlicher Statistik.

Eine weitere Zentralisation der Arbeitervereinigungen Italiens bilden
die den französischen Kourses ein travail nachgebildeten Arbeitskammern
(Lamere ack lavoro).

Da die große Mehrheit der Arbeitervereinigungen Italiens, sowie der
anarchistischen Organisationen überhaupt, den Charakter von Widerstandsoer-
einigungen, die für gewöhnlich alle Unterstützungen bei Krankheiten, Todes¬
fällen usw. ausschließen, tragen, sind eine ganze Anzahl der organisierten Ar¬
beiter Mitglieder der Unterstützungs- oder sogenannter Gegenseitigkeitsvereine,
deren Entstehung derjenigen der Widerstandsvereinigungen vorangegangen ist.
Nach den vorliegenden Berichten sollen diese zahlreichen Vereinigungen über
bedeutende Mittel verfügen und 767 von ihnen zu einem Landesverbände der
„t^eäera-lone äella Societa al IVlutua SvLLorso" (Verband der Vereinigungen
zur gegenseitigen Hilfe) zusammengeschlossen sein. Eine der stärksten unab¬
hängigen Organisationen Italiens ist der „Zentralverband der Bauarbeiter
Italiens", dessen Mitgliederzahl von 26653 im Jahre 1906 auf 50000 im
Jahre 1910 gestiegen ist.

Die Gewerkschaftsorganisationen Spaniens tragen wie diejenigen Italiens
fast durchweg den Charakter von Widerstandsvereinigungen. Bemerkt sei hier
gleich noch, daß, gleichwie in Frankreich, die fortwährenden politischen Unruhen
die spanische Arbeiterbewegung von jeher stark beeinflußt haben. Trotz der
Rückständigkeit aller öffentlichen Einrichtungen und der niedrigen Bildung der
großen Masse der Bevölkerung — nur ungefähr ein Drittel der Erwachsenen
kann lesen und schreiben — ist Spanien seit langer Zeit das unruhigste Land
Europas. Spanien ist außer Frankreich das einzige Land, in welchem die
Anarchisten in größerer Zahl und in gefestigten Gruppen anzutreffen sind und
dort macht sich auch ganz naturgemäß ihr Einfluß in den breiten Volksschichten
ziemlich stark bemerkbar. Kein Wunder ist es daher, wenn der Anarchismus
in der spanischen Arbeiterbewegung vorherrscht.

Auch hier in der Arbeiterbewegung Spaniens findet man ein stark aus¬
geprägtes Genossenschaftswesen. So wurden im Jahre 1906 allein schon


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0076" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/326246"/>
          <fw type="header" place="top"> Zur Geschichte der modernen Arbeiterbewegung</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_308"> Die unabhängigen anarchistischen Gewerkschaften Italiens haben eine gewisse<lb/>
Zentralisation in dem auf dem Kongreß zu Mailand am 1. November 1902<lb/>
gegründeten Zentralkomitee &#x201E;Sekretariat«) clella rssistsnzn". Der Zweck dieses<lb/>
Zentralkomitees sollte sein: die Einwirkung auf die Bildung neuer Fachverbände,<lb/>
die Regelung der Initiative in Angelegenheiten von nationaler oder inter¬<lb/>
nationaler gewerkschaftlicher Bedeutung, die Übermittlung der Reformforderungen<lb/>
der Arbeiterklasse an die Vertreter des Proletariats in den Ortsvertretungen,<lb/>
der Ausgleich von Konflikten, welche zwischen einzelnen Verbänden oder zwischen<lb/>
der Gesamtheit der Verbände und den Arbeitskammern entstehen können, die<lb/>
Einberufung nationaler Gewerkschaftskongresse, die Vertretung der Arbeiter¬<lb/>
organisationen Italiens beim internationalen Arbeitsamt und die Aufstellung<lb/>
gewerkschastlicher Statistik.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_309"> Eine weitere Zentralisation der Arbeitervereinigungen Italiens bilden<lb/>
die den französischen Kourses ein travail nachgebildeten Arbeitskammern<lb/>
(Lamere ack lavoro).</p><lb/>
          <p xml:id="ID_310"> Da die große Mehrheit der Arbeitervereinigungen Italiens, sowie der<lb/>
anarchistischen Organisationen überhaupt, den Charakter von Widerstandsoer-<lb/>
einigungen, die für gewöhnlich alle Unterstützungen bei Krankheiten, Todes¬<lb/>
fällen usw. ausschließen, tragen, sind eine ganze Anzahl der organisierten Ar¬<lb/>
beiter Mitglieder der Unterstützungs- oder sogenannter Gegenseitigkeitsvereine,<lb/>
deren Entstehung derjenigen der Widerstandsvereinigungen vorangegangen ist.<lb/>
Nach den vorliegenden Berichten sollen diese zahlreichen Vereinigungen über<lb/>
bedeutende Mittel verfügen und 767 von ihnen zu einem Landesverbände der<lb/>
&#x201E;t^eäera-lone äella Societa al IVlutua SvLLorso" (Verband der Vereinigungen<lb/>
zur gegenseitigen Hilfe) zusammengeschlossen sein. Eine der stärksten unab¬<lb/>
hängigen Organisationen Italiens ist der &#x201E;Zentralverband der Bauarbeiter<lb/>
Italiens", dessen Mitgliederzahl von 26653 im Jahre 1906 auf 50000 im<lb/>
Jahre 1910 gestiegen ist.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_311"> Die Gewerkschaftsorganisationen Spaniens tragen wie diejenigen Italiens<lb/>
fast durchweg den Charakter von Widerstandsvereinigungen. Bemerkt sei hier<lb/>
gleich noch, daß, gleichwie in Frankreich, die fortwährenden politischen Unruhen<lb/>
die spanische Arbeiterbewegung von jeher stark beeinflußt haben. Trotz der<lb/>
Rückständigkeit aller öffentlichen Einrichtungen und der niedrigen Bildung der<lb/>
großen Masse der Bevölkerung &#x2014; nur ungefähr ein Drittel der Erwachsenen<lb/>
kann lesen und schreiben &#x2014; ist Spanien seit langer Zeit das unruhigste Land<lb/>
Europas. Spanien ist außer Frankreich das einzige Land, in welchem die<lb/>
Anarchisten in größerer Zahl und in gefestigten Gruppen anzutreffen sind und<lb/>
dort macht sich auch ganz naturgemäß ihr Einfluß in den breiten Volksschichten<lb/>
ziemlich stark bemerkbar. Kein Wunder ist es daher, wenn der Anarchismus<lb/>
in der spanischen Arbeiterbewegung vorherrscht.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_312" next="#ID_313"> Auch hier in der Arbeiterbewegung Spaniens findet man ein stark aus¬<lb/>
geprägtes Genossenschaftswesen.  So wurden im Jahre 1906 allein schon</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0076] Zur Geschichte der modernen Arbeiterbewegung Die unabhängigen anarchistischen Gewerkschaften Italiens haben eine gewisse Zentralisation in dem auf dem Kongreß zu Mailand am 1. November 1902 gegründeten Zentralkomitee „Sekretariat«) clella rssistsnzn". Der Zweck dieses Zentralkomitees sollte sein: die Einwirkung auf die Bildung neuer Fachverbände, die Regelung der Initiative in Angelegenheiten von nationaler oder inter¬ nationaler gewerkschaftlicher Bedeutung, die Übermittlung der Reformforderungen der Arbeiterklasse an die Vertreter des Proletariats in den Ortsvertretungen, der Ausgleich von Konflikten, welche zwischen einzelnen Verbänden oder zwischen der Gesamtheit der Verbände und den Arbeitskammern entstehen können, die Einberufung nationaler Gewerkschaftskongresse, die Vertretung der Arbeiter¬ organisationen Italiens beim internationalen Arbeitsamt und die Aufstellung gewerkschastlicher Statistik. Eine weitere Zentralisation der Arbeitervereinigungen Italiens bilden die den französischen Kourses ein travail nachgebildeten Arbeitskammern (Lamere ack lavoro). Da die große Mehrheit der Arbeitervereinigungen Italiens, sowie der anarchistischen Organisationen überhaupt, den Charakter von Widerstandsoer- einigungen, die für gewöhnlich alle Unterstützungen bei Krankheiten, Todes¬ fällen usw. ausschließen, tragen, sind eine ganze Anzahl der organisierten Ar¬ beiter Mitglieder der Unterstützungs- oder sogenannter Gegenseitigkeitsvereine, deren Entstehung derjenigen der Widerstandsvereinigungen vorangegangen ist. Nach den vorliegenden Berichten sollen diese zahlreichen Vereinigungen über bedeutende Mittel verfügen und 767 von ihnen zu einem Landesverbände der „t^eäera-lone äella Societa al IVlutua SvLLorso" (Verband der Vereinigungen zur gegenseitigen Hilfe) zusammengeschlossen sein. Eine der stärksten unab¬ hängigen Organisationen Italiens ist der „Zentralverband der Bauarbeiter Italiens", dessen Mitgliederzahl von 26653 im Jahre 1906 auf 50000 im Jahre 1910 gestiegen ist. Die Gewerkschaftsorganisationen Spaniens tragen wie diejenigen Italiens fast durchweg den Charakter von Widerstandsvereinigungen. Bemerkt sei hier gleich noch, daß, gleichwie in Frankreich, die fortwährenden politischen Unruhen die spanische Arbeiterbewegung von jeher stark beeinflußt haben. Trotz der Rückständigkeit aller öffentlichen Einrichtungen und der niedrigen Bildung der großen Masse der Bevölkerung — nur ungefähr ein Drittel der Erwachsenen kann lesen und schreiben — ist Spanien seit langer Zeit das unruhigste Land Europas. Spanien ist außer Frankreich das einzige Land, in welchem die Anarchisten in größerer Zahl und in gefestigten Gruppen anzutreffen sind und dort macht sich auch ganz naturgemäß ihr Einfluß in den breiten Volksschichten ziemlich stark bemerkbar. Kein Wunder ist es daher, wenn der Anarchismus in der spanischen Arbeiterbewegung vorherrscht. Auch hier in der Arbeiterbewegung Spaniens findet man ein stark aus¬ geprägtes Genossenschaftswesen. So wurden im Jahre 1906 allein schon

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/76
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/76>, abgerufen am 19.10.2024.