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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

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Neuere Goethe-Literatur

Äußerungen umfassend, stellt er nun die Widersprüche gegeneinander. Er zeigt
uns, daß eine Persönlichkeit von Goethes Differenzierung und Gefügtheit
dieselben logisch -> inhaltlich unmöglich nebeneinander bestehen lassen kann.
Statt nun zwischen Plus und Minus zu wählen, begreifen wir aus der Geistes¬
beschaffenheit Goethes die Notwendigkeit dieser Polarität. Wir begreifen, wie
ihm die Wahl zwischen entgegengesetzten Gedankeninhalten monstruös erschien,
wie ihn daran ein im Innersten wohnender Horror gehindert, weil es ihm
nicht auf den einseitig dogmatisch-logischen Inhalt des Gedankens (noch weniger
selbstredend auf eine inhaltlose Sophistik) ankam, sondern auf den Prozeß des
geistigen Lebens, auf das Denken, das um so intensiver ward, je entfernter die
Polaritäten voneinander lagen und je genauer sie bei der größtmöglichen Ent¬
fernung bestimmt waren. Im Goethescher Denken lag eben nicht die Tendenz
des sich Festlegens auf Plus oder Minus, sondern das Bestreben nach einem
Optimum der Schwingung zwischen den beiden. Das Antithetische des Goethescher
Denkens wird uns Schritt für Schritt klar, das gar keine logische Synthese,
sondern bloß höchst-möglicheJntensttät in derStatik ihres Bewegtseins erstrebt. Stets
sind beide Pole eingeschlossen. Nicht Gegensätzliches bringt sein Geist von Fall
zu Fall hervor, sondern er bewahrt sich in der Einheit seiner Gegensätzlichkeit
bloß jene wunderbare Freiheit der Akzentverschiebung, die den einzelnen Äußerungen
losgelöst vom Zusammenhang allerdings den Schein unpersönlichen Widerspruchs
verleiht. An diesem farbigen Abglanz von Goethes Jnnensein haben wir die
Beschaffenheit seines geistigen Lebens an sich.

Man wird vielleicht einwenden, daß das nichts Neues sei. Zugegeben.
Daß Goethes Werke von größter Realistik und doch von strengster Stilisiertheit
sind, daß Freiheit mit Gebundenheit sich bei ihm eint, daß er selbst der Treueste
und Treuloseste, der Kälteste und Glühendste war, wissen wir längst. Wie konnte
er denn anders sein als sein Denken? So hat Simmel nur wiederholt, was
andere vor ihm wußten? Mit Nichten. Wer je wissenschaftlich gearbeitet hat,
weiß, wie weit und schwer der Weg, von geistvoller Formulierung, vom ge¬
lungenen Paradoxon, von der treffenden Beobachtung zum allseitig ausgestalteten,
durchgeführten und dargestellten System ist. Was bisher als Aphorismus oder
Beobachtung über die Polarität des Goethescher Denkens vorlag, das -- und
weit mehr -- hat Simmel zur begrifflichen Darstellung hinausgebaut, und er
tat das unter dem neuen Gesichtspunkt der Gleichwertigkeit Goethescher Äußerungen.
Vielleicht ist seine Art, die Diskrepanz der Goethescher Gedanken zu erfassen,
nicht die einzig mögliche. "Die inhaltlichen und fragmentarischen Bestimmungen mögen
von anderen anders gefaßt werden." (S. VI.) Das ist nicht entscheidend. Aber
diese seine Erkenntnis ist es: "Die fließende Einheit des Goethescher Lebens ist
nicht in die logische Einheit irgendwelcher Inhalte zu bannen. Darum kann man
eine Auffassung dieses Lebens nicht aus Zitaten beweisen." (VII.) Dieses vor¬
ausgeschickte Endergebnis des Simmelschen Buches, das seinen methodischen
Grundsatz enthält, hat uns ein einheitliches Begreifen des Geistesphänomens


Neuere Goethe-Literatur

Äußerungen umfassend, stellt er nun die Widersprüche gegeneinander. Er zeigt
uns, daß eine Persönlichkeit von Goethes Differenzierung und Gefügtheit
dieselben logisch -> inhaltlich unmöglich nebeneinander bestehen lassen kann.
Statt nun zwischen Plus und Minus zu wählen, begreifen wir aus der Geistes¬
beschaffenheit Goethes die Notwendigkeit dieser Polarität. Wir begreifen, wie
ihm die Wahl zwischen entgegengesetzten Gedankeninhalten monstruös erschien,
wie ihn daran ein im Innersten wohnender Horror gehindert, weil es ihm
nicht auf den einseitig dogmatisch-logischen Inhalt des Gedankens (noch weniger
selbstredend auf eine inhaltlose Sophistik) ankam, sondern auf den Prozeß des
geistigen Lebens, auf das Denken, das um so intensiver ward, je entfernter die
Polaritäten voneinander lagen und je genauer sie bei der größtmöglichen Ent¬
fernung bestimmt waren. Im Goethescher Denken lag eben nicht die Tendenz
des sich Festlegens auf Plus oder Minus, sondern das Bestreben nach einem
Optimum der Schwingung zwischen den beiden. Das Antithetische des Goethescher
Denkens wird uns Schritt für Schritt klar, das gar keine logische Synthese,
sondern bloß höchst-möglicheJntensttät in derStatik ihres Bewegtseins erstrebt. Stets
sind beide Pole eingeschlossen. Nicht Gegensätzliches bringt sein Geist von Fall
zu Fall hervor, sondern er bewahrt sich in der Einheit seiner Gegensätzlichkeit
bloß jene wunderbare Freiheit der Akzentverschiebung, die den einzelnen Äußerungen
losgelöst vom Zusammenhang allerdings den Schein unpersönlichen Widerspruchs
verleiht. An diesem farbigen Abglanz von Goethes Jnnensein haben wir die
Beschaffenheit seines geistigen Lebens an sich.

Man wird vielleicht einwenden, daß das nichts Neues sei. Zugegeben.
Daß Goethes Werke von größter Realistik und doch von strengster Stilisiertheit
sind, daß Freiheit mit Gebundenheit sich bei ihm eint, daß er selbst der Treueste
und Treuloseste, der Kälteste und Glühendste war, wissen wir längst. Wie konnte
er denn anders sein als sein Denken? So hat Simmel nur wiederholt, was
andere vor ihm wußten? Mit Nichten. Wer je wissenschaftlich gearbeitet hat,
weiß, wie weit und schwer der Weg, von geistvoller Formulierung, vom ge¬
lungenen Paradoxon, von der treffenden Beobachtung zum allseitig ausgestalteten,
durchgeführten und dargestellten System ist. Was bisher als Aphorismus oder
Beobachtung über die Polarität des Goethescher Denkens vorlag, das — und
weit mehr — hat Simmel zur begrifflichen Darstellung hinausgebaut, und er
tat das unter dem neuen Gesichtspunkt der Gleichwertigkeit Goethescher Äußerungen.
Vielleicht ist seine Art, die Diskrepanz der Goethescher Gedanken zu erfassen,
nicht die einzig mögliche. „Die inhaltlichen und fragmentarischen Bestimmungen mögen
von anderen anders gefaßt werden." (S. VI.) Das ist nicht entscheidend. Aber
diese seine Erkenntnis ist es: „Die fließende Einheit des Goethescher Lebens ist
nicht in die logische Einheit irgendwelcher Inhalte zu bannen. Darum kann man
eine Auffassung dieses Lebens nicht aus Zitaten beweisen." (VII.) Dieses vor¬
ausgeschickte Endergebnis des Simmelschen Buches, das seinen methodischen
Grundsatz enthält, hat uns ein einheitliches Begreifen des Geistesphänomens


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[0618] Neuere Goethe-Literatur Äußerungen umfassend, stellt er nun die Widersprüche gegeneinander. Er zeigt uns, daß eine Persönlichkeit von Goethes Differenzierung und Gefügtheit dieselben logisch -> inhaltlich unmöglich nebeneinander bestehen lassen kann. Statt nun zwischen Plus und Minus zu wählen, begreifen wir aus der Geistes¬ beschaffenheit Goethes die Notwendigkeit dieser Polarität. Wir begreifen, wie ihm die Wahl zwischen entgegengesetzten Gedankeninhalten monstruös erschien, wie ihn daran ein im Innersten wohnender Horror gehindert, weil es ihm nicht auf den einseitig dogmatisch-logischen Inhalt des Gedankens (noch weniger selbstredend auf eine inhaltlose Sophistik) ankam, sondern auf den Prozeß des geistigen Lebens, auf das Denken, das um so intensiver ward, je entfernter die Polaritäten voneinander lagen und je genauer sie bei der größtmöglichen Ent¬ fernung bestimmt waren. Im Goethescher Denken lag eben nicht die Tendenz des sich Festlegens auf Plus oder Minus, sondern das Bestreben nach einem Optimum der Schwingung zwischen den beiden. Das Antithetische des Goethescher Denkens wird uns Schritt für Schritt klar, das gar keine logische Synthese, sondern bloß höchst-möglicheJntensttät in derStatik ihres Bewegtseins erstrebt. Stets sind beide Pole eingeschlossen. Nicht Gegensätzliches bringt sein Geist von Fall zu Fall hervor, sondern er bewahrt sich in der Einheit seiner Gegensätzlichkeit bloß jene wunderbare Freiheit der Akzentverschiebung, die den einzelnen Äußerungen losgelöst vom Zusammenhang allerdings den Schein unpersönlichen Widerspruchs verleiht. An diesem farbigen Abglanz von Goethes Jnnensein haben wir die Beschaffenheit seines geistigen Lebens an sich. Man wird vielleicht einwenden, daß das nichts Neues sei. Zugegeben. Daß Goethes Werke von größter Realistik und doch von strengster Stilisiertheit sind, daß Freiheit mit Gebundenheit sich bei ihm eint, daß er selbst der Treueste und Treuloseste, der Kälteste und Glühendste war, wissen wir längst. Wie konnte er denn anders sein als sein Denken? So hat Simmel nur wiederholt, was andere vor ihm wußten? Mit Nichten. Wer je wissenschaftlich gearbeitet hat, weiß, wie weit und schwer der Weg, von geistvoller Formulierung, vom ge¬ lungenen Paradoxon, von der treffenden Beobachtung zum allseitig ausgestalteten, durchgeführten und dargestellten System ist. Was bisher als Aphorismus oder Beobachtung über die Polarität des Goethescher Denkens vorlag, das — und weit mehr — hat Simmel zur begrifflichen Darstellung hinausgebaut, und er tat das unter dem neuen Gesichtspunkt der Gleichwertigkeit Goethescher Äußerungen. Vielleicht ist seine Art, die Diskrepanz der Goethescher Gedanken zu erfassen, nicht die einzig mögliche. „Die inhaltlichen und fragmentarischen Bestimmungen mögen von anderen anders gefaßt werden." (S. VI.) Das ist nicht entscheidend. Aber diese seine Erkenntnis ist es: „Die fließende Einheit des Goethescher Lebens ist nicht in die logische Einheit irgendwelcher Inhalte zu bannen. Darum kann man eine Auffassung dieses Lebens nicht aus Zitaten beweisen." (VII.) Dieses vor¬ ausgeschickte Endergebnis des Simmelschen Buches, das seinen methodischen Grundsatz enthält, hat uns ein einheitliches Begreifen des Geistesphänomens

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/618>, abgerufen am 19.10.2024.