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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

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Neuere Goethe-Literatur

Goethe gegenüber. Nur von diesem Gesichtspunkt aus kann man zu Simmel
Stellung gewinnen; als solches ist alles von letzter Durchbildung und strenger,
fruchtbarer Folgerichtigkeit. Überstofflichkeit ist nicht nur Methode und Inhalt,
sondern auch das Ziel. Es gilt für den Verfasser das Prinzip der gesamten
poetisch-historischen Erscheinung Goethe begrifflich zu erfassen, zu handhaben.
Unverrückbar ist dieses Ziel im Auge behalten und schließlich staunen wir nur
über die unbedingte Zuverläßlichkeit dieser Objektivität, die Simmel der eigenen
Arbeit, dem eigenen Weg gegenüber bezeugt, indem er gleich im Vorwort der
Kritik das Treffendste was zu sagen ist vorwegnimmt: "Ich würde es für das
Gegenteil eines Vorwurfs gegen dies Buch halten, wenn man in jedem seiner
Kapitel eigentlich dasselbe wie in jedem anderen zu lesen meinte." So meint
man in der Tat. Nur muß gleich hinzugefügt werden, daß man dieses selbe,
nämlich die in der reichsten, weitesten Polarität der Erscheinung ruhende Einheit
der Goethescher Geistesbeschaffcnheit, die man bei Simmel wohl zum ersten
Male in dieser kristallharten Begrifflichkeit gestaltet erblickt, wohl gerne in weiteren
fünf oder zehn Kapiteln von einer stets neuen Seite her sich vordemonstrieren
ließe -- trotz aller Schwierigkeit der Simmelschen Sprachbehandlung. Simmels
Methode, die aus der philosophischen Eigenheit des Falles Goethe organisch
hervorwächst, besteht, wie erwähnt, in einer eigenen Überstofflichkeit. Es gelingt
ihm zu allen Lebens- und Gedankenäußerungen Goethes eine von ihren In¬
halten bemerkenswert unabhängige Stellung von der rein formalen Seite her
einzunehmen. Bekanntlich sind in Goethes Werken, Briefen und Tagebüchern
Belegstellen für die widerspruchsvollsten Meinungen zu finden. Verfasser ab¬
strahierender, verallgemeinerter Goethe-Werke, die Goethes Weltanschauung,
seine Geschichts- oder Religionsphilosophie, seine Ästhetik fassen und in System
bringen wollten, hatten mit dieser Tatsache ihre liebe Not und wir, die wir
dann der Herren eigenen Geist, statt den von Goethe verzapft bekamen, erst recht.
Es ging ihnen und uns wie dem Oberondichter Wieland, der acht Wochen nach
Goethes Erscheinen in Weimar von ihm schrieb:


"Und wenn wir dachten, wir Hütten's gefunden,
Und was er sei, nun ganz empfunden,
Wie würd' er so schnell uns wieder neu!
Entschlüpfte plötzlich dem satten Blick
Und kam in anderer Gestalt zurück.
Ließ neue Reize sich uns entfalten,
Und jede der tausendfachen Gestalten
So ungezwungen, so völlig sein,
Man müßte sie für die wahre halten!"

Nun hielt jeder den für den wahren, der ihm am meisten zusagte. Man hatte
ein System -- irgendeines -- belegte es spickedicht mit Goethezitaten, erklärte
das Widersprechende für Augenblicksstimmung, poetische Inkonsequenz, Zer¬
streutheit, gar auch philosophische Unfähigkeit des Dichters -- und so stimmte


Neuere Goethe-Literatur

Goethe gegenüber. Nur von diesem Gesichtspunkt aus kann man zu Simmel
Stellung gewinnen; als solches ist alles von letzter Durchbildung und strenger,
fruchtbarer Folgerichtigkeit. Überstofflichkeit ist nicht nur Methode und Inhalt,
sondern auch das Ziel. Es gilt für den Verfasser das Prinzip der gesamten
poetisch-historischen Erscheinung Goethe begrifflich zu erfassen, zu handhaben.
Unverrückbar ist dieses Ziel im Auge behalten und schließlich staunen wir nur
über die unbedingte Zuverläßlichkeit dieser Objektivität, die Simmel der eigenen
Arbeit, dem eigenen Weg gegenüber bezeugt, indem er gleich im Vorwort der
Kritik das Treffendste was zu sagen ist vorwegnimmt: „Ich würde es für das
Gegenteil eines Vorwurfs gegen dies Buch halten, wenn man in jedem seiner
Kapitel eigentlich dasselbe wie in jedem anderen zu lesen meinte." So meint
man in der Tat. Nur muß gleich hinzugefügt werden, daß man dieses selbe,
nämlich die in der reichsten, weitesten Polarität der Erscheinung ruhende Einheit
der Goethescher Geistesbeschaffcnheit, die man bei Simmel wohl zum ersten
Male in dieser kristallharten Begrifflichkeit gestaltet erblickt, wohl gerne in weiteren
fünf oder zehn Kapiteln von einer stets neuen Seite her sich vordemonstrieren
ließe — trotz aller Schwierigkeit der Simmelschen Sprachbehandlung. Simmels
Methode, die aus der philosophischen Eigenheit des Falles Goethe organisch
hervorwächst, besteht, wie erwähnt, in einer eigenen Überstofflichkeit. Es gelingt
ihm zu allen Lebens- und Gedankenäußerungen Goethes eine von ihren In¬
halten bemerkenswert unabhängige Stellung von der rein formalen Seite her
einzunehmen. Bekanntlich sind in Goethes Werken, Briefen und Tagebüchern
Belegstellen für die widerspruchsvollsten Meinungen zu finden. Verfasser ab¬
strahierender, verallgemeinerter Goethe-Werke, die Goethes Weltanschauung,
seine Geschichts- oder Religionsphilosophie, seine Ästhetik fassen und in System
bringen wollten, hatten mit dieser Tatsache ihre liebe Not und wir, die wir
dann der Herren eigenen Geist, statt den von Goethe verzapft bekamen, erst recht.
Es ging ihnen und uns wie dem Oberondichter Wieland, der acht Wochen nach
Goethes Erscheinen in Weimar von ihm schrieb:


„Und wenn wir dachten, wir Hütten's gefunden,
Und was er sei, nun ganz empfunden,
Wie würd' er so schnell uns wieder neu!
Entschlüpfte plötzlich dem satten Blick
Und kam in anderer Gestalt zurück.
Ließ neue Reize sich uns entfalten,
Und jede der tausendfachen Gestalten
So ungezwungen, so völlig sein,
Man müßte sie für die wahre halten!"

Nun hielt jeder den für den wahren, der ihm am meisten zusagte. Man hatte
ein System — irgendeines — belegte es spickedicht mit Goethezitaten, erklärte
das Widersprechende für Augenblicksstimmung, poetische Inkonsequenz, Zer¬
streutheit, gar auch philosophische Unfähigkeit des Dichters — und so stimmte


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[0616] Neuere Goethe-Literatur Goethe gegenüber. Nur von diesem Gesichtspunkt aus kann man zu Simmel Stellung gewinnen; als solches ist alles von letzter Durchbildung und strenger, fruchtbarer Folgerichtigkeit. Überstofflichkeit ist nicht nur Methode und Inhalt, sondern auch das Ziel. Es gilt für den Verfasser das Prinzip der gesamten poetisch-historischen Erscheinung Goethe begrifflich zu erfassen, zu handhaben. Unverrückbar ist dieses Ziel im Auge behalten und schließlich staunen wir nur über die unbedingte Zuverläßlichkeit dieser Objektivität, die Simmel der eigenen Arbeit, dem eigenen Weg gegenüber bezeugt, indem er gleich im Vorwort der Kritik das Treffendste was zu sagen ist vorwegnimmt: „Ich würde es für das Gegenteil eines Vorwurfs gegen dies Buch halten, wenn man in jedem seiner Kapitel eigentlich dasselbe wie in jedem anderen zu lesen meinte." So meint man in der Tat. Nur muß gleich hinzugefügt werden, daß man dieses selbe, nämlich die in der reichsten, weitesten Polarität der Erscheinung ruhende Einheit der Goethescher Geistesbeschaffcnheit, die man bei Simmel wohl zum ersten Male in dieser kristallharten Begrifflichkeit gestaltet erblickt, wohl gerne in weiteren fünf oder zehn Kapiteln von einer stets neuen Seite her sich vordemonstrieren ließe — trotz aller Schwierigkeit der Simmelschen Sprachbehandlung. Simmels Methode, die aus der philosophischen Eigenheit des Falles Goethe organisch hervorwächst, besteht, wie erwähnt, in einer eigenen Überstofflichkeit. Es gelingt ihm zu allen Lebens- und Gedankenäußerungen Goethes eine von ihren In¬ halten bemerkenswert unabhängige Stellung von der rein formalen Seite her einzunehmen. Bekanntlich sind in Goethes Werken, Briefen und Tagebüchern Belegstellen für die widerspruchsvollsten Meinungen zu finden. Verfasser ab¬ strahierender, verallgemeinerter Goethe-Werke, die Goethes Weltanschauung, seine Geschichts- oder Religionsphilosophie, seine Ästhetik fassen und in System bringen wollten, hatten mit dieser Tatsache ihre liebe Not und wir, die wir dann der Herren eigenen Geist, statt den von Goethe verzapft bekamen, erst recht. Es ging ihnen und uns wie dem Oberondichter Wieland, der acht Wochen nach Goethes Erscheinen in Weimar von ihm schrieb: „Und wenn wir dachten, wir Hütten's gefunden, Und was er sei, nun ganz empfunden, Wie würd' er so schnell uns wieder neu! Entschlüpfte plötzlich dem satten Blick Und kam in anderer Gestalt zurück. Ließ neue Reize sich uns entfalten, Und jede der tausendfachen Gestalten So ungezwungen, so völlig sein, Man müßte sie für die wahre halten!" Nun hielt jeder den für den wahren, der ihm am meisten zusagte. Man hatte ein System — irgendeines — belegte es spickedicht mit Goethezitaten, erklärte das Widersprechende für Augenblicksstimmung, poetische Inkonsequenz, Zer¬ streutheit, gar auch philosophische Unfähigkeit des Dichters — und so stimmte

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/616>, abgerufen am 27.12.2024.