Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die volkswirtschaftliche Entwicklung Bulgariens

eine Gesellschaft mit einem Anlagekapital von'1500000 Franken, die sich lebhast
betätigt. Außer den Minen sind reichlich Marmor, Granit, Ton und Lithographen¬
stein vorhanden. Bemerkenswert sind hier noch die heißen Quellen Bulgariens,
von denen das Land mehr als zweihundert besitzt. Der heißeste Sprudel kommt
mit einer Temperatur von 83 Grad aus der Erde. Der Bezirk Stara Zagora
hat sehr viele heiße Quellen auszuweisen, deren bedeutendste in ihrem Mineral¬
gehalt den berühmten Karlsbader Sprudeln fast gleichkommt. Auch Sofia besitzt
sehr gute heiße Quellen; die Sofioter Stadtgemeinde hat im Jahre 1907
den Bau öffentlicher Bäder mit einem Kostenaufwand von 1500000 Franken
unternommen und im Jahre 1910 durch den Bau eines weiteren Bades den
Anforderungen der Neuzeit Rechnung getragen.

Das wirtschaftliche Fortkommen Bulgariens hängt also, wie wir gesehen
haben, in erster Linie von seiner Agrarpolitik ab, die die anderen volkswirt¬
schaftlichen Faktoren stark beeinflußt. Trotz des Charakters Bulgariens als Agrar-
staat hat sich aus kleinen Anfängen heraus im Lande eine Industrie gebildet,
welche langsam aber sicher vorwärts schreitet. Früher war außer der Landwirt¬
schaft das Handwerk die einzige Erwerbsquelle der Bulgaren; die ausbeutende
Verwaltung, wie überhaupt die rechtliche Unsicherheit und die geringe Ent¬
wicklung des Geld- und Kreditwesens ließen alle Versuche einer industriellen
Betätigung fehlschlagen. So war damals nur das Handwerk und die gewerbliche
Tätigkeit verbreitet. Auch in Bulgarien hatte das Zunftwesen schon Eingang
gefunden und jedes Handwerk wurde durch eine Zunft vertreten. Wie in
allen europäischen Staaten, nahm auch in Bulgarien das Handwerk all¬
mählich ab. Die neue Verfassung hatte den ausländischen Produkten Tür
und Tor geöffnet, und die heimische Industrie, die i:och mit recht primitiven
Mitteln arbeitete, war diesem Kampf nicht gewachsen. Das letztere traf nicht
auf alle Handwerke zu, die Schuhmacherei, Schneiderei usw. erwiesen sich als
existenzfähig, da die Bulgaren meist Nationalkostüme tragen. Die Regierung
hätte gern das Handwerk unterstützt, war aber an die Artikel des Berliner Ver¬
trages gebunden, die eine Erhöhung der Einfuhrzölle nicht gestatteten. So ging
das Handwerk in einzelnen Zweigen völlig unter, in anderen Branchen eignete
es sich moderne Arbeitsmethoden an, die es im Kampf mit dem Ausland kon¬
kurrenzfähiger machten. Dies gilt vor allem von der Textilindustrie.

Die Weberei wurde schon seit alten Zeiten als Hausindustrie betrieben.
Die Wolle wurde in primitiver Weise zu Stoffen, Teppichen und Spitzengeweben
verarbeitet, die wegen ihrer Haltbarkeit beliebt waren und besonders in der
Türkei guten Absatz fanden. Infolge des Gedeihens dieses Produktionszweiges
entschlossen sich im Jahre 1880 einige Unternehmer, modern eingerichtete Web¬
stätten einzurichten, und heute befinden sich große Textilfabriken im Lande, so
daß Bulgarien in dieser Branche auf dem Balkan die erste Stelle einnimmt.
Die günstige Beschaffenheit des Landes für die Schafzucht kommt diesem Industrie¬
zweig sehr zu statten, jedoch wird auch ausländische Wolle verarbeitet. Der


Die volkswirtschaftliche Entwicklung Bulgariens

eine Gesellschaft mit einem Anlagekapital von'1500000 Franken, die sich lebhast
betätigt. Außer den Minen sind reichlich Marmor, Granit, Ton und Lithographen¬
stein vorhanden. Bemerkenswert sind hier noch die heißen Quellen Bulgariens,
von denen das Land mehr als zweihundert besitzt. Der heißeste Sprudel kommt
mit einer Temperatur von 83 Grad aus der Erde. Der Bezirk Stara Zagora
hat sehr viele heiße Quellen auszuweisen, deren bedeutendste in ihrem Mineral¬
gehalt den berühmten Karlsbader Sprudeln fast gleichkommt. Auch Sofia besitzt
sehr gute heiße Quellen; die Sofioter Stadtgemeinde hat im Jahre 1907
den Bau öffentlicher Bäder mit einem Kostenaufwand von 1500000 Franken
unternommen und im Jahre 1910 durch den Bau eines weiteren Bades den
Anforderungen der Neuzeit Rechnung getragen.

Das wirtschaftliche Fortkommen Bulgariens hängt also, wie wir gesehen
haben, in erster Linie von seiner Agrarpolitik ab, die die anderen volkswirt¬
schaftlichen Faktoren stark beeinflußt. Trotz des Charakters Bulgariens als Agrar-
staat hat sich aus kleinen Anfängen heraus im Lande eine Industrie gebildet,
welche langsam aber sicher vorwärts schreitet. Früher war außer der Landwirt¬
schaft das Handwerk die einzige Erwerbsquelle der Bulgaren; die ausbeutende
Verwaltung, wie überhaupt die rechtliche Unsicherheit und die geringe Ent¬
wicklung des Geld- und Kreditwesens ließen alle Versuche einer industriellen
Betätigung fehlschlagen. So war damals nur das Handwerk und die gewerbliche
Tätigkeit verbreitet. Auch in Bulgarien hatte das Zunftwesen schon Eingang
gefunden und jedes Handwerk wurde durch eine Zunft vertreten. Wie in
allen europäischen Staaten, nahm auch in Bulgarien das Handwerk all¬
mählich ab. Die neue Verfassung hatte den ausländischen Produkten Tür
und Tor geöffnet, und die heimische Industrie, die i:och mit recht primitiven
Mitteln arbeitete, war diesem Kampf nicht gewachsen. Das letztere traf nicht
auf alle Handwerke zu, die Schuhmacherei, Schneiderei usw. erwiesen sich als
existenzfähig, da die Bulgaren meist Nationalkostüme tragen. Die Regierung
hätte gern das Handwerk unterstützt, war aber an die Artikel des Berliner Ver¬
trages gebunden, die eine Erhöhung der Einfuhrzölle nicht gestatteten. So ging
das Handwerk in einzelnen Zweigen völlig unter, in anderen Branchen eignete
es sich moderne Arbeitsmethoden an, die es im Kampf mit dem Ausland kon¬
kurrenzfähiger machten. Dies gilt vor allem von der Textilindustrie.

Die Weberei wurde schon seit alten Zeiten als Hausindustrie betrieben.
Die Wolle wurde in primitiver Weise zu Stoffen, Teppichen und Spitzengeweben
verarbeitet, die wegen ihrer Haltbarkeit beliebt waren und besonders in der
Türkei guten Absatz fanden. Infolge des Gedeihens dieses Produktionszweiges
entschlossen sich im Jahre 1880 einige Unternehmer, modern eingerichtete Web¬
stätten einzurichten, und heute befinden sich große Textilfabriken im Lande, so
daß Bulgarien in dieser Branche auf dem Balkan die erste Stelle einnimmt.
Die günstige Beschaffenheit des Landes für die Schafzucht kommt diesem Industrie¬
zweig sehr zu statten, jedoch wird auch ausländische Wolle verarbeitet. Der


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0570" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/326740"/>
          <fw type="header" place="top"> Die volkswirtschaftliche Entwicklung Bulgariens</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2739" prev="#ID_2738"> eine Gesellschaft mit einem Anlagekapital von'1500000 Franken, die sich lebhast<lb/>
betätigt. Außer den Minen sind reichlich Marmor, Granit, Ton und Lithographen¬<lb/>
stein vorhanden. Bemerkenswert sind hier noch die heißen Quellen Bulgariens,<lb/>
von denen das Land mehr als zweihundert besitzt. Der heißeste Sprudel kommt<lb/>
mit einer Temperatur von 83 Grad aus der Erde. Der Bezirk Stara Zagora<lb/>
hat sehr viele heiße Quellen auszuweisen, deren bedeutendste in ihrem Mineral¬<lb/>
gehalt den berühmten Karlsbader Sprudeln fast gleichkommt. Auch Sofia besitzt<lb/>
sehr gute heiße Quellen; die Sofioter Stadtgemeinde hat im Jahre 1907<lb/>
den Bau öffentlicher Bäder mit einem Kostenaufwand von 1500000 Franken<lb/>
unternommen und im Jahre 1910 durch den Bau eines weiteren Bades den<lb/>
Anforderungen der Neuzeit Rechnung getragen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2740"> Das wirtschaftliche Fortkommen Bulgariens hängt also, wie wir gesehen<lb/>
haben, in erster Linie von seiner Agrarpolitik ab, die die anderen volkswirt¬<lb/>
schaftlichen Faktoren stark beeinflußt. Trotz des Charakters Bulgariens als Agrar-<lb/>
staat hat sich aus kleinen Anfängen heraus im Lande eine Industrie gebildet,<lb/>
welche langsam aber sicher vorwärts schreitet. Früher war außer der Landwirt¬<lb/>
schaft das Handwerk die einzige Erwerbsquelle der Bulgaren; die ausbeutende<lb/>
Verwaltung, wie überhaupt die rechtliche Unsicherheit und die geringe Ent¬<lb/>
wicklung des Geld- und Kreditwesens ließen alle Versuche einer industriellen<lb/>
Betätigung fehlschlagen. So war damals nur das Handwerk und die gewerbliche<lb/>
Tätigkeit verbreitet. Auch in Bulgarien hatte das Zunftwesen schon Eingang<lb/>
gefunden und jedes Handwerk wurde durch eine Zunft vertreten. Wie in<lb/>
allen europäischen Staaten, nahm auch in Bulgarien das Handwerk all¬<lb/>
mählich ab. Die neue Verfassung hatte den ausländischen Produkten Tür<lb/>
und Tor geöffnet, und die heimische Industrie, die i:och mit recht primitiven<lb/>
Mitteln arbeitete, war diesem Kampf nicht gewachsen. Das letztere traf nicht<lb/>
auf alle Handwerke zu, die Schuhmacherei, Schneiderei usw. erwiesen sich als<lb/>
existenzfähig, da die Bulgaren meist Nationalkostüme tragen. Die Regierung<lb/>
hätte gern das Handwerk unterstützt, war aber an die Artikel des Berliner Ver¬<lb/>
trages gebunden, die eine Erhöhung der Einfuhrzölle nicht gestatteten. So ging<lb/>
das Handwerk in einzelnen Zweigen völlig unter, in anderen Branchen eignete<lb/>
es sich moderne Arbeitsmethoden an, die es im Kampf mit dem Ausland kon¬<lb/>
kurrenzfähiger machten.  Dies gilt vor allem von der Textilindustrie.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2741" next="#ID_2742"> Die Weberei wurde schon seit alten Zeiten als Hausindustrie betrieben.<lb/>
Die Wolle wurde in primitiver Weise zu Stoffen, Teppichen und Spitzengeweben<lb/>
verarbeitet, die wegen ihrer Haltbarkeit beliebt waren und besonders in der<lb/>
Türkei guten Absatz fanden. Infolge des Gedeihens dieses Produktionszweiges<lb/>
entschlossen sich im Jahre 1880 einige Unternehmer, modern eingerichtete Web¬<lb/>
stätten einzurichten, und heute befinden sich große Textilfabriken im Lande, so<lb/>
daß Bulgarien in dieser Branche auf dem Balkan die erste Stelle einnimmt.<lb/>
Die günstige Beschaffenheit des Landes für die Schafzucht kommt diesem Industrie¬<lb/>
zweig sehr zu statten, jedoch wird auch ausländische Wolle verarbeitet. Der</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0570] Die volkswirtschaftliche Entwicklung Bulgariens eine Gesellschaft mit einem Anlagekapital von'1500000 Franken, die sich lebhast betätigt. Außer den Minen sind reichlich Marmor, Granit, Ton und Lithographen¬ stein vorhanden. Bemerkenswert sind hier noch die heißen Quellen Bulgariens, von denen das Land mehr als zweihundert besitzt. Der heißeste Sprudel kommt mit einer Temperatur von 83 Grad aus der Erde. Der Bezirk Stara Zagora hat sehr viele heiße Quellen auszuweisen, deren bedeutendste in ihrem Mineral¬ gehalt den berühmten Karlsbader Sprudeln fast gleichkommt. Auch Sofia besitzt sehr gute heiße Quellen; die Sofioter Stadtgemeinde hat im Jahre 1907 den Bau öffentlicher Bäder mit einem Kostenaufwand von 1500000 Franken unternommen und im Jahre 1910 durch den Bau eines weiteren Bades den Anforderungen der Neuzeit Rechnung getragen. Das wirtschaftliche Fortkommen Bulgariens hängt also, wie wir gesehen haben, in erster Linie von seiner Agrarpolitik ab, die die anderen volkswirt¬ schaftlichen Faktoren stark beeinflußt. Trotz des Charakters Bulgariens als Agrar- staat hat sich aus kleinen Anfängen heraus im Lande eine Industrie gebildet, welche langsam aber sicher vorwärts schreitet. Früher war außer der Landwirt¬ schaft das Handwerk die einzige Erwerbsquelle der Bulgaren; die ausbeutende Verwaltung, wie überhaupt die rechtliche Unsicherheit und die geringe Ent¬ wicklung des Geld- und Kreditwesens ließen alle Versuche einer industriellen Betätigung fehlschlagen. So war damals nur das Handwerk und die gewerbliche Tätigkeit verbreitet. Auch in Bulgarien hatte das Zunftwesen schon Eingang gefunden und jedes Handwerk wurde durch eine Zunft vertreten. Wie in allen europäischen Staaten, nahm auch in Bulgarien das Handwerk all¬ mählich ab. Die neue Verfassung hatte den ausländischen Produkten Tür und Tor geöffnet, und die heimische Industrie, die i:och mit recht primitiven Mitteln arbeitete, war diesem Kampf nicht gewachsen. Das letztere traf nicht auf alle Handwerke zu, die Schuhmacherei, Schneiderei usw. erwiesen sich als existenzfähig, da die Bulgaren meist Nationalkostüme tragen. Die Regierung hätte gern das Handwerk unterstützt, war aber an die Artikel des Berliner Ver¬ trages gebunden, die eine Erhöhung der Einfuhrzölle nicht gestatteten. So ging das Handwerk in einzelnen Zweigen völlig unter, in anderen Branchen eignete es sich moderne Arbeitsmethoden an, die es im Kampf mit dem Ausland kon¬ kurrenzfähiger machten. Dies gilt vor allem von der Textilindustrie. Die Weberei wurde schon seit alten Zeiten als Hausindustrie betrieben. Die Wolle wurde in primitiver Weise zu Stoffen, Teppichen und Spitzengeweben verarbeitet, die wegen ihrer Haltbarkeit beliebt waren und besonders in der Türkei guten Absatz fanden. Infolge des Gedeihens dieses Produktionszweiges entschlossen sich im Jahre 1880 einige Unternehmer, modern eingerichtete Web¬ stätten einzurichten, und heute befinden sich große Textilfabriken im Lande, so daß Bulgarien in dieser Branche auf dem Balkan die erste Stelle einnimmt. Die günstige Beschaffenheit des Landes für die Schafzucht kommt diesem Industrie¬ zweig sehr zu statten, jedoch wird auch ausländische Wolle verarbeitet. Der

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/570
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/570>, abgerufen am 28.12.2024.