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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

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Die Juden und Luropa

Grunde dieses Einheitsbewußtsein ruhe und ob diese Selbstschätzung berechtigt
sei -- was mindestens im Hinblick aus Süd- und Ostasien bezweifelt werden
darf --, stellen wir fest, daß wir Juden uns in das europäische Bewußtsein
eingefügt haben; daß, wenn wir auch nicht widerspruchslos darin aufgenommen
werden, wir selbst doch durchaus und instinktiv darin zu Hause sind. Diese
geistige Zugehörigkeit zum Europäismus besteht sür unser Gefühl ohne Rück¬
sicht auf alle Volks- und Rassentheorien. Obwohl der Zusammenhang keines¬
wegs selbstverständlich ist; denn in seinen Anfängen gehörten die Juden zum
babylonisch-assyrischen und ägyptischen Kulturkreis, der ältesten, dem heutigen
Europa ähnlichen Kulturgemeinschaft, die wir kennen, und später wurden sie
von der zweiten großen Kulturgruppe, der mittelländischen, umschlossen -- wobei
es nichts verschlägt, daß sie sich in prinzipiellem Gegensatz zu diesen Gruppen
befunden haben. Es ist bezeichnend für die jüdische Psyche und Lebenskraft,
daß wir mit der Wanderung des Kulturschwerpunktes von Osten nach Westen
mitgewandert sind.

Mit diesem Europa, wie gesagt, muß sich das neue Nationaljudentum
irgendwie auseinandersetzen -- ich meine hier natürlich geistig, nicht politisch.
Die Lage scheint zunächst sehr einfach. Heinrich Heine, dem das Jüdische tiefer
im Blute stak, als ihm selber lieb war, nennt einmal die Bibel das aufgeschriebene
Vaterland der Kinder Gottes, ein Wort, das die ganze Tragik der Juden und
sein Gefühl dafür mit einem Schlage offenbart. Das aufgeschriebene Vaterland
-- das heißt, wir haben kein Land der Väter, keinen Boden, in dem unsere
Wurzeln stecken, keine Scholle, deren Duft wir an uns tragen; und was uns
einigt, ist ein Buch, etwas Unreales, rein Geistiges, bloße Symbole und Zeichen!
Auf dem dünnen Boden der Schrift hat dieses gespenstige Volk zweitausend
Jahre gelebt, aus ihm hat es seine Energien gezogen, und eine Generation nach
der anderen hat ihre Arbeit darauf gehäuft. Das Buch war für lange Ketten
von Geschlechtern Trost und Zuflucht, Hoffnung und Lohn, Licht, Luft und Sonne.

Wenn wir also suchen, dem Volke sein Land zurückzugeben, so wollen wir
damit nichts geringeres, als eine zweitausendjährige Krankheit heilen und der
Nation aus einer Scheinexistenz zu einer wirklichen Existenz verhelfen. Indessen
dieser Zionismus ist so alt wie unsere Heimatlosigkeit und deckt sich nicht ganz
mit dem Nationalismus, den Herzl konzipierte und den wir als europäisches
Ereignis begriffen haben. Denn unser Zionismus begnügt sich nicht damit, dem >
Volke seine Heimat wiederzugeben, sondern er will -- in dem Heineschen Bilde
zu bleiben -- mit dem Lande das Buch ersetzen. Die einigende Wirkung, die
während zweitausend Jahren "das Buch" ausgeübt hat, soll künftig "das Land"
ausüben; wir sollen aus einem Volke der Schrift und der Lehre nach dem
Beispiele des glücklicheren Europa ein Volk des eigenen Bodens, der Industrie,
des Handels, der eigenen Kunst und Wissenschaft werden. Wir denken uns ein
Palästina, wie wir ein Deutschland, ein England kennen, nur daß die Ein¬
wohner Juden sind. >"


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Die Juden und Luropa

Grunde dieses Einheitsbewußtsein ruhe und ob diese Selbstschätzung berechtigt
sei — was mindestens im Hinblick aus Süd- und Ostasien bezweifelt werden
darf —, stellen wir fest, daß wir Juden uns in das europäische Bewußtsein
eingefügt haben; daß, wenn wir auch nicht widerspruchslos darin aufgenommen
werden, wir selbst doch durchaus und instinktiv darin zu Hause sind. Diese
geistige Zugehörigkeit zum Europäismus besteht sür unser Gefühl ohne Rück¬
sicht auf alle Volks- und Rassentheorien. Obwohl der Zusammenhang keines¬
wegs selbstverständlich ist; denn in seinen Anfängen gehörten die Juden zum
babylonisch-assyrischen und ägyptischen Kulturkreis, der ältesten, dem heutigen
Europa ähnlichen Kulturgemeinschaft, die wir kennen, und später wurden sie
von der zweiten großen Kulturgruppe, der mittelländischen, umschlossen — wobei
es nichts verschlägt, daß sie sich in prinzipiellem Gegensatz zu diesen Gruppen
befunden haben. Es ist bezeichnend für die jüdische Psyche und Lebenskraft,
daß wir mit der Wanderung des Kulturschwerpunktes von Osten nach Westen
mitgewandert sind.

Mit diesem Europa, wie gesagt, muß sich das neue Nationaljudentum
irgendwie auseinandersetzen — ich meine hier natürlich geistig, nicht politisch.
Die Lage scheint zunächst sehr einfach. Heinrich Heine, dem das Jüdische tiefer
im Blute stak, als ihm selber lieb war, nennt einmal die Bibel das aufgeschriebene
Vaterland der Kinder Gottes, ein Wort, das die ganze Tragik der Juden und
sein Gefühl dafür mit einem Schlage offenbart. Das aufgeschriebene Vaterland
— das heißt, wir haben kein Land der Väter, keinen Boden, in dem unsere
Wurzeln stecken, keine Scholle, deren Duft wir an uns tragen; und was uns
einigt, ist ein Buch, etwas Unreales, rein Geistiges, bloße Symbole und Zeichen!
Auf dem dünnen Boden der Schrift hat dieses gespenstige Volk zweitausend
Jahre gelebt, aus ihm hat es seine Energien gezogen, und eine Generation nach
der anderen hat ihre Arbeit darauf gehäuft. Das Buch war für lange Ketten
von Geschlechtern Trost und Zuflucht, Hoffnung und Lohn, Licht, Luft und Sonne.

Wenn wir also suchen, dem Volke sein Land zurückzugeben, so wollen wir
damit nichts geringeres, als eine zweitausendjährige Krankheit heilen und der
Nation aus einer Scheinexistenz zu einer wirklichen Existenz verhelfen. Indessen
dieser Zionismus ist so alt wie unsere Heimatlosigkeit und deckt sich nicht ganz
mit dem Nationalismus, den Herzl konzipierte und den wir als europäisches
Ereignis begriffen haben. Denn unser Zionismus begnügt sich nicht damit, dem >
Volke seine Heimat wiederzugeben, sondern er will — in dem Heineschen Bilde
zu bleiben — mit dem Lande das Buch ersetzen. Die einigende Wirkung, die
während zweitausend Jahren „das Buch" ausgeübt hat, soll künftig „das Land"
ausüben; wir sollen aus einem Volke der Schrift und der Lehre nach dem
Beispiele des glücklicheren Europa ein Volk des eigenen Bodens, der Industrie,
des Handels, der eigenen Kunst und Wissenschaft werden. Wir denken uns ein
Palästina, wie wir ein Deutschland, ein England kennen, nur daß die Ein¬
wohner Juden sind. >"


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[0559] Die Juden und Luropa Grunde dieses Einheitsbewußtsein ruhe und ob diese Selbstschätzung berechtigt sei — was mindestens im Hinblick aus Süd- und Ostasien bezweifelt werden darf —, stellen wir fest, daß wir Juden uns in das europäische Bewußtsein eingefügt haben; daß, wenn wir auch nicht widerspruchslos darin aufgenommen werden, wir selbst doch durchaus und instinktiv darin zu Hause sind. Diese geistige Zugehörigkeit zum Europäismus besteht sür unser Gefühl ohne Rück¬ sicht auf alle Volks- und Rassentheorien. Obwohl der Zusammenhang keines¬ wegs selbstverständlich ist; denn in seinen Anfängen gehörten die Juden zum babylonisch-assyrischen und ägyptischen Kulturkreis, der ältesten, dem heutigen Europa ähnlichen Kulturgemeinschaft, die wir kennen, und später wurden sie von der zweiten großen Kulturgruppe, der mittelländischen, umschlossen — wobei es nichts verschlägt, daß sie sich in prinzipiellem Gegensatz zu diesen Gruppen befunden haben. Es ist bezeichnend für die jüdische Psyche und Lebenskraft, daß wir mit der Wanderung des Kulturschwerpunktes von Osten nach Westen mitgewandert sind. Mit diesem Europa, wie gesagt, muß sich das neue Nationaljudentum irgendwie auseinandersetzen — ich meine hier natürlich geistig, nicht politisch. Die Lage scheint zunächst sehr einfach. Heinrich Heine, dem das Jüdische tiefer im Blute stak, als ihm selber lieb war, nennt einmal die Bibel das aufgeschriebene Vaterland der Kinder Gottes, ein Wort, das die ganze Tragik der Juden und sein Gefühl dafür mit einem Schlage offenbart. Das aufgeschriebene Vaterland — das heißt, wir haben kein Land der Väter, keinen Boden, in dem unsere Wurzeln stecken, keine Scholle, deren Duft wir an uns tragen; und was uns einigt, ist ein Buch, etwas Unreales, rein Geistiges, bloße Symbole und Zeichen! Auf dem dünnen Boden der Schrift hat dieses gespenstige Volk zweitausend Jahre gelebt, aus ihm hat es seine Energien gezogen, und eine Generation nach der anderen hat ihre Arbeit darauf gehäuft. Das Buch war für lange Ketten von Geschlechtern Trost und Zuflucht, Hoffnung und Lohn, Licht, Luft und Sonne. Wenn wir also suchen, dem Volke sein Land zurückzugeben, so wollen wir damit nichts geringeres, als eine zweitausendjährige Krankheit heilen und der Nation aus einer Scheinexistenz zu einer wirklichen Existenz verhelfen. Indessen dieser Zionismus ist so alt wie unsere Heimatlosigkeit und deckt sich nicht ganz mit dem Nationalismus, den Herzl konzipierte und den wir als europäisches Ereignis begriffen haben. Denn unser Zionismus begnügt sich nicht damit, dem > Volke seine Heimat wiederzugeben, sondern er will — in dem Heineschen Bilde zu bleiben — mit dem Lande das Buch ersetzen. Die einigende Wirkung, die während zweitausend Jahren „das Buch" ausgeübt hat, soll künftig „das Land" ausüben; wir sollen aus einem Volke der Schrift und der Lehre nach dem Beispiele des glücklicheren Europa ein Volk des eigenen Bodens, der Industrie, des Handels, der eigenen Kunst und Wissenschaft werden. Wir denken uns ein Palästina, wie wir ein Deutschland, ein England kennen, nur daß die Ein¬ wohner Juden sind. >" 3S

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/559>, abgerufen am 20.10.2024.