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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

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Die Juden und Europa

Bekenntnis" hinzudeuten liebt, sind zwar schöne Dinge an sich, auf Grund
deren uns kein Gerechter seine Achtung mehr versagen darf. Aber sie besitzen
gar keine werbende oder auch nur festhaltende Kraft; sie begründen auch keinen
Unterschied gegen das übrige geistige Europa. Wenn Judentum weiter nichts
ist, dann gibt es wahrhaftig keinen Grund mehr, daß wir uns innerhalb der
europäischen Welt als etwas Besonderes erhalten; in diesem Glauben treffen
wir mit dem aufgeklärten Christentums durchaus zusammen, Zudem: wenn
wir das Judentum reformieren, warum sollen wir bei der Lehre vom persönlichen
Gott, und sei es ein noch so liberaler Gott, stehen bleiben, da doch die Ent¬
wicklung mindestens weiter Kreise auf eine Überwindung dieses Glaubens über¬
haupt hindrängt? Wenn alle Welt unreligiös -- im bisherigen Sinne des
Wortes -- und. mit Nietzsche zu sprechen, amoralistisch werden will, warum
sollen wir Juden, wir ehrgeizigen Europäer, beim lieben Gott und seiner Moral
verharren? Aber freilich, diese Konsequenz darf der Staatsbürger jüdischen
Glaubens nicht ziehen, solange er noch ein Judentum erhalten will; denn eißes
außerhalb des Glaubens kennt er ja nicht. Wir dagegen erklären das Juden¬
tum, für das unsere Väter lebten, litten und starben, für tot. Wir dürfen es
getrost; denn ist gleich das Judentum tot: die Juden leben. Und indem wir
dieses Lebendige mit Leidenschaft ergreifen, haben wir das Judentum in neuer
Form, als nationales Judentum gerettet und für eine neue Zukunft gegründet.

Dieses unser Nationaljudentum wird sich nun aber mit jenem Europa, aus
dem es entsprungen ist und dem es seine Kraft vorläufig und bis auf weiteres
verdankt, irgendwie auseinandersetzen müssen. Denn das Verhältnis beider ist
nur, solange wir in unserem europäischen Gedanken- und Empfindungskreise
bleiben, klar und selbstverständlich, wird aber sehr problematisch, sobald wir uns
nicht mehr als Juden von heute und gestern, sondern von dreitausend Jahren
fühlen und sobald wir den Anschluß an unsere eigene Tradition wieder¬
zugewinnen suchen.

Hier wäre nun zunächst die Frage zu beantworten, was denn Europa ist.
Wir wollen uns nicht auf lange historische und philosophische Erörterungen ein¬
lassen, sondern uns im wesentlichen auf das berufen, was jedem von uns bei
diesem Worte ohne weiteres gegenwärtig ist. Nur soviel sei bemerkt, daß dieses
Europa, von dem wir hier reden, sich, wie billig, nicht mit dem geographischen
Begriffe deckt, sondern teils weniger, teils mehr als die sogenannte asiatische
Halbinsel umfaßt; daß wir es ferner hier wiederum mit einer Konzeption zu
tun haben, die freilich nicht auf einmal vom Hirn eines Menschen gefaßt wurde,
sondern allmählich sich entwickelt hat und wohl noch nicht bei ihrer letzten Aus¬
prägung angekommen ist; daß endlich die Realität dieses Begriffes in dem Ein¬
heitsbewußtsein eines Teiles der Menschheit liegt, welcher sich den übrigen Teilen
entgegensetzt, vielmehr sich darüber stellt und sich selbst naiv für den Mittel¬
punkt der Menschheit, für die bisher erreichte höchste Spitze, kurz für die Menschheit
im eigentlichen Sinne hält. Ohne uns bei der Frage aufzuhalten, auf welchem


Die Juden und Europa

Bekenntnis" hinzudeuten liebt, sind zwar schöne Dinge an sich, auf Grund
deren uns kein Gerechter seine Achtung mehr versagen darf. Aber sie besitzen
gar keine werbende oder auch nur festhaltende Kraft; sie begründen auch keinen
Unterschied gegen das übrige geistige Europa. Wenn Judentum weiter nichts
ist, dann gibt es wahrhaftig keinen Grund mehr, daß wir uns innerhalb der
europäischen Welt als etwas Besonderes erhalten; in diesem Glauben treffen
wir mit dem aufgeklärten Christentums durchaus zusammen, Zudem: wenn
wir das Judentum reformieren, warum sollen wir bei der Lehre vom persönlichen
Gott, und sei es ein noch so liberaler Gott, stehen bleiben, da doch die Ent¬
wicklung mindestens weiter Kreise auf eine Überwindung dieses Glaubens über¬
haupt hindrängt? Wenn alle Welt unreligiös — im bisherigen Sinne des
Wortes — und. mit Nietzsche zu sprechen, amoralistisch werden will, warum
sollen wir Juden, wir ehrgeizigen Europäer, beim lieben Gott und seiner Moral
verharren? Aber freilich, diese Konsequenz darf der Staatsbürger jüdischen
Glaubens nicht ziehen, solange er noch ein Judentum erhalten will; denn eißes
außerhalb des Glaubens kennt er ja nicht. Wir dagegen erklären das Juden¬
tum, für das unsere Väter lebten, litten und starben, für tot. Wir dürfen es
getrost; denn ist gleich das Judentum tot: die Juden leben. Und indem wir
dieses Lebendige mit Leidenschaft ergreifen, haben wir das Judentum in neuer
Form, als nationales Judentum gerettet und für eine neue Zukunft gegründet.

Dieses unser Nationaljudentum wird sich nun aber mit jenem Europa, aus
dem es entsprungen ist und dem es seine Kraft vorläufig und bis auf weiteres
verdankt, irgendwie auseinandersetzen müssen. Denn das Verhältnis beider ist
nur, solange wir in unserem europäischen Gedanken- und Empfindungskreise
bleiben, klar und selbstverständlich, wird aber sehr problematisch, sobald wir uns
nicht mehr als Juden von heute und gestern, sondern von dreitausend Jahren
fühlen und sobald wir den Anschluß an unsere eigene Tradition wieder¬
zugewinnen suchen.

Hier wäre nun zunächst die Frage zu beantworten, was denn Europa ist.
Wir wollen uns nicht auf lange historische und philosophische Erörterungen ein¬
lassen, sondern uns im wesentlichen auf das berufen, was jedem von uns bei
diesem Worte ohne weiteres gegenwärtig ist. Nur soviel sei bemerkt, daß dieses
Europa, von dem wir hier reden, sich, wie billig, nicht mit dem geographischen
Begriffe deckt, sondern teils weniger, teils mehr als die sogenannte asiatische
Halbinsel umfaßt; daß wir es ferner hier wiederum mit einer Konzeption zu
tun haben, die freilich nicht auf einmal vom Hirn eines Menschen gefaßt wurde,
sondern allmählich sich entwickelt hat und wohl noch nicht bei ihrer letzten Aus¬
prägung angekommen ist; daß endlich die Realität dieses Begriffes in dem Ein¬
heitsbewußtsein eines Teiles der Menschheit liegt, welcher sich den übrigen Teilen
entgegensetzt, vielmehr sich darüber stellt und sich selbst naiv für den Mittel¬
punkt der Menschheit, für die bisher erreichte höchste Spitze, kurz für die Menschheit
im eigentlichen Sinne hält. Ohne uns bei der Frage aufzuhalten, auf welchem


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[0558] Die Juden und Europa Bekenntnis" hinzudeuten liebt, sind zwar schöne Dinge an sich, auf Grund deren uns kein Gerechter seine Achtung mehr versagen darf. Aber sie besitzen gar keine werbende oder auch nur festhaltende Kraft; sie begründen auch keinen Unterschied gegen das übrige geistige Europa. Wenn Judentum weiter nichts ist, dann gibt es wahrhaftig keinen Grund mehr, daß wir uns innerhalb der europäischen Welt als etwas Besonderes erhalten; in diesem Glauben treffen wir mit dem aufgeklärten Christentums durchaus zusammen, Zudem: wenn wir das Judentum reformieren, warum sollen wir bei der Lehre vom persönlichen Gott, und sei es ein noch so liberaler Gott, stehen bleiben, da doch die Ent¬ wicklung mindestens weiter Kreise auf eine Überwindung dieses Glaubens über¬ haupt hindrängt? Wenn alle Welt unreligiös — im bisherigen Sinne des Wortes — und. mit Nietzsche zu sprechen, amoralistisch werden will, warum sollen wir Juden, wir ehrgeizigen Europäer, beim lieben Gott und seiner Moral verharren? Aber freilich, diese Konsequenz darf der Staatsbürger jüdischen Glaubens nicht ziehen, solange er noch ein Judentum erhalten will; denn eißes außerhalb des Glaubens kennt er ja nicht. Wir dagegen erklären das Juden¬ tum, für das unsere Väter lebten, litten und starben, für tot. Wir dürfen es getrost; denn ist gleich das Judentum tot: die Juden leben. Und indem wir dieses Lebendige mit Leidenschaft ergreifen, haben wir das Judentum in neuer Form, als nationales Judentum gerettet und für eine neue Zukunft gegründet. Dieses unser Nationaljudentum wird sich nun aber mit jenem Europa, aus dem es entsprungen ist und dem es seine Kraft vorläufig und bis auf weiteres verdankt, irgendwie auseinandersetzen müssen. Denn das Verhältnis beider ist nur, solange wir in unserem europäischen Gedanken- und Empfindungskreise bleiben, klar und selbstverständlich, wird aber sehr problematisch, sobald wir uns nicht mehr als Juden von heute und gestern, sondern von dreitausend Jahren fühlen und sobald wir den Anschluß an unsere eigene Tradition wieder¬ zugewinnen suchen. Hier wäre nun zunächst die Frage zu beantworten, was denn Europa ist. Wir wollen uns nicht auf lange historische und philosophische Erörterungen ein¬ lassen, sondern uns im wesentlichen auf das berufen, was jedem von uns bei diesem Worte ohne weiteres gegenwärtig ist. Nur soviel sei bemerkt, daß dieses Europa, von dem wir hier reden, sich, wie billig, nicht mit dem geographischen Begriffe deckt, sondern teils weniger, teils mehr als die sogenannte asiatische Halbinsel umfaßt; daß wir es ferner hier wiederum mit einer Konzeption zu tun haben, die freilich nicht auf einmal vom Hirn eines Menschen gefaßt wurde, sondern allmählich sich entwickelt hat und wohl noch nicht bei ihrer letzten Aus¬ prägung angekommen ist; daß endlich die Realität dieses Begriffes in dem Ein¬ heitsbewußtsein eines Teiles der Menschheit liegt, welcher sich den übrigen Teilen entgegensetzt, vielmehr sich darüber stellt und sich selbst naiv für den Mittel¬ punkt der Menschheit, für die bisher erreichte höchste Spitze, kurz für die Menschheit im eigentlichen Sinne hält. Ohne uns bei der Frage aufzuhalten, auf welchem

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/558>, abgerufen am 19.10.2024.