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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

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Sturm

Der Mann, den sie suchte, war in ihren Kreisen und in ihrer Heimat
wohl kaum zu finden. Oft fühlte sich das junge Mädchen von dem Verlangen
gepackt, die enge Umgebung zu fliehen und gleich ihrem Bruder Paul sich irgendwo
in der Fremde einen Wirkungskreis zu suchen. Aber sie brachte es nicht übers
Herz, ihre Mutter allem zu lassen. Hatte sie es doch mit ansehen müssen, wie
Enttäuschung und Verbitterung immer mehr von diesem einstmals gütigen und
heiteren Wesen Besitz ergriffen, bis nur noch eine vergrämte, nervenschwache,
ewig nörgelnde Frau übrig blieb. Ihre Tochter war die einzige, der es gelang,
sie zeitweise ihrer Apathie zu entreißen.

Mit einer Freigebigkeit ohnegleichen rechnete Mara niemals nach, welche
Unsummen von Energie sie auf diese Bemühungen verwandte. Nur das eine
war ihr klar: ginge sie einmal weg von Borküll, so bedeutete das sür die Baronin
die vollständige geistige Verkommenheit. Und deshalb entsagte sie und blieb.

Im tiefsten Herzen verschlossen hatte sie die Hoffnung getragen, daß ein
Wunder geschehen und sie eines Tages befreien würde -- ein modernes Aschen¬
brödel, dessen Prinz aus dem Reiche des Geistes kommen würde, ohne die
sichtbare Krone adliger Abstammung.

War das vielleicht der Maler? In den unklaren Träumen ihrer Phantasie
hatte ihr freilich ein ganz anderes Geficht vorgeschwebt. Ein Mann von Welt
mit guten Manieren und weitem Horizont, so wie ihr Bruder Paul etwa, den
sie ini stillen anbetete, wie sarkastisch er auch ihre sür seine ruhige logische Art
viel zu sprunghafter und exaltierten Interessen beurteilte. Madelung hatte kein
überlegenes Lächeln für ihre Anschauungen: er ging mit Teilnahme auf ihre
Ideen ein, und es stellte sich heraus, daß viele der Götter, die sie verehrte,
auch die seinen waren.

Bis tief in die Nacht hatten die beiden zusammengesessen und über die
Bücher gesprochen, aus deren Gedanken sich Maras Weltbild gestaltet hatte.
Es war ihr, als entdeckten sie gemeinsame Bekannte und liebe Freunde, die sie
irgendwo draußen in der weilen Welt gefunden hatten. Es waren Stunden
des Schwärmens, uuter deren Zauber eine neue Jugend auf den herben und
im Verblühen begriffenen Zügen des Mädchens geweckt wurde.

"So möchte ich Sie malen!" hatte Madelung einmal gerufen. "Wie Sie
jetzt am Kamin stehen, die schöne Stirn vom Flammenschein beleuchtet, das
feine Gesichtchen geneigt und die Augen forschend und begeistert ins Weite
gerichtet, während die schlanke Hand nervös im roten Gelock ihres Haares
spielt . . . ."

Er hatte geseufzt und war verstummt. Aber Mara blieben seine Worte
in Erinnerung.

Wie oft hatte sie es von Tante Emerenzia zu hören bekommen, daß sie
häßlich sei: "Alle Frauen verlieren, wenn sie Bücherwürmer werden. Und
dich hat die Natur sowieso schon stiefmütterlich behandelt. Du kannst froh
sein, daß Wolly so treu um dich wirbt."


Sturm

Der Mann, den sie suchte, war in ihren Kreisen und in ihrer Heimat
wohl kaum zu finden. Oft fühlte sich das junge Mädchen von dem Verlangen
gepackt, die enge Umgebung zu fliehen und gleich ihrem Bruder Paul sich irgendwo
in der Fremde einen Wirkungskreis zu suchen. Aber sie brachte es nicht übers
Herz, ihre Mutter allem zu lassen. Hatte sie es doch mit ansehen müssen, wie
Enttäuschung und Verbitterung immer mehr von diesem einstmals gütigen und
heiteren Wesen Besitz ergriffen, bis nur noch eine vergrämte, nervenschwache,
ewig nörgelnde Frau übrig blieb. Ihre Tochter war die einzige, der es gelang,
sie zeitweise ihrer Apathie zu entreißen.

Mit einer Freigebigkeit ohnegleichen rechnete Mara niemals nach, welche
Unsummen von Energie sie auf diese Bemühungen verwandte. Nur das eine
war ihr klar: ginge sie einmal weg von Borküll, so bedeutete das sür die Baronin
die vollständige geistige Verkommenheit. Und deshalb entsagte sie und blieb.

Im tiefsten Herzen verschlossen hatte sie die Hoffnung getragen, daß ein
Wunder geschehen und sie eines Tages befreien würde — ein modernes Aschen¬
brödel, dessen Prinz aus dem Reiche des Geistes kommen würde, ohne die
sichtbare Krone adliger Abstammung.

War das vielleicht der Maler? In den unklaren Träumen ihrer Phantasie
hatte ihr freilich ein ganz anderes Geficht vorgeschwebt. Ein Mann von Welt
mit guten Manieren und weitem Horizont, so wie ihr Bruder Paul etwa, den
sie ini stillen anbetete, wie sarkastisch er auch ihre sür seine ruhige logische Art
viel zu sprunghafter und exaltierten Interessen beurteilte. Madelung hatte kein
überlegenes Lächeln für ihre Anschauungen: er ging mit Teilnahme auf ihre
Ideen ein, und es stellte sich heraus, daß viele der Götter, die sie verehrte,
auch die seinen waren.

Bis tief in die Nacht hatten die beiden zusammengesessen und über die
Bücher gesprochen, aus deren Gedanken sich Maras Weltbild gestaltet hatte.
Es war ihr, als entdeckten sie gemeinsame Bekannte und liebe Freunde, die sie
irgendwo draußen in der weilen Welt gefunden hatten. Es waren Stunden
des Schwärmens, uuter deren Zauber eine neue Jugend auf den herben und
im Verblühen begriffenen Zügen des Mädchens geweckt wurde.

„So möchte ich Sie malen!" hatte Madelung einmal gerufen. „Wie Sie
jetzt am Kamin stehen, die schöne Stirn vom Flammenschein beleuchtet, das
feine Gesichtchen geneigt und die Augen forschend und begeistert ins Weite
gerichtet, während die schlanke Hand nervös im roten Gelock ihres Haares
spielt . . . ."

Er hatte geseufzt und war verstummt. Aber Mara blieben seine Worte
in Erinnerung.

Wie oft hatte sie es von Tante Emerenzia zu hören bekommen, daß sie
häßlich sei: „Alle Frauen verlieren, wenn sie Bücherwürmer werden. Und
dich hat die Natur sowieso schon stiefmütterlich behandelt. Du kannst froh
sein, daß Wolly so treu um dich wirbt."


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/53>, abgerufen am 28.12.2024.