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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

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Sturm

Eines Tages machte auch Schulmeister Sandberg von dem neuen Recht
Gebrauch. Sein Kohlacker, den er durch einen Knüppelzaun gegen das Wild
gesichert hatte, war trotz dieser Vorsichtsmaßregel niedergetrampelt. Er meldete
den Schaden gemäß den bekanntgegebenen Vorschriften an. und schon am nächsten
Tage machte sich der junge Gutsherr auf, um sich persönlich davon zu überzeugen.

Da sah er Linda zum ersten Male. In Abwesenheit ihres Vaters über¬
nahm sie selbst die Führung und offenbarte auf dem kurzen Weg eine solche
Fülle von praktischen Kenntnissen, von Mutterwitz, von natürlicher Anmut, daß
der Erbherr von Stunde an gefangen war.

Die Stellung ihres Vaters, ebenso wie die Bildung, die er seiner Tochter
gegeben hatte, hoben sie über das bäuerliche Milieu, dem sie erstaunt war,
heraus. Aber gleichzeitig war sie dadurch zur Isolierung verurteilt. Sie befand
sich in einer ähnlichen Lage wie der junge Herr von Wenkendorff.

Der suchte und fand von jetzt ab oft Gelegenheit, im Schulhaus vorzu¬
sprechen. Er lernte in Sandberg einen Mann kennen, mit dem er über alle
seine Erfahrungen und Ideen reden konnte.

Der Schulmeister hatte einen guten Blick für die sozialen Schäden, an
denen das Land schon damals krankte.

"Die Deutschen säen Sturm!" sagte er, vorausahnend. "Noch kennt sich
das Volk nicht. Ein jeder nimmt des Lebens Not auf sich, wie sie den ein¬
zelnen trifft. Aber die Abgeschlossenheit, in der wir Ehlen gehalten werden,
wird ihnen eines Tages zum Bewußtsein kommen. Dann haben die Deutschen
eine Masse gegen sich, die sie selbst zusammengeschmiedet haben. In dem Rausch
des erwachten Selbstgefühls wird sie ihre Stoßkraft gegen die Mauer des Deutsch¬
tums richten, und es wird die Frage sein, ob die Mauer stark genug ist. Wer
sich im sicheren Besitz befindet, denkt nicht daran, bereit zu sein und seine Kraft
zu prüfen und zu stählen..."

Erst jetzt, viele Jahre später, sollte der Baron die ganze Wahrheit dieses
Ausspruches erfahren. Damals fühlte er sich nicht davon beunruhigt, er hatte
Besseres zu tun, als an die Zukunft zu denken. Die Gegenwart schlang holde
Fesseln um ihn.

Es war ein langer köstlicher Weg von dem ersten leichten Interesse an,
was die beiden in voller Reife stehenden Menschen aneinander nahmen, bis zu
dem Tag, da sie erkannten, duß sie sich liebten.

Vater Sandberg ahnte nichts von der Entwicklung, die die Beziehungen
zwischen seinem Hause und dem Erbherrn nahmen. Er dachte nicht im ent-
ferntesten an die Möglichkeit, daß der Baron seine Tochter zur Frau begehren
könnte, eine Möglichkeit, die in den Zukunftsplänen der beiden jungen Leute
sehr oft und mit um so größerer Leidenschaft erwogen wurde, als sie sich im
Jnneren sagen mußten, daß eine Ehe zwischen ihnen unmöglich war. Das
letzte lange Leidensjahr des alten Sternburger Barons verschob ohnedies die
Verwirklichung ihrer Träume. In jenem Jahr starb auch der Schulmeister


Sturm

Eines Tages machte auch Schulmeister Sandberg von dem neuen Recht
Gebrauch. Sein Kohlacker, den er durch einen Knüppelzaun gegen das Wild
gesichert hatte, war trotz dieser Vorsichtsmaßregel niedergetrampelt. Er meldete
den Schaden gemäß den bekanntgegebenen Vorschriften an. und schon am nächsten
Tage machte sich der junge Gutsherr auf, um sich persönlich davon zu überzeugen.

Da sah er Linda zum ersten Male. In Abwesenheit ihres Vaters über¬
nahm sie selbst die Führung und offenbarte auf dem kurzen Weg eine solche
Fülle von praktischen Kenntnissen, von Mutterwitz, von natürlicher Anmut, daß
der Erbherr von Stunde an gefangen war.

Die Stellung ihres Vaters, ebenso wie die Bildung, die er seiner Tochter
gegeben hatte, hoben sie über das bäuerliche Milieu, dem sie erstaunt war,
heraus. Aber gleichzeitig war sie dadurch zur Isolierung verurteilt. Sie befand
sich in einer ähnlichen Lage wie der junge Herr von Wenkendorff.

Der suchte und fand von jetzt ab oft Gelegenheit, im Schulhaus vorzu¬
sprechen. Er lernte in Sandberg einen Mann kennen, mit dem er über alle
seine Erfahrungen und Ideen reden konnte.

Der Schulmeister hatte einen guten Blick für die sozialen Schäden, an
denen das Land schon damals krankte.

„Die Deutschen säen Sturm!" sagte er, vorausahnend. „Noch kennt sich
das Volk nicht. Ein jeder nimmt des Lebens Not auf sich, wie sie den ein¬
zelnen trifft. Aber die Abgeschlossenheit, in der wir Ehlen gehalten werden,
wird ihnen eines Tages zum Bewußtsein kommen. Dann haben die Deutschen
eine Masse gegen sich, die sie selbst zusammengeschmiedet haben. In dem Rausch
des erwachten Selbstgefühls wird sie ihre Stoßkraft gegen die Mauer des Deutsch¬
tums richten, und es wird die Frage sein, ob die Mauer stark genug ist. Wer
sich im sicheren Besitz befindet, denkt nicht daran, bereit zu sein und seine Kraft
zu prüfen und zu stählen..."

Erst jetzt, viele Jahre später, sollte der Baron die ganze Wahrheit dieses
Ausspruches erfahren. Damals fühlte er sich nicht davon beunruhigt, er hatte
Besseres zu tun, als an die Zukunft zu denken. Die Gegenwart schlang holde
Fesseln um ihn.

Es war ein langer köstlicher Weg von dem ersten leichten Interesse an,
was die beiden in voller Reife stehenden Menschen aneinander nahmen, bis zu
dem Tag, da sie erkannten, duß sie sich liebten.

Vater Sandberg ahnte nichts von der Entwicklung, die die Beziehungen
zwischen seinem Hause und dem Erbherrn nahmen. Er dachte nicht im ent-
ferntesten an die Möglichkeit, daß der Baron seine Tochter zur Frau begehren
könnte, eine Möglichkeit, die in den Zukunftsplänen der beiden jungen Leute
sehr oft und mit um so größerer Leidenschaft erwogen wurde, als sie sich im
Jnneren sagen mußten, daß eine Ehe zwischen ihnen unmöglich war. Das
letzte lange Leidensjahr des alten Sternburger Barons verschob ohnedies die
Verwirklichung ihrer Träume. In jenem Jahr starb auch der Schulmeister


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[0526] Sturm Eines Tages machte auch Schulmeister Sandberg von dem neuen Recht Gebrauch. Sein Kohlacker, den er durch einen Knüppelzaun gegen das Wild gesichert hatte, war trotz dieser Vorsichtsmaßregel niedergetrampelt. Er meldete den Schaden gemäß den bekanntgegebenen Vorschriften an. und schon am nächsten Tage machte sich der junge Gutsherr auf, um sich persönlich davon zu überzeugen. Da sah er Linda zum ersten Male. In Abwesenheit ihres Vaters über¬ nahm sie selbst die Führung und offenbarte auf dem kurzen Weg eine solche Fülle von praktischen Kenntnissen, von Mutterwitz, von natürlicher Anmut, daß der Erbherr von Stunde an gefangen war. Die Stellung ihres Vaters, ebenso wie die Bildung, die er seiner Tochter gegeben hatte, hoben sie über das bäuerliche Milieu, dem sie erstaunt war, heraus. Aber gleichzeitig war sie dadurch zur Isolierung verurteilt. Sie befand sich in einer ähnlichen Lage wie der junge Herr von Wenkendorff. Der suchte und fand von jetzt ab oft Gelegenheit, im Schulhaus vorzu¬ sprechen. Er lernte in Sandberg einen Mann kennen, mit dem er über alle seine Erfahrungen und Ideen reden konnte. Der Schulmeister hatte einen guten Blick für die sozialen Schäden, an denen das Land schon damals krankte. „Die Deutschen säen Sturm!" sagte er, vorausahnend. „Noch kennt sich das Volk nicht. Ein jeder nimmt des Lebens Not auf sich, wie sie den ein¬ zelnen trifft. Aber die Abgeschlossenheit, in der wir Ehlen gehalten werden, wird ihnen eines Tages zum Bewußtsein kommen. Dann haben die Deutschen eine Masse gegen sich, die sie selbst zusammengeschmiedet haben. In dem Rausch des erwachten Selbstgefühls wird sie ihre Stoßkraft gegen die Mauer des Deutsch¬ tums richten, und es wird die Frage sein, ob die Mauer stark genug ist. Wer sich im sicheren Besitz befindet, denkt nicht daran, bereit zu sein und seine Kraft zu prüfen und zu stählen..." Erst jetzt, viele Jahre später, sollte der Baron die ganze Wahrheit dieses Ausspruches erfahren. Damals fühlte er sich nicht davon beunruhigt, er hatte Besseres zu tun, als an die Zukunft zu denken. Die Gegenwart schlang holde Fesseln um ihn. Es war ein langer köstlicher Weg von dem ersten leichten Interesse an, was die beiden in voller Reife stehenden Menschen aneinander nahmen, bis zu dem Tag, da sie erkannten, duß sie sich liebten. Vater Sandberg ahnte nichts von der Entwicklung, die die Beziehungen zwischen seinem Hause und dem Erbherrn nahmen. Er dachte nicht im ent- ferntesten an die Möglichkeit, daß der Baron seine Tochter zur Frau begehren könnte, eine Möglichkeit, die in den Zukunftsplänen der beiden jungen Leute sehr oft und mit um so größerer Leidenschaft erwogen wurde, als sie sich im Jnneren sagen mußten, daß eine Ehe zwischen ihnen unmöglich war. Das letzte lange Leidensjahr des alten Sternburger Barons verschob ohnedies die Verwirklichung ihrer Träume. In jenem Jahr starb auch der Schulmeister

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/526>, abgerufen am 21.10.2024.