Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Über den Ursprung des Lebens

Je unvollständiger unser Wissen von diesen Zuständen und Vorgängen ist, um
so mehr schwindet die Zuverlässigkeit des Urteils über das, was der Wahr¬
nehmung entzogen bleibt. Es ist doch immer nur ein recht kleiner Teil des
unermeßlichen Seins und Geschehens der Wirklichkeit, den wir auch mit unseren
so erweiterten Erkenntnismitteln erfassen können. Das beständige Fortschreiten
der Naturerkenntnis weist vielmehr auf die Unzulässigkeit hin, unsere Erkenntnis
in irgendwelcher Richtung als abgeschlossen zu erachten. Das gilt auch für die
Frage nach der Entstehung des "Lebens in der Natur".

Der Ausgangspunkt unserer Betrachtung des "Lebens in der Natur" war
die Bestimmung der Zelle als seiner Grundform, als des letzten Elementes der
Betätigung des "Lebens in der Natur".

Darf diese Grundlage unserer Betrachtung dauernd als die untere Grenze
der Wahrnehmungswirklichkeit und damit als die Scheidungslinie zwischen lebender
und lebloser Substanz gelten?

Neuere Forschungsergebnisse geben Anlaß, diese Frage zu verneinen, das,
was bisher als einfache, beharrende, letzte Werte des Seins und Wirkens ver¬
standen wurde, auf Bewegungen von noch viel kleineren substanziellen Teilchen
zurückzuführen, so eine enge Verwandtschaft zwischen bisher scharf gesonderten
bewegenden Kräften und bisher unbekannte Energien nachzuweisen. Es sei hier
nur hingewiesen auf die Nöntgenstrahlen, auf die Radioaktivität, auf die Elek¬
tronen als kleinste am Aufbau der Substanzen beteiligte Wirkungsträger, und
auf die begründeten Anschauungen von der engen Beziehung, in welcher die
Elektrizität zu den chemischen Vorgängen sowie zum Lichte steht.

Erfährt so die Grundanschauung der leblosen Substanz eine Wandlung, so
wird dies auch auf die Substanz des Lebens in der Natur übergreifen und
Anlaß sein, tiefer liegende Merkmale der Unterscheidung beider Substanzen zu
suchen. Um so mehr, als auch die uttramikroskopische Untersuchung der Zelle
ergibt, daß der Zellkern, der eigentliche Träger der Lebensentfaltung, nicht
einfach ist, sondern ein verwickeltes System von bewegten minimalen Körperchen
darstellt, die Annahme daher begründet erscheint, daß der Beginn des Lebens
sich an Zustände und Vorgänge knüpft, die sich unserer Wahrnehmung überhaupt
entziehen.

Wenn nun auch durch die neueren Forschungsergebnisse die Erfahrungs¬
gewißheit noch nicht erschüttert wird, daß das Leben auf der Erde zeitlich und
räumlich begrenzt und abhängig ist von den chemischen und physikalischen Zu¬
ständen auf der Erde, so gewinnt doch die Vermutung Berechtigung, daß die
Entstehung des "Lebens in der Natur" an einen Substanzzustand geknüpft sei,
dessen Erhaltung nicht bedingt ist durch die chemischen und physikalischen Zu¬
stände, von denen das Leben auf der Erde abhängig erscheint.

Diese Vermutung bedarf jedoch der Begründung durch kosmische Zustände
und Vorgänge, die einesteils als die Quellen der chemischen und physikalischen
Gebundenheit der irdischen Natur zu erachten sind, andernteils durch diese nicht


Über den Ursprung des Lebens

Je unvollständiger unser Wissen von diesen Zuständen und Vorgängen ist, um
so mehr schwindet die Zuverlässigkeit des Urteils über das, was der Wahr¬
nehmung entzogen bleibt. Es ist doch immer nur ein recht kleiner Teil des
unermeßlichen Seins und Geschehens der Wirklichkeit, den wir auch mit unseren
so erweiterten Erkenntnismitteln erfassen können. Das beständige Fortschreiten
der Naturerkenntnis weist vielmehr auf die Unzulässigkeit hin, unsere Erkenntnis
in irgendwelcher Richtung als abgeschlossen zu erachten. Das gilt auch für die
Frage nach der Entstehung des „Lebens in der Natur".

Der Ausgangspunkt unserer Betrachtung des „Lebens in der Natur" war
die Bestimmung der Zelle als seiner Grundform, als des letzten Elementes der
Betätigung des „Lebens in der Natur".

Darf diese Grundlage unserer Betrachtung dauernd als die untere Grenze
der Wahrnehmungswirklichkeit und damit als die Scheidungslinie zwischen lebender
und lebloser Substanz gelten?

Neuere Forschungsergebnisse geben Anlaß, diese Frage zu verneinen, das,
was bisher als einfache, beharrende, letzte Werte des Seins und Wirkens ver¬
standen wurde, auf Bewegungen von noch viel kleineren substanziellen Teilchen
zurückzuführen, so eine enge Verwandtschaft zwischen bisher scharf gesonderten
bewegenden Kräften und bisher unbekannte Energien nachzuweisen. Es sei hier
nur hingewiesen auf die Nöntgenstrahlen, auf die Radioaktivität, auf die Elek¬
tronen als kleinste am Aufbau der Substanzen beteiligte Wirkungsträger, und
auf die begründeten Anschauungen von der engen Beziehung, in welcher die
Elektrizität zu den chemischen Vorgängen sowie zum Lichte steht.

Erfährt so die Grundanschauung der leblosen Substanz eine Wandlung, so
wird dies auch auf die Substanz des Lebens in der Natur übergreifen und
Anlaß sein, tiefer liegende Merkmale der Unterscheidung beider Substanzen zu
suchen. Um so mehr, als auch die uttramikroskopische Untersuchung der Zelle
ergibt, daß der Zellkern, der eigentliche Träger der Lebensentfaltung, nicht
einfach ist, sondern ein verwickeltes System von bewegten minimalen Körperchen
darstellt, die Annahme daher begründet erscheint, daß der Beginn des Lebens
sich an Zustände und Vorgänge knüpft, die sich unserer Wahrnehmung überhaupt
entziehen.

Wenn nun auch durch die neueren Forschungsergebnisse die Erfahrungs¬
gewißheit noch nicht erschüttert wird, daß das Leben auf der Erde zeitlich und
räumlich begrenzt und abhängig ist von den chemischen und physikalischen Zu¬
ständen auf der Erde, so gewinnt doch die Vermutung Berechtigung, daß die
Entstehung des „Lebens in der Natur" an einen Substanzzustand geknüpft sei,
dessen Erhaltung nicht bedingt ist durch die chemischen und physikalischen Zu¬
stände, von denen das Leben auf der Erde abhängig erscheint.

Diese Vermutung bedarf jedoch der Begründung durch kosmische Zustände
und Vorgänge, die einesteils als die Quellen der chemischen und physikalischen
Gebundenheit der irdischen Natur zu erachten sind, andernteils durch diese nicht


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0507" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/326677"/>
          <fw type="header" place="top"> Über den Ursprung des Lebens</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2452" prev="#ID_2451"> Je unvollständiger unser Wissen von diesen Zuständen und Vorgängen ist, um<lb/>
so mehr schwindet die Zuverlässigkeit des Urteils über das, was der Wahr¬<lb/>
nehmung entzogen bleibt. Es ist doch immer nur ein recht kleiner Teil des<lb/>
unermeßlichen Seins und Geschehens der Wirklichkeit, den wir auch mit unseren<lb/>
so erweiterten Erkenntnismitteln erfassen können. Das beständige Fortschreiten<lb/>
der Naturerkenntnis weist vielmehr auf die Unzulässigkeit hin, unsere Erkenntnis<lb/>
in irgendwelcher Richtung als abgeschlossen zu erachten. Das gilt auch für die<lb/>
Frage nach der Entstehung des &#x201E;Lebens in der Natur".</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2453"> Der Ausgangspunkt unserer Betrachtung des &#x201E;Lebens in der Natur" war<lb/>
die Bestimmung der Zelle als seiner Grundform, als des letzten Elementes der<lb/>
Betätigung des &#x201E;Lebens in der Natur".</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2454"> Darf diese Grundlage unserer Betrachtung dauernd als die untere Grenze<lb/>
der Wahrnehmungswirklichkeit und damit als die Scheidungslinie zwischen lebender<lb/>
und lebloser Substanz gelten?</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2455"> Neuere Forschungsergebnisse geben Anlaß, diese Frage zu verneinen, das,<lb/>
was bisher als einfache, beharrende, letzte Werte des Seins und Wirkens ver¬<lb/>
standen wurde, auf Bewegungen von noch viel kleineren substanziellen Teilchen<lb/>
zurückzuführen, so eine enge Verwandtschaft zwischen bisher scharf gesonderten<lb/>
bewegenden Kräften und bisher unbekannte Energien nachzuweisen. Es sei hier<lb/>
nur hingewiesen auf die Nöntgenstrahlen, auf die Radioaktivität, auf die Elek¬<lb/>
tronen als kleinste am Aufbau der Substanzen beteiligte Wirkungsträger, und<lb/>
auf die begründeten Anschauungen von der engen Beziehung, in welcher die<lb/>
Elektrizität zu den chemischen Vorgängen sowie zum Lichte steht.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2456"> Erfährt so die Grundanschauung der leblosen Substanz eine Wandlung, so<lb/>
wird dies auch auf die Substanz des Lebens in der Natur übergreifen und<lb/>
Anlaß sein, tiefer liegende Merkmale der Unterscheidung beider Substanzen zu<lb/>
suchen. Um so mehr, als auch die uttramikroskopische Untersuchung der Zelle<lb/>
ergibt, daß der Zellkern, der eigentliche Träger der Lebensentfaltung, nicht<lb/>
einfach ist, sondern ein verwickeltes System von bewegten minimalen Körperchen<lb/>
darstellt, die Annahme daher begründet erscheint, daß der Beginn des Lebens<lb/>
sich an Zustände und Vorgänge knüpft, die sich unserer Wahrnehmung überhaupt<lb/>
entziehen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2457"> Wenn nun auch durch die neueren Forschungsergebnisse die Erfahrungs¬<lb/>
gewißheit noch nicht erschüttert wird, daß das Leben auf der Erde zeitlich und<lb/>
räumlich begrenzt und abhängig ist von den chemischen und physikalischen Zu¬<lb/>
ständen auf der Erde, so gewinnt doch die Vermutung Berechtigung, daß die<lb/>
Entstehung des &#x201E;Lebens in der Natur" an einen Substanzzustand geknüpft sei,<lb/>
dessen Erhaltung nicht bedingt ist durch die chemischen und physikalischen Zu¬<lb/>
stände, von denen das Leben auf der Erde abhängig erscheint.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2458" next="#ID_2459"> Diese Vermutung bedarf jedoch der Begründung durch kosmische Zustände<lb/>
und Vorgänge, die einesteils als die Quellen der chemischen und physikalischen<lb/>
Gebundenheit der irdischen Natur zu erachten sind, andernteils durch diese nicht</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0507] Über den Ursprung des Lebens Je unvollständiger unser Wissen von diesen Zuständen und Vorgängen ist, um so mehr schwindet die Zuverlässigkeit des Urteils über das, was der Wahr¬ nehmung entzogen bleibt. Es ist doch immer nur ein recht kleiner Teil des unermeßlichen Seins und Geschehens der Wirklichkeit, den wir auch mit unseren so erweiterten Erkenntnismitteln erfassen können. Das beständige Fortschreiten der Naturerkenntnis weist vielmehr auf die Unzulässigkeit hin, unsere Erkenntnis in irgendwelcher Richtung als abgeschlossen zu erachten. Das gilt auch für die Frage nach der Entstehung des „Lebens in der Natur". Der Ausgangspunkt unserer Betrachtung des „Lebens in der Natur" war die Bestimmung der Zelle als seiner Grundform, als des letzten Elementes der Betätigung des „Lebens in der Natur". Darf diese Grundlage unserer Betrachtung dauernd als die untere Grenze der Wahrnehmungswirklichkeit und damit als die Scheidungslinie zwischen lebender und lebloser Substanz gelten? Neuere Forschungsergebnisse geben Anlaß, diese Frage zu verneinen, das, was bisher als einfache, beharrende, letzte Werte des Seins und Wirkens ver¬ standen wurde, auf Bewegungen von noch viel kleineren substanziellen Teilchen zurückzuführen, so eine enge Verwandtschaft zwischen bisher scharf gesonderten bewegenden Kräften und bisher unbekannte Energien nachzuweisen. Es sei hier nur hingewiesen auf die Nöntgenstrahlen, auf die Radioaktivität, auf die Elek¬ tronen als kleinste am Aufbau der Substanzen beteiligte Wirkungsträger, und auf die begründeten Anschauungen von der engen Beziehung, in welcher die Elektrizität zu den chemischen Vorgängen sowie zum Lichte steht. Erfährt so die Grundanschauung der leblosen Substanz eine Wandlung, so wird dies auch auf die Substanz des Lebens in der Natur übergreifen und Anlaß sein, tiefer liegende Merkmale der Unterscheidung beider Substanzen zu suchen. Um so mehr, als auch die uttramikroskopische Untersuchung der Zelle ergibt, daß der Zellkern, der eigentliche Träger der Lebensentfaltung, nicht einfach ist, sondern ein verwickeltes System von bewegten minimalen Körperchen darstellt, die Annahme daher begründet erscheint, daß der Beginn des Lebens sich an Zustände und Vorgänge knüpft, die sich unserer Wahrnehmung überhaupt entziehen. Wenn nun auch durch die neueren Forschungsergebnisse die Erfahrungs¬ gewißheit noch nicht erschüttert wird, daß das Leben auf der Erde zeitlich und räumlich begrenzt und abhängig ist von den chemischen und physikalischen Zu¬ ständen auf der Erde, so gewinnt doch die Vermutung Berechtigung, daß die Entstehung des „Lebens in der Natur" an einen Substanzzustand geknüpft sei, dessen Erhaltung nicht bedingt ist durch die chemischen und physikalischen Zu¬ stände, von denen das Leben auf der Erde abhängig erscheint. Diese Vermutung bedarf jedoch der Begründung durch kosmische Zustände und Vorgänge, die einesteils als die Quellen der chemischen und physikalischen Gebundenheit der irdischen Natur zu erachten sind, andernteils durch diese nicht

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/507
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/507>, abgerufen am 19.10.2024.