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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

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Mit und ohne Waffen

lediglich das Sümmchen rechnen zu können meinte, das sie im Strümpfe auf¬
hob. -- Es ist nicht nur eine technische, sondern auch eine sachlich wesentliche
Leistung der russischen Diplomatie, daß sie, ohne auf Nebenwege zu geraten,
ja, ohne jegliches Schielen und Tasten unentwegt das eine Ziel anstrebte und
im Auge behielt: Abstimmung des balkanischen Gleichgewichtes in dem
Sinne, daß der Inhaber der Meerengen -- wer es künftig auch sein möchte --
nicht zu kräftig sei oder werde. Angesichts dieser Aufgabe, angesichts dieser
Pflicht hat Rußland tatsächlich nichts versäumt, um bei unerhörten Hindernissen
und oft verblüffenden Änderungen im Tempo der Nemesis an den Gurten zu
bleiben. Daneben ist die russische Diplomatie in der Wahl ihrer Mittel erstaunlich
erfinderisch und in deren Anwendung recht vielseitig gewesen. Ferner: während
es bei der Verfolgung des bezeichneten und einzigen Zieles in allen Himmels¬
richtungen Europas rastlos zu tun gab, hatte man sich in der Heimat gegen
die temperamentvollen Quertreibereien des Panslawismus zu wehren. Und man
tat es unbeirrt und mit Erfolg. Noch mehr: trotz aller durch die Verhältnisse
bedingten Wechsel im Tempo und in der Richtung der politischen Maßnahmen,
hatte die russische Diplomatie zuletzt, d. h. nach dem Siege der Verbündeten
über die Türkei, von allen Seiten und mit Recht -- Anerkennung geerntet: der
Dreibund bedürfte der russischen Assistenz in mancher Hinsicht und wußte vor allem
dem offiziellen Nußland Dank für dessen unkriegerisches und wenig panslawistisches
Verhalten, Im speziellen wurde Österreich-Ungarn befriedigt durch die
Nichtbchinderung der Flottendemonstration vor Antivari sowie durch die Bei¬
stimmung zu der Autonomie Albaniens. Gleichzeitig fühlte sich Italien bei diesem
Anlasse zufriedengestellt, weil es sich zum ersten Male der Möglichkeit gegen¬
über sah, seine Sonderinteressen in Valona wahrzunehmen. Die Türkei stellte zu
ihrer Beruhigung fest, daß Rußland am Siegen und Gedeihen Bulgariens nichts
gelegen war. Albanien jubelte seiner autonomen Zukunft entgegen. Monte¬
negro bekam Getreide und bares Geld. Die Balkanvölker in Summa fuhren
fort, in Nußland ihren Freund und Gönner zu sehen. Der Modus, sich
speziell mit Bulgarien auseinanderzusetzen, dessen Siege schließlich weit über das
Rußland bequeme Maß hinausgegangen waren, war vorbereitet durch frühzeitig
und sorgfältig eingeleitete und gehegte Neutralität Rumäniens. Außerdem
war es gelungen, sogar eine Stärkung Rumäniens mit einer Schwächung
Bulgariens zu verbinden und zwar durch die Beschlüsse der Petersburger Bot¬
schafterkonferenz, auf welcher bestimmt wurde, Silistria mitsamt einem gewissen
Territorium von Bulgarien an Rumänien abtreten zu lassen. Gleichzeitig sollte
die Ausbalancierung der beiderseitigen Machtsphären vervollständigt werden
durch die Verpflichtung Bulgariens, den makedonischer Rumänen (Kutzowallachen)
für die Zukunft ein unbehelligtes Dasein zu garantieren. Bulgarien hat keine
ernstlichen Bedenken geäußert, auf diese Vorschläge einzugehen; seine erstaun¬
lichen Waffenerfolge und verheißungsvoller Eroberungen zelligem eine begreif¬
liche Bereitwilligkeit des kelix pogssssor. Schon die Einnahme Adrianopels


Mit und ohne Waffen

lediglich das Sümmchen rechnen zu können meinte, das sie im Strümpfe auf¬
hob. — Es ist nicht nur eine technische, sondern auch eine sachlich wesentliche
Leistung der russischen Diplomatie, daß sie, ohne auf Nebenwege zu geraten,
ja, ohne jegliches Schielen und Tasten unentwegt das eine Ziel anstrebte und
im Auge behielt: Abstimmung des balkanischen Gleichgewichtes in dem
Sinne, daß der Inhaber der Meerengen — wer es künftig auch sein möchte —
nicht zu kräftig sei oder werde. Angesichts dieser Aufgabe, angesichts dieser
Pflicht hat Rußland tatsächlich nichts versäumt, um bei unerhörten Hindernissen
und oft verblüffenden Änderungen im Tempo der Nemesis an den Gurten zu
bleiben. Daneben ist die russische Diplomatie in der Wahl ihrer Mittel erstaunlich
erfinderisch und in deren Anwendung recht vielseitig gewesen. Ferner: während
es bei der Verfolgung des bezeichneten und einzigen Zieles in allen Himmels¬
richtungen Europas rastlos zu tun gab, hatte man sich in der Heimat gegen
die temperamentvollen Quertreibereien des Panslawismus zu wehren. Und man
tat es unbeirrt und mit Erfolg. Noch mehr: trotz aller durch die Verhältnisse
bedingten Wechsel im Tempo und in der Richtung der politischen Maßnahmen,
hatte die russische Diplomatie zuletzt, d. h. nach dem Siege der Verbündeten
über die Türkei, von allen Seiten und mit Recht — Anerkennung geerntet: der
Dreibund bedürfte der russischen Assistenz in mancher Hinsicht und wußte vor allem
dem offiziellen Nußland Dank für dessen unkriegerisches und wenig panslawistisches
Verhalten, Im speziellen wurde Österreich-Ungarn befriedigt durch die
Nichtbchinderung der Flottendemonstration vor Antivari sowie durch die Bei¬
stimmung zu der Autonomie Albaniens. Gleichzeitig fühlte sich Italien bei diesem
Anlasse zufriedengestellt, weil es sich zum ersten Male der Möglichkeit gegen¬
über sah, seine Sonderinteressen in Valona wahrzunehmen. Die Türkei stellte zu
ihrer Beruhigung fest, daß Rußland am Siegen und Gedeihen Bulgariens nichts
gelegen war. Albanien jubelte seiner autonomen Zukunft entgegen. Monte¬
negro bekam Getreide und bares Geld. Die Balkanvölker in Summa fuhren
fort, in Nußland ihren Freund und Gönner zu sehen. Der Modus, sich
speziell mit Bulgarien auseinanderzusetzen, dessen Siege schließlich weit über das
Rußland bequeme Maß hinausgegangen waren, war vorbereitet durch frühzeitig
und sorgfältig eingeleitete und gehegte Neutralität Rumäniens. Außerdem
war es gelungen, sogar eine Stärkung Rumäniens mit einer Schwächung
Bulgariens zu verbinden und zwar durch die Beschlüsse der Petersburger Bot¬
schafterkonferenz, auf welcher bestimmt wurde, Silistria mitsamt einem gewissen
Territorium von Bulgarien an Rumänien abtreten zu lassen. Gleichzeitig sollte
die Ausbalancierung der beiderseitigen Machtsphären vervollständigt werden
durch die Verpflichtung Bulgariens, den makedonischer Rumänen (Kutzowallachen)
für die Zukunft ein unbehelligtes Dasein zu garantieren. Bulgarien hat keine
ernstlichen Bedenken geäußert, auf diese Vorschläge einzugehen; seine erstaun¬
lichen Waffenerfolge und verheißungsvoller Eroberungen zelligem eine begreif¬
liche Bereitwilligkeit des kelix pogssssor. Schon die Einnahme Adrianopels


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[0456] Mit und ohne Waffen lediglich das Sümmchen rechnen zu können meinte, das sie im Strümpfe auf¬ hob. — Es ist nicht nur eine technische, sondern auch eine sachlich wesentliche Leistung der russischen Diplomatie, daß sie, ohne auf Nebenwege zu geraten, ja, ohne jegliches Schielen und Tasten unentwegt das eine Ziel anstrebte und im Auge behielt: Abstimmung des balkanischen Gleichgewichtes in dem Sinne, daß der Inhaber der Meerengen — wer es künftig auch sein möchte — nicht zu kräftig sei oder werde. Angesichts dieser Aufgabe, angesichts dieser Pflicht hat Rußland tatsächlich nichts versäumt, um bei unerhörten Hindernissen und oft verblüffenden Änderungen im Tempo der Nemesis an den Gurten zu bleiben. Daneben ist die russische Diplomatie in der Wahl ihrer Mittel erstaunlich erfinderisch und in deren Anwendung recht vielseitig gewesen. Ferner: während es bei der Verfolgung des bezeichneten und einzigen Zieles in allen Himmels¬ richtungen Europas rastlos zu tun gab, hatte man sich in der Heimat gegen die temperamentvollen Quertreibereien des Panslawismus zu wehren. Und man tat es unbeirrt und mit Erfolg. Noch mehr: trotz aller durch die Verhältnisse bedingten Wechsel im Tempo und in der Richtung der politischen Maßnahmen, hatte die russische Diplomatie zuletzt, d. h. nach dem Siege der Verbündeten über die Türkei, von allen Seiten und mit Recht — Anerkennung geerntet: der Dreibund bedürfte der russischen Assistenz in mancher Hinsicht und wußte vor allem dem offiziellen Nußland Dank für dessen unkriegerisches und wenig panslawistisches Verhalten, Im speziellen wurde Österreich-Ungarn befriedigt durch die Nichtbchinderung der Flottendemonstration vor Antivari sowie durch die Bei¬ stimmung zu der Autonomie Albaniens. Gleichzeitig fühlte sich Italien bei diesem Anlasse zufriedengestellt, weil es sich zum ersten Male der Möglichkeit gegen¬ über sah, seine Sonderinteressen in Valona wahrzunehmen. Die Türkei stellte zu ihrer Beruhigung fest, daß Rußland am Siegen und Gedeihen Bulgariens nichts gelegen war. Albanien jubelte seiner autonomen Zukunft entgegen. Monte¬ negro bekam Getreide und bares Geld. Die Balkanvölker in Summa fuhren fort, in Nußland ihren Freund und Gönner zu sehen. Der Modus, sich speziell mit Bulgarien auseinanderzusetzen, dessen Siege schließlich weit über das Rußland bequeme Maß hinausgegangen waren, war vorbereitet durch frühzeitig und sorgfältig eingeleitete und gehegte Neutralität Rumäniens. Außerdem war es gelungen, sogar eine Stärkung Rumäniens mit einer Schwächung Bulgariens zu verbinden und zwar durch die Beschlüsse der Petersburger Bot¬ schafterkonferenz, auf welcher bestimmt wurde, Silistria mitsamt einem gewissen Territorium von Bulgarien an Rumänien abtreten zu lassen. Gleichzeitig sollte die Ausbalancierung der beiderseitigen Machtsphären vervollständigt werden durch die Verpflichtung Bulgariens, den makedonischer Rumänen (Kutzowallachen) für die Zukunft ein unbehelligtes Dasein zu garantieren. Bulgarien hat keine ernstlichen Bedenken geäußert, auf diese Vorschläge einzugehen; seine erstaun¬ lichen Waffenerfolge und verheißungsvoller Eroberungen zelligem eine begreif¬ liche Bereitwilligkeit des kelix pogssssor. Schon die Einnahme Adrianopels

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/456>, abgerufen am 21.10.2024.