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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

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Wider die Sprachvcrderbnis

Leute, denen solche Fragen höchst gleichgültig sind, da sie in den Ge¬
bilden der Sprache nicht viel mehr sehen als vereinbarte Zeichen (wie etwa
mathematische Formeln), die man nach Belieben auch abändern könne, wenn
es gerade zweckmäßig erscheine. Ist doch kürzlich alles Ernstes der Vorschlag
gemacht worden*), die deutsche Sprache der noch vorhandenen Beugungsformen
möglichst zu entkleiden, um sie dem Ausländer leichter erlernbar zu machen und
damit ihre Weltgeltung zu erhöhen! Mit solchen Leuten erhoffen wir keine Ver¬
ständigung. Es ist uns nicht recht begreiflich, weshalb diese Herren eigentlich
auf halbem Wege stehenbleiben und sich nicht lieber auf die künstliche Welt¬
sprache (Esperanto oder dergleichen) verlegen; ist Bequemlichkeit der oberste Grundsatz
der Sprache, dann erfindet man eben am besten eine neue, die hiernach ein¬
gerichtet ist. Leute dieser Geistesrichtung müssen doch keine Ahnung davon
haben, was in einer Sprache lebt und webt, daß Wörter gleichsam beseelt sind
und daß man an einem lebendigen Gebilde, wie es die Sprache ist, nicht be¬
liebig herumschneiden kann, ohne es aufs tiefste zu verwunden, wenn nicht zu
töten. Wären Wörter nur tote Buchstabenverbindungen, wie wären sie denn
imstande, die größten menschlichen Empfindungen, höchstes Glück und tiefsten
Haß, zu erwecken, wie könnten sie beseeligen, begeistern, verwunden, töten!
Ein kleines Beispiel hierzu. In den Volksvertretungen ist der Ausdruck bewußte
Unwahrheit erlaubt, das Wort Lüge unzulässig. In der Tat, es ist ein Unter¬
schied vorhanden. Verstandesmäßig nicht, da sagen beide dasselbe, aber während
dieses Wort ein starkes Gefühl erweckt, ist jener Ausdruck frei von jeglichem
Gefühlswerte. Das ist der Unterschied zwischen lebendiger und gemachter
Sprache.

Endlich noch ein Wort zu dem mehrfach geäußerten Einwände, bei meinen
Ausführungen verkennte ich den natürlichen Fortschritt der Sprache. Mir
erscheint es allerdings sehr wenig natürlich, daß man den lebendigen Sprach¬
formen auf dem Papiere den Garaus macht, und ich möchte wissen, welcher
Fortschritt darin besteht, daß uns gegenüber einer Jahrtausende alten und
lebendigen Bildung Rolandseck heute ein Rolandbrunnen aufgezwungen wird.
Ich fürchte vielmehr, daß diese betrachteten Umbildungen zumeist einer un¬
gezügelten Neuerungssucht entspringen, und diesem Einflüsse sollten sich allerdings
alle entgegenstellen, die der Muttersprache in Liebe und Ehrfurcht zugetan sind.


(v. Briegleb



*) Die deutsche Schulsprache ein Todfeind des Deutschtums, Von einem Deutschen.
Wider die Sprachvcrderbnis

Leute, denen solche Fragen höchst gleichgültig sind, da sie in den Ge¬
bilden der Sprache nicht viel mehr sehen als vereinbarte Zeichen (wie etwa
mathematische Formeln), die man nach Belieben auch abändern könne, wenn
es gerade zweckmäßig erscheine. Ist doch kürzlich alles Ernstes der Vorschlag
gemacht worden*), die deutsche Sprache der noch vorhandenen Beugungsformen
möglichst zu entkleiden, um sie dem Ausländer leichter erlernbar zu machen und
damit ihre Weltgeltung zu erhöhen! Mit solchen Leuten erhoffen wir keine Ver¬
ständigung. Es ist uns nicht recht begreiflich, weshalb diese Herren eigentlich
auf halbem Wege stehenbleiben und sich nicht lieber auf die künstliche Welt¬
sprache (Esperanto oder dergleichen) verlegen; ist Bequemlichkeit der oberste Grundsatz
der Sprache, dann erfindet man eben am besten eine neue, die hiernach ein¬
gerichtet ist. Leute dieser Geistesrichtung müssen doch keine Ahnung davon
haben, was in einer Sprache lebt und webt, daß Wörter gleichsam beseelt sind
und daß man an einem lebendigen Gebilde, wie es die Sprache ist, nicht be¬
liebig herumschneiden kann, ohne es aufs tiefste zu verwunden, wenn nicht zu
töten. Wären Wörter nur tote Buchstabenverbindungen, wie wären sie denn
imstande, die größten menschlichen Empfindungen, höchstes Glück und tiefsten
Haß, zu erwecken, wie könnten sie beseeligen, begeistern, verwunden, töten!
Ein kleines Beispiel hierzu. In den Volksvertretungen ist der Ausdruck bewußte
Unwahrheit erlaubt, das Wort Lüge unzulässig. In der Tat, es ist ein Unter¬
schied vorhanden. Verstandesmäßig nicht, da sagen beide dasselbe, aber während
dieses Wort ein starkes Gefühl erweckt, ist jener Ausdruck frei von jeglichem
Gefühlswerte. Das ist der Unterschied zwischen lebendiger und gemachter
Sprache.

Endlich noch ein Wort zu dem mehrfach geäußerten Einwände, bei meinen
Ausführungen verkennte ich den natürlichen Fortschritt der Sprache. Mir
erscheint es allerdings sehr wenig natürlich, daß man den lebendigen Sprach¬
formen auf dem Papiere den Garaus macht, und ich möchte wissen, welcher
Fortschritt darin besteht, daß uns gegenüber einer Jahrtausende alten und
lebendigen Bildung Rolandseck heute ein Rolandbrunnen aufgezwungen wird.
Ich fürchte vielmehr, daß diese betrachteten Umbildungen zumeist einer un¬
gezügelten Neuerungssucht entspringen, und diesem Einflüsse sollten sich allerdings
alle entgegenstellen, die der Muttersprache in Liebe und Ehrfurcht zugetan sind.


(v. Briegleb



*) Die deutsche Schulsprache ein Todfeind des Deutschtums, Von einem Deutschen.
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[0436] Wider die Sprachvcrderbnis Leute, denen solche Fragen höchst gleichgültig sind, da sie in den Ge¬ bilden der Sprache nicht viel mehr sehen als vereinbarte Zeichen (wie etwa mathematische Formeln), die man nach Belieben auch abändern könne, wenn es gerade zweckmäßig erscheine. Ist doch kürzlich alles Ernstes der Vorschlag gemacht worden*), die deutsche Sprache der noch vorhandenen Beugungsformen möglichst zu entkleiden, um sie dem Ausländer leichter erlernbar zu machen und damit ihre Weltgeltung zu erhöhen! Mit solchen Leuten erhoffen wir keine Ver¬ ständigung. Es ist uns nicht recht begreiflich, weshalb diese Herren eigentlich auf halbem Wege stehenbleiben und sich nicht lieber auf die künstliche Welt¬ sprache (Esperanto oder dergleichen) verlegen; ist Bequemlichkeit der oberste Grundsatz der Sprache, dann erfindet man eben am besten eine neue, die hiernach ein¬ gerichtet ist. Leute dieser Geistesrichtung müssen doch keine Ahnung davon haben, was in einer Sprache lebt und webt, daß Wörter gleichsam beseelt sind und daß man an einem lebendigen Gebilde, wie es die Sprache ist, nicht be¬ liebig herumschneiden kann, ohne es aufs tiefste zu verwunden, wenn nicht zu töten. Wären Wörter nur tote Buchstabenverbindungen, wie wären sie denn imstande, die größten menschlichen Empfindungen, höchstes Glück und tiefsten Haß, zu erwecken, wie könnten sie beseeligen, begeistern, verwunden, töten! Ein kleines Beispiel hierzu. In den Volksvertretungen ist der Ausdruck bewußte Unwahrheit erlaubt, das Wort Lüge unzulässig. In der Tat, es ist ein Unter¬ schied vorhanden. Verstandesmäßig nicht, da sagen beide dasselbe, aber während dieses Wort ein starkes Gefühl erweckt, ist jener Ausdruck frei von jeglichem Gefühlswerte. Das ist der Unterschied zwischen lebendiger und gemachter Sprache. Endlich noch ein Wort zu dem mehrfach geäußerten Einwände, bei meinen Ausführungen verkennte ich den natürlichen Fortschritt der Sprache. Mir erscheint es allerdings sehr wenig natürlich, daß man den lebendigen Sprach¬ formen auf dem Papiere den Garaus macht, und ich möchte wissen, welcher Fortschritt darin besteht, daß uns gegenüber einer Jahrtausende alten und lebendigen Bildung Rolandseck heute ein Rolandbrunnen aufgezwungen wird. Ich fürchte vielmehr, daß diese betrachteten Umbildungen zumeist einer un¬ gezügelten Neuerungssucht entspringen, und diesem Einflüsse sollten sich allerdings alle entgegenstellen, die der Muttersprache in Liebe und Ehrfurcht zugetan sind. (v. Briegleb *) Die deutsche Schulsprache ein Todfeind des Deutschtums, Von einem Deutschen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/436>, abgerufen am 28.12.2024.