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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

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Wider die Sprachverderbnis

sprünglich wirklich der besten Absicht von Freunden der Muttersprache entsprungen
ist (da wir Fälle des Überganges haben: Amtmann--Amtsrichter, Rathaus--
Ratsherr usw.). müßte es sie denn nicht allmählich bedenklich machen, zu
sehen, welche Meute sich ihnen nunmehr angeschlossen hat. Die ganze Schar
solcher, denen die Zerstörung aller Sprachformen eine Lust ist, hat die Zerstörung
des Bindungs-s freudig aufgenommen, jeder dumme Junge glaubt heute Wunder
was großes zu tun, wenn er beim Schreiben oder Abschreiben ein s wegläßt.

Im Allgemeinen Deutschen Sprachverein, wo man die Tilgung des natür¬
lichen s im großen Umfange betreibt (so Schiffbau, Tabakhandel, Ausland¬
deutsche, Geschichtschreibung, wahrheitliebend usw.), läßt man allerdings eine
gewisse Grenze gelten, man geht nicht bis zu Formen, wie Betriebleitung,
Geschichtforschung. Regierungrat, Landschaftbild, die M. Harden schreibt, aber
hat man sich dort je gegen eine solche Entstellung entschieden verwahrt? Man
duldet sie stillschweigend und scheint über die übereifriger Vorkämpfer keineswegs
ungehalten zu sein. Welche andere gebildete oder ungebildete Sprache ist
wohl solchen gewaltsamen Eingriffen ausgesetzt? Ich glaube, kaum irgend eine
andere als nur die deutsche. Man will uns belehren, jenes s sei häßlich.
Häßlich oder nicht häßlich, es gehört zu unserer Sprache! Wir möchten unter
Millionen Polen den einen sehen, der sich dazu überreden ließe, sein schtsch sei
häßlich, er möchte doch das eine sah oder beide künftig weglassen, wir möchten
den Engländer sehen, der zugäbe, sein dunkles a stoße an und würde besser
durch ein Helles reines a ersetzt. Hier zeigt sich eben so recht der völkische Un¬
wert des Deutschen. Keine Spur von der natürlichsten Antwort: Redet, was
Ihr wollt, ich lasse mir das Wort nicht rauben, das mir von Jugend auf ver¬
traut ist. Aus einer Sache, in der das Kind, bevor es in die Schule geschickt
wird, der schlichte Mann aus dem Volke, der nicht von der Vielleserei an¬
gekränkelt ist, keine Unsicherheit kennt, machen wir einen Gegenstand besonderer
schriftmäßiger Bildung, um jene natürlichen Formen zu verleugnen.

War der Anfang erst einmal gemacht, war es möglich geworden, zu
schreiben, was man nicht spricht, nun dann ist mit diesem Grundsatze natürlich
das Feld für jedes tolle Treiben geöffnet. So dürfen wir uns nicht mehr
wundern, wenn uns heute die unmöglichsten Gebilde begegnen, die nichts sind
als die auf die Spitze getriebenen Früchte jener Vorbilder, wie Kaiser Wilhelm Il¬
Land. Syndikat für Erdölgewinnung-Anteile, Große Europäische Luxuszüge-
Gesellschaft usw. Statt gegen diese grausame Entstellung der deutschen Sprache
die ihnen gebührende Geißel zu gebrauchen, sonnt man sich in der Verspottung
süddeutscher Bezeichnungen, wie k. Bauamtsschreibers-Gattin und ähnlicher. --
Leider, leider hat sich auch unsere Amtssprache dieser Vergewaltigung der
Sprache, die sich hauptsächlich in der Beseitigung des s äußert, aber noch viele
andere Erscheinungen hervorbringt, ganz und gar in die Arme geworfen, ja sie
schreitet hierbei vielfach an der Spitze. Welcher Unbefangene mag heute wohl
nur ahnen, daß eine von ihm natürlicher Weise gebrauchte Form Abfahrtszeit


Wider die Sprachverderbnis

sprünglich wirklich der besten Absicht von Freunden der Muttersprache entsprungen
ist (da wir Fälle des Überganges haben: Amtmann—Amtsrichter, Rathaus—
Ratsherr usw.). müßte es sie denn nicht allmählich bedenklich machen, zu
sehen, welche Meute sich ihnen nunmehr angeschlossen hat. Die ganze Schar
solcher, denen die Zerstörung aller Sprachformen eine Lust ist, hat die Zerstörung
des Bindungs-s freudig aufgenommen, jeder dumme Junge glaubt heute Wunder
was großes zu tun, wenn er beim Schreiben oder Abschreiben ein s wegläßt.

Im Allgemeinen Deutschen Sprachverein, wo man die Tilgung des natür¬
lichen s im großen Umfange betreibt (so Schiffbau, Tabakhandel, Ausland¬
deutsche, Geschichtschreibung, wahrheitliebend usw.), läßt man allerdings eine
gewisse Grenze gelten, man geht nicht bis zu Formen, wie Betriebleitung,
Geschichtforschung. Regierungrat, Landschaftbild, die M. Harden schreibt, aber
hat man sich dort je gegen eine solche Entstellung entschieden verwahrt? Man
duldet sie stillschweigend und scheint über die übereifriger Vorkämpfer keineswegs
ungehalten zu sein. Welche andere gebildete oder ungebildete Sprache ist
wohl solchen gewaltsamen Eingriffen ausgesetzt? Ich glaube, kaum irgend eine
andere als nur die deutsche. Man will uns belehren, jenes s sei häßlich.
Häßlich oder nicht häßlich, es gehört zu unserer Sprache! Wir möchten unter
Millionen Polen den einen sehen, der sich dazu überreden ließe, sein schtsch sei
häßlich, er möchte doch das eine sah oder beide künftig weglassen, wir möchten
den Engländer sehen, der zugäbe, sein dunkles a stoße an und würde besser
durch ein Helles reines a ersetzt. Hier zeigt sich eben so recht der völkische Un¬
wert des Deutschen. Keine Spur von der natürlichsten Antwort: Redet, was
Ihr wollt, ich lasse mir das Wort nicht rauben, das mir von Jugend auf ver¬
traut ist. Aus einer Sache, in der das Kind, bevor es in die Schule geschickt
wird, der schlichte Mann aus dem Volke, der nicht von der Vielleserei an¬
gekränkelt ist, keine Unsicherheit kennt, machen wir einen Gegenstand besonderer
schriftmäßiger Bildung, um jene natürlichen Formen zu verleugnen.

War der Anfang erst einmal gemacht, war es möglich geworden, zu
schreiben, was man nicht spricht, nun dann ist mit diesem Grundsatze natürlich
das Feld für jedes tolle Treiben geöffnet. So dürfen wir uns nicht mehr
wundern, wenn uns heute die unmöglichsten Gebilde begegnen, die nichts sind
als die auf die Spitze getriebenen Früchte jener Vorbilder, wie Kaiser Wilhelm Il¬
Land. Syndikat für Erdölgewinnung-Anteile, Große Europäische Luxuszüge-
Gesellschaft usw. Statt gegen diese grausame Entstellung der deutschen Sprache
die ihnen gebührende Geißel zu gebrauchen, sonnt man sich in der Verspottung
süddeutscher Bezeichnungen, wie k. Bauamtsschreibers-Gattin und ähnlicher. —
Leider, leider hat sich auch unsere Amtssprache dieser Vergewaltigung der
Sprache, die sich hauptsächlich in der Beseitigung des s äußert, aber noch viele
andere Erscheinungen hervorbringt, ganz und gar in die Arme geworfen, ja sie
schreitet hierbei vielfach an der Spitze. Welcher Unbefangene mag heute wohl
nur ahnen, daß eine von ihm natürlicher Weise gebrauchte Form Abfahrtszeit


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/433>, abgerufen am 19.10.2024.