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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

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Zur Sprachkritik

geschaffen hat. Das hindert nicht, daß diese nun, groß geworden, umgekehrt
das Denken assoziativ gängeln kann. Diese historische Wechselwirkung ist noch
keine Identität. Wir möchten uns noch nicht aus die überraschenden Ergebnisse
der beiden rechnenden Pferde des Herrn Kräik in Elberfeld (Kosmos 1912,
Heft 3) berufen. Aber Mauthners Beweis, daß Denken und Sprechen physio¬
logisch Bewegungen der Sprachorgane und Gehirnzellen sind -- daß diese
Bewegungen zweckdienliche Handlungen darstellen, an denen aber nur die diffe¬
rierenden Minimalbewegungen der Muskeln wirklich sind -- daß von diesen
Bewegungsänderungen "nicht die kleinste anders beim Denken als beim Sprechen"
ist (Seite 180) -- daß nur unsere Aufmerksamkeit, wenn wir die Handlung zu
einer verbalen Zweckeinheit zusammenfassen, die als solche unwirklich ist. "ein¬
mal mehr auf das Ziel (Denken), das anderem"! auf den Weg (Sprechen)
gerichtet" ist -- dieser ganze scharfsinnige Beweis endet mit demselben Dilemma,
ob wir das Sprechen als den "Weg" des Denkens ansehen wollen, als seine
zur Realität notwendige Außenseite. Denn die physisch getrennten Bewegungen
(Kehle -- Gehirn) können "die gleichen" (Seite 179) nur für eine höhere,
physiologische Ansicht sein, die ihre Subsumierung unter eine umfassende gemein¬
same Zweckvorstellung vorwegnimmt. Der Vergleich mit dem Hunde, den wir
als laufend oder jagend vorstellen können, "ohne daß die kleinste der Bewegungs-
änderungen dadurch anders wird", ist deshalb nicht schlüssig. Denn bei diesem
sind beide Male physisch dieselben Muskeln in Frage. Ob dagegen notwendig,
und wie zeitlich die örtlich getrennten Bewegungsänderungen des Sprechdenkens
verbunden sind, dafür ist, wie Mauthner selbst sagt, "noch" kein Nachweis zu
erbringen. Einstweilen kann mir darum auch mein Hund einreden, daß keine
Freude ohne Schwanzwedeln ist.

Weil nun in der Sprache die Erinnerung vergangenen Denkens niedergelegt
ist, ist Sprache nichts anderes als Gedächtnis. Dieses, als psychische Kontinuität,
begreift Phantasie und Vernunft unter sich (gegen Bacon). "Wir wissen nichts,
wir denken nichts, wir schaffen nichts, als was wir aus dem Gedächtnisse wissen,
denken, schaffen" (Seite 263). Gedächtnis wird für Mauthner zu einem tief¬
sinnigen metaphysischen Einheitsbegriff, indem er es als eine Arbeitsform
(Energie) von der Psychologie auf die Biologie überträgt. "Die gemeinsame
Ursache jeder Einheit (der Ureinheit im menschlichen Ich und der Einheit in den
Organismen) ist das Gedächtnis" (Seite 338). "Der Sinn des Lebens scheint
der zu sein, daß das Gedächtnis, welches in der unorganischen Welt so leicht
gestört werden kann, sich in den Organismen zu einer viel stabileren Formen¬
energie konzentrieren könne. Drei Stufen des konzentrierter Gedächtnisses wären
da zu beobachten: die lebendigen Formen sind Produkte eines Keimgedächtnisses
(für die Vergangenheit), welches sich dann in den Tieren und im Menschen
besondere Nervenorgane für ein noch höher potenziertes Gedächtnis bildet."
Dieses geht auf die Gegenwart und stellt so "eine Beziehung zur Umwelt her,
die wir das Bewußtsein nennen. Auf die Zukunft gar weist das Gedächtnis


Zur Sprachkritik

geschaffen hat. Das hindert nicht, daß diese nun, groß geworden, umgekehrt
das Denken assoziativ gängeln kann. Diese historische Wechselwirkung ist noch
keine Identität. Wir möchten uns noch nicht aus die überraschenden Ergebnisse
der beiden rechnenden Pferde des Herrn Kräik in Elberfeld (Kosmos 1912,
Heft 3) berufen. Aber Mauthners Beweis, daß Denken und Sprechen physio¬
logisch Bewegungen der Sprachorgane und Gehirnzellen sind — daß diese
Bewegungen zweckdienliche Handlungen darstellen, an denen aber nur die diffe¬
rierenden Minimalbewegungen der Muskeln wirklich sind — daß von diesen
Bewegungsänderungen „nicht die kleinste anders beim Denken als beim Sprechen"
ist (Seite 180) — daß nur unsere Aufmerksamkeit, wenn wir die Handlung zu
einer verbalen Zweckeinheit zusammenfassen, die als solche unwirklich ist. „ein¬
mal mehr auf das Ziel (Denken), das anderem«! auf den Weg (Sprechen)
gerichtet" ist — dieser ganze scharfsinnige Beweis endet mit demselben Dilemma,
ob wir das Sprechen als den „Weg" des Denkens ansehen wollen, als seine
zur Realität notwendige Außenseite. Denn die physisch getrennten Bewegungen
(Kehle — Gehirn) können „die gleichen" (Seite 179) nur für eine höhere,
physiologische Ansicht sein, die ihre Subsumierung unter eine umfassende gemein¬
same Zweckvorstellung vorwegnimmt. Der Vergleich mit dem Hunde, den wir
als laufend oder jagend vorstellen können, „ohne daß die kleinste der Bewegungs-
änderungen dadurch anders wird", ist deshalb nicht schlüssig. Denn bei diesem
sind beide Male physisch dieselben Muskeln in Frage. Ob dagegen notwendig,
und wie zeitlich die örtlich getrennten Bewegungsänderungen des Sprechdenkens
verbunden sind, dafür ist, wie Mauthner selbst sagt, „noch" kein Nachweis zu
erbringen. Einstweilen kann mir darum auch mein Hund einreden, daß keine
Freude ohne Schwanzwedeln ist.

Weil nun in der Sprache die Erinnerung vergangenen Denkens niedergelegt
ist, ist Sprache nichts anderes als Gedächtnis. Dieses, als psychische Kontinuität,
begreift Phantasie und Vernunft unter sich (gegen Bacon). „Wir wissen nichts,
wir denken nichts, wir schaffen nichts, als was wir aus dem Gedächtnisse wissen,
denken, schaffen" (Seite 263). Gedächtnis wird für Mauthner zu einem tief¬
sinnigen metaphysischen Einheitsbegriff, indem er es als eine Arbeitsform
(Energie) von der Psychologie auf die Biologie überträgt. „Die gemeinsame
Ursache jeder Einheit (der Ureinheit im menschlichen Ich und der Einheit in den
Organismen) ist das Gedächtnis" (Seite 338). „Der Sinn des Lebens scheint
der zu sein, daß das Gedächtnis, welches in der unorganischen Welt so leicht
gestört werden kann, sich in den Organismen zu einer viel stabileren Formen¬
energie konzentrieren könne. Drei Stufen des konzentrierter Gedächtnisses wären
da zu beobachten: die lebendigen Formen sind Produkte eines Keimgedächtnisses
(für die Vergangenheit), welches sich dann in den Tieren und im Menschen
besondere Nervenorgane für ein noch höher potenziertes Gedächtnis bildet."
Dieses geht auf die Gegenwart und stellt so „eine Beziehung zur Umwelt her,
die wir das Bewußtsein nennen. Auf die Zukunft gar weist das Gedächtnis


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[0043] Zur Sprachkritik geschaffen hat. Das hindert nicht, daß diese nun, groß geworden, umgekehrt das Denken assoziativ gängeln kann. Diese historische Wechselwirkung ist noch keine Identität. Wir möchten uns noch nicht aus die überraschenden Ergebnisse der beiden rechnenden Pferde des Herrn Kräik in Elberfeld (Kosmos 1912, Heft 3) berufen. Aber Mauthners Beweis, daß Denken und Sprechen physio¬ logisch Bewegungen der Sprachorgane und Gehirnzellen sind — daß diese Bewegungen zweckdienliche Handlungen darstellen, an denen aber nur die diffe¬ rierenden Minimalbewegungen der Muskeln wirklich sind — daß von diesen Bewegungsänderungen „nicht die kleinste anders beim Denken als beim Sprechen" ist (Seite 180) — daß nur unsere Aufmerksamkeit, wenn wir die Handlung zu einer verbalen Zweckeinheit zusammenfassen, die als solche unwirklich ist. „ein¬ mal mehr auf das Ziel (Denken), das anderem«! auf den Weg (Sprechen) gerichtet" ist — dieser ganze scharfsinnige Beweis endet mit demselben Dilemma, ob wir das Sprechen als den „Weg" des Denkens ansehen wollen, als seine zur Realität notwendige Außenseite. Denn die physisch getrennten Bewegungen (Kehle — Gehirn) können „die gleichen" (Seite 179) nur für eine höhere, physiologische Ansicht sein, die ihre Subsumierung unter eine umfassende gemein¬ same Zweckvorstellung vorwegnimmt. Der Vergleich mit dem Hunde, den wir als laufend oder jagend vorstellen können, „ohne daß die kleinste der Bewegungs- änderungen dadurch anders wird", ist deshalb nicht schlüssig. Denn bei diesem sind beide Male physisch dieselben Muskeln in Frage. Ob dagegen notwendig, und wie zeitlich die örtlich getrennten Bewegungsänderungen des Sprechdenkens verbunden sind, dafür ist, wie Mauthner selbst sagt, „noch" kein Nachweis zu erbringen. Einstweilen kann mir darum auch mein Hund einreden, daß keine Freude ohne Schwanzwedeln ist. Weil nun in der Sprache die Erinnerung vergangenen Denkens niedergelegt ist, ist Sprache nichts anderes als Gedächtnis. Dieses, als psychische Kontinuität, begreift Phantasie und Vernunft unter sich (gegen Bacon). „Wir wissen nichts, wir denken nichts, wir schaffen nichts, als was wir aus dem Gedächtnisse wissen, denken, schaffen" (Seite 263). Gedächtnis wird für Mauthner zu einem tief¬ sinnigen metaphysischen Einheitsbegriff, indem er es als eine Arbeitsform (Energie) von der Psychologie auf die Biologie überträgt. „Die gemeinsame Ursache jeder Einheit (der Ureinheit im menschlichen Ich und der Einheit in den Organismen) ist das Gedächtnis" (Seite 338). „Der Sinn des Lebens scheint der zu sein, daß das Gedächtnis, welches in der unorganischen Welt so leicht gestört werden kann, sich in den Organismen zu einer viel stabileren Formen¬ energie konzentrieren könne. Drei Stufen des konzentrierter Gedächtnisses wären da zu beobachten: die lebendigen Formen sind Produkte eines Keimgedächtnisses (für die Vergangenheit), welches sich dann in den Tieren und im Menschen besondere Nervenorgane für ein noch höher potenziertes Gedächtnis bildet." Dieses geht auf die Gegenwart und stellt so „eine Beziehung zur Umwelt her, die wir das Bewußtsein nennen. Auf die Zukunft gar weist das Gedächtnis

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/43>, abgerufen am 27.12.2024.