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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

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Die englische Vrientpolitik

Abgabefähigkeit des kleinen Heeres, mit dem das indische Reich geschützt werden
muß. Die Folge ist, daß der Einfluß der russischen Bajonette, die die russische
Einflußsphäre besetzt halten, über diese Grenzen hinauswächst, und steigende
Bedeutung auch innerhalb der sogenannten neutralen Sphäre gewinnt. Die
strategischen Erwägungen wegen Perstens haben in erhöhtem Maße Gültig¬
keit für Türkisch-Asien. Das englische Geschwader auf dem Persischen Golf
bildet dort das einzige militärische Machtmittel, dessen Einfluß naturgemäß nicht
über Koweit und den Schad-el-Arad hinausreicht. Irgendwelche Expansions¬
gelüste liegen dem England von heute völlig fern. Es "verdaut" seinen riesigen
Kolonialbesitz. Mit dem inneren Ausbau und dem äußeren Zusammenschluß
ist das Reich auf Generationen hinaus beschäftigt. Die wirtschaftliche und
zivilisatorische Erschließung birgt viel langwierigere und mühevollere Aufgaben
als die Okkupationsära des vergangenen Jahrhunderts. Zu diesem Prozeß
verlangt man vor allem Ruhe nach außen hin und das Gefühl strategischer
Sicherheit. In diesem Bewußtsein wird man aber durch den russischen Drang
nach dem Süden bedenklich gestört. Jeder Schienenstrang und jeder Kosaken¬
posten, den das russische Reich in der Richtung gegen Indien oder Ägypten
vorschiebt, ist eine Quelle neuer Sorge für die englischen Staatsmänner und
der Gegenstand steigender Beunruhigung der öffentlichen Meinung. Die Aus¬
sicht, zum Schutze des indischen Kaiserreiches Rüstungspolitik nach dem Muster
europäischer Kontinentalmächte betreiben zu müssen, wirkt nichts weniger als
verlockend. Und so will man wenigstens in Vorderasien das erhalten wissen,
wozu man in Persien nicht mehr in der Lage ist, nämlich einen starken Puffer¬
staat zwischen dem britischen und dem russischen Reich. Dieser Hoffnung würde
aber ein bedenklicher Stoß erteilt, wenn Rußland in Armenien einmarschieren
sollte, um die Türkei zur Anerkennung des Vertrages von London zu veran¬
lassen. Diese Möglichkeit erfüllt die englischen Staatsmänner mit banger
Sorge. Natürlich liegt die Möglichkeit gänzlich ferne, daß es Armeniens wegen
etwa zu einem kriegerischen Konflikt zwischen den beiden immer noch befreundeten
Mächten kommen könnte. Man würde vielmehr von der Downing-Street aus
seine guten Dienste als Vermittler anbieten und dem Russen zu entwinden
suchen, was noch zu entwinden ist.

Im übrigen wird England mit Eifer alle Bestrebungen unterstützen, die
geeignet sind, eine Wiedergeburt der Türkei in Asien zu erleichtern. Wir finden
uns hier wiederum vor einer Gemeinsamkeit deutscher und englischer Interessen,
denn auch für uns bedeutet ein tüchtiges türkisches Heer die zweckmäßigste Be¬
wachung der Bagdadbahn. Ferner wird England eine territoriale Schmälerung
des ottomanischen Reiches in Asien im Sinne des obenerwähnten englisch¬
türkischen Vertrages vom 4. Juni 1878 verhindern wollen, da einerseits nicht
wie in Europa die Möglichkeit besteht, daß lebensfähige Mittelstaaten das
türkische Erbe antreten und sich weiterhin die Rücksichtnahme auf die Stimmung
unter den mohanpnedanischen Untertanen Großbritanniens immer gebieterischer


Die englische Vrientpolitik

Abgabefähigkeit des kleinen Heeres, mit dem das indische Reich geschützt werden
muß. Die Folge ist, daß der Einfluß der russischen Bajonette, die die russische
Einflußsphäre besetzt halten, über diese Grenzen hinauswächst, und steigende
Bedeutung auch innerhalb der sogenannten neutralen Sphäre gewinnt. Die
strategischen Erwägungen wegen Perstens haben in erhöhtem Maße Gültig¬
keit für Türkisch-Asien. Das englische Geschwader auf dem Persischen Golf
bildet dort das einzige militärische Machtmittel, dessen Einfluß naturgemäß nicht
über Koweit und den Schad-el-Arad hinausreicht. Irgendwelche Expansions¬
gelüste liegen dem England von heute völlig fern. Es „verdaut" seinen riesigen
Kolonialbesitz. Mit dem inneren Ausbau und dem äußeren Zusammenschluß
ist das Reich auf Generationen hinaus beschäftigt. Die wirtschaftliche und
zivilisatorische Erschließung birgt viel langwierigere und mühevollere Aufgaben
als die Okkupationsära des vergangenen Jahrhunderts. Zu diesem Prozeß
verlangt man vor allem Ruhe nach außen hin und das Gefühl strategischer
Sicherheit. In diesem Bewußtsein wird man aber durch den russischen Drang
nach dem Süden bedenklich gestört. Jeder Schienenstrang und jeder Kosaken¬
posten, den das russische Reich in der Richtung gegen Indien oder Ägypten
vorschiebt, ist eine Quelle neuer Sorge für die englischen Staatsmänner und
der Gegenstand steigender Beunruhigung der öffentlichen Meinung. Die Aus¬
sicht, zum Schutze des indischen Kaiserreiches Rüstungspolitik nach dem Muster
europäischer Kontinentalmächte betreiben zu müssen, wirkt nichts weniger als
verlockend. Und so will man wenigstens in Vorderasien das erhalten wissen,
wozu man in Persien nicht mehr in der Lage ist, nämlich einen starken Puffer¬
staat zwischen dem britischen und dem russischen Reich. Dieser Hoffnung würde
aber ein bedenklicher Stoß erteilt, wenn Rußland in Armenien einmarschieren
sollte, um die Türkei zur Anerkennung des Vertrages von London zu veran¬
lassen. Diese Möglichkeit erfüllt die englischen Staatsmänner mit banger
Sorge. Natürlich liegt die Möglichkeit gänzlich ferne, daß es Armeniens wegen
etwa zu einem kriegerischen Konflikt zwischen den beiden immer noch befreundeten
Mächten kommen könnte. Man würde vielmehr von der Downing-Street aus
seine guten Dienste als Vermittler anbieten und dem Russen zu entwinden
suchen, was noch zu entwinden ist.

Im übrigen wird England mit Eifer alle Bestrebungen unterstützen, die
geeignet sind, eine Wiedergeburt der Türkei in Asien zu erleichtern. Wir finden
uns hier wiederum vor einer Gemeinsamkeit deutscher und englischer Interessen,
denn auch für uns bedeutet ein tüchtiges türkisches Heer die zweckmäßigste Be¬
wachung der Bagdadbahn. Ferner wird England eine territoriale Schmälerung
des ottomanischen Reiches in Asien im Sinne des obenerwähnten englisch¬
türkischen Vertrages vom 4. Juni 1878 verhindern wollen, da einerseits nicht
wie in Europa die Möglichkeit besteht, daß lebensfähige Mittelstaaten das
türkische Erbe antreten und sich weiterhin die Rücksichtnahme auf die Stimmung
unter den mohanpnedanischen Untertanen Großbritanniens immer gebieterischer


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/400>, abgerufen am 27.12.2024.