Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.Die englische Grientpolitik Seit einem Jahre hat sich in Indien der riesige Umschwung vollzogen, Anderseits ist es für Sir Edward Grey höchst unangenehm, wenn gerade Schon der Analogie mit der Lage in Vorderasien wegen empfiehlt es 25*
Die englische Grientpolitik Seit einem Jahre hat sich in Indien der riesige Umschwung vollzogen, Anderseits ist es für Sir Edward Grey höchst unangenehm, wenn gerade Schon der Analogie mit der Lage in Vorderasien wegen empfiehlt es 25*
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Die englische Grientpolitik
Seit einem Jahre hat sich in Indien der riesige Umschwung vollzogen,
daß die Mohammedaner in eine Arbeitsgemeinschaft mit den bisher offen gehaßten
und verachteten Hindus getreten sind. Die Homerulebewegung der Hindus,
von der die Mohammedaner bislang nichts wissen wollten, findet heute gerade
unter den Moslems ihre eifrigsten Anwälte. Die Bemühungen gerade der
loyalen Mohammedaner in London gehen nun darauf aus, den verantwortlichen
Stellen beizubringen, wie unaufhaltsam solche Ideen weiter Fuß fassen müssen,
wenn nicht eine gründliche Abkehr Englands von einer antitürkischen Politik
erfolgt. Zu diesem Zweck fand vor wenigen Tagen in London eine von Moham¬
medanern, Hindus und Engländern zahlreich besuchte Versammlung statt. Es
ergab sich von selbst, daß die Adrianopelfrage im Vordergrund der Debatte
stand. Die in London weilenden mohammedanischen Untertanen Georgs des Fünften
scheinen hier gerade den Prüfstein an die pro- oder antimohammedanische
Politik Englands anlegen zu wollen. Dies ist begreiflich, wenn man die
religiöse Bedeutung dieses Ortes für den Islam kennt.
Anderseits ist es für Sir Edward Grey höchst unangenehm, wenn gerade
hier eine energische Politik zu Gunsten der Türkei von ihm gefordert wird. Die
Beachtung des Vertrages von London seitens der Türkei, ist für ihn, eine Frage
persönlichen und amtlichen Prestiges. Fernerhin fragt es sich, ob rein politisch
betrachtet der Besitz von Adrianopel von solchem Wert für die Türkei ist. Die
Zukunft des ottomanischen Reiches — wenn es überhaupt noch eine solche hat —
liegt in Asien. Dadurch, daß es Adrianopel behält, wird aber eine unvermeid¬
liche Revanchestimmung in Bulgarien erhalten, die wiederum ständige strategische
Sorgen und Pflichten an der Westgrenze des türkischen Reiches bedingen und
die Konsolidierung und Konzentration in Asien erschwert. Zum Dritten aber,
und das ist das Wichtigste, besteht die Gefahr, daß Rußland die Unnachgiebigkeit
der Hohen Pforte in der Frage Adrianopels zum Vorwand für einen Einmarsch
in Armenien benützen kann. Und damit ist eine Frage aufgeworfen, die die
Stellung Englands nicht nur im nahen, sondern auch im mittleren Orient —
in seinem asiatischen und ägyptischen Besitz überhaupt — berührt.
Schon der Analogie mit der Lage in Vorderasien wegen empfiehlt es
sich kurz auf die persische Frage zurückzukommen, die wir in Heft 14 der
Grenzboten eingehender erörterten. Namentlich ist hier an das Gutachten
Lord Kitcheners zu erinnern, das der Abgrenzung der diplomatischen Einflu߬
sphären zugrunde liegt. In seiner Eigenschaft als Oberkommandierender der
indischen Armee hat Lord Kitchener ausdrücklich betont, daß er nur die Ver¬
teidigung des Südostens von Persien, der Provinz Seistan, garantieren könne.
Demzufolge blieb sogar der Sitz alter englischer Handelsinteressen, die Provinz
Farsistan, außerhalb der englischen Einflußsphäre, und die englischen Reservate
begnügten sich mit der Schaffung eines rein strategischen Glacis an der indischen
Grenze. Trotz der fortwährenden Unruhen in diesen wie in anderen Teilen
Persiens steht heute kein englischer Soldat mehr in Persien, «so gering ist die
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