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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

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Sturm

5>turn
Roman
Max Ludwig-Dohm von
(Dreizehnte Fortsetzung)

Es war nach dem zweiten Frühstück, als Gräfin Schildberg atemlos ins
Zimmer ihrer Schwester stürzte. Sie hielt einen Zettel in der Hand, den sie
in ihrer Bibel gefunden hatte:

"Das kommt, weil wir gestern keine Andacht gehalten haben," zeterte sie
und rannte in höchster Aufregung im Zimmer herum. "Du mußt dich anziehen
-- sofort! Wo ist Mara und Wolff Joachim? Du großer Gott! Du großer Gott!"

Sie sank halb ohnmächtig in einen Sessel, sprang wieder auf und schrie
die Baronin von neuem an:

"So lies doch nur, Clementine!"

Die Schwester schien den Verstand verloren zu haben. Sprachlos saß sie
da und sah die Gräfin aus starren Augen an, bis sie ihr den Zettel wieder
aus der Hand riß und die chemisch geschriebenen Worte selber vorlas:

"Mittwoch um vier Uhr wird Borküll niedergebrannt. Rette sich, wer kann!"

"Hörst du? Heute ist das -- heute, heute! In vier Stunden! Die
Warnung lag schon gestern in meiner Bibel. Einer von unserer Gemeinschaft
hat sie geschrieben."

Die Baronin wurde von einem Schüttelkrampf erfaßt, ihre Hände suchten
nach der Klingel, ihre Lippen bewegten sich tonlos.

In diesem Augenblick riß Wolff Joachim die Tür auf:

"Ha, die Bande hat ihr Teil weg! Der Sternburger Selbstschutz und die
Dragoner haben ihnen heute Nacht eine Schlacht geliefert. Der Anführer ist
gefallen -- er spielte sich in Wollys Jagdfrack auf. soundsoviel Tote liegen
im Wald. Schade, schade, daß ich nicht dabei gewesen bin!"

Sein Frohlocken war nicht angetan, die Frauen zu beruhigen.

"So nahe ist es also schon!" stammelte die Baronin. Ein krampfhaftes
Schluchzen erstickte ihr jedes weitere Wort im Munde.

Die Gräfin Schildberg kreischte: "Du mußt anspannen lassen -- sofort!"
und hielt ihm den Zettel hin. Jetzt erst erkannte Wolff Joachim den Zustand
der beiden Damen.

"Wenn ich doch gestern Abend Andacht gehalten hätte!" wimmerte die Gräfin.

"Dann hättest du dich heute selber ausgelacht, Tante! Oder glaubst du,
daß die Kerls aufzumucken wagen, wenn sie gestern Kloppe bekommen haben?"

Er lachte belustigt. Dabei kam ihm ein guter Gedanke: "Meinethalben
fahrt! Ja -- ich lasse sofort anspannen. Aber nehmt den Kerl, den Maler mit!"

"Und die Pastorsleute und Mara!" hauchte die Mutter.

"Unsinn -- Mara bleibt hier!" Damit ging der Sohn zum Zimmer
hinaus. Das fehlte noch: Mara mit dem Menschen allein lassen! "Ich will


Sturm

5>turn
Roman
Max Ludwig-Dohm von
(Dreizehnte Fortsetzung)

Es war nach dem zweiten Frühstück, als Gräfin Schildberg atemlos ins
Zimmer ihrer Schwester stürzte. Sie hielt einen Zettel in der Hand, den sie
in ihrer Bibel gefunden hatte:

„Das kommt, weil wir gestern keine Andacht gehalten haben," zeterte sie
und rannte in höchster Aufregung im Zimmer herum. „Du mußt dich anziehen
— sofort! Wo ist Mara und Wolff Joachim? Du großer Gott! Du großer Gott!"

Sie sank halb ohnmächtig in einen Sessel, sprang wieder auf und schrie
die Baronin von neuem an:

„So lies doch nur, Clementine!"

Die Schwester schien den Verstand verloren zu haben. Sprachlos saß sie
da und sah die Gräfin aus starren Augen an, bis sie ihr den Zettel wieder
aus der Hand riß und die chemisch geschriebenen Worte selber vorlas:

„Mittwoch um vier Uhr wird Borküll niedergebrannt. Rette sich, wer kann!"

„Hörst du? Heute ist das — heute, heute! In vier Stunden! Die
Warnung lag schon gestern in meiner Bibel. Einer von unserer Gemeinschaft
hat sie geschrieben."

Die Baronin wurde von einem Schüttelkrampf erfaßt, ihre Hände suchten
nach der Klingel, ihre Lippen bewegten sich tonlos.

In diesem Augenblick riß Wolff Joachim die Tür auf:

„Ha, die Bande hat ihr Teil weg! Der Sternburger Selbstschutz und die
Dragoner haben ihnen heute Nacht eine Schlacht geliefert. Der Anführer ist
gefallen — er spielte sich in Wollys Jagdfrack auf. soundsoviel Tote liegen
im Wald. Schade, schade, daß ich nicht dabei gewesen bin!"

Sein Frohlocken war nicht angetan, die Frauen zu beruhigen.

„So nahe ist es also schon!" stammelte die Baronin. Ein krampfhaftes
Schluchzen erstickte ihr jedes weitere Wort im Munde.

Die Gräfin Schildberg kreischte: „Du mußt anspannen lassen — sofort!"
und hielt ihm den Zettel hin. Jetzt erst erkannte Wolff Joachim den Zustand
der beiden Damen.

„Wenn ich doch gestern Abend Andacht gehalten hätte!" wimmerte die Gräfin.

„Dann hättest du dich heute selber ausgelacht, Tante! Oder glaubst du,
daß die Kerls aufzumucken wagen, wenn sie gestern Kloppe bekommen haben?"

Er lachte belustigt. Dabei kam ihm ein guter Gedanke: „Meinethalben
fahrt! Ja — ich lasse sofort anspannen. Aber nehmt den Kerl, den Maler mit!"

„Und die Pastorsleute und Mara!" hauchte die Mutter.

„Unsinn — Mara bleibt hier!" Damit ging der Sohn zum Zimmer
hinaus. Das fehlte noch: Mara mit dem Menschen allein lassen! „Ich will


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[0377] Sturm 5>turn Roman Max Ludwig-Dohm von (Dreizehnte Fortsetzung) Es war nach dem zweiten Frühstück, als Gräfin Schildberg atemlos ins Zimmer ihrer Schwester stürzte. Sie hielt einen Zettel in der Hand, den sie in ihrer Bibel gefunden hatte: „Das kommt, weil wir gestern keine Andacht gehalten haben," zeterte sie und rannte in höchster Aufregung im Zimmer herum. „Du mußt dich anziehen — sofort! Wo ist Mara und Wolff Joachim? Du großer Gott! Du großer Gott!" Sie sank halb ohnmächtig in einen Sessel, sprang wieder auf und schrie die Baronin von neuem an: „So lies doch nur, Clementine!" Die Schwester schien den Verstand verloren zu haben. Sprachlos saß sie da und sah die Gräfin aus starren Augen an, bis sie ihr den Zettel wieder aus der Hand riß und die chemisch geschriebenen Worte selber vorlas: „Mittwoch um vier Uhr wird Borküll niedergebrannt. Rette sich, wer kann!" „Hörst du? Heute ist das — heute, heute! In vier Stunden! Die Warnung lag schon gestern in meiner Bibel. Einer von unserer Gemeinschaft hat sie geschrieben." Die Baronin wurde von einem Schüttelkrampf erfaßt, ihre Hände suchten nach der Klingel, ihre Lippen bewegten sich tonlos. In diesem Augenblick riß Wolff Joachim die Tür auf: „Ha, die Bande hat ihr Teil weg! Der Sternburger Selbstschutz und die Dragoner haben ihnen heute Nacht eine Schlacht geliefert. Der Anführer ist gefallen — er spielte sich in Wollys Jagdfrack auf. soundsoviel Tote liegen im Wald. Schade, schade, daß ich nicht dabei gewesen bin!" Sein Frohlocken war nicht angetan, die Frauen zu beruhigen. „So nahe ist es also schon!" stammelte die Baronin. Ein krampfhaftes Schluchzen erstickte ihr jedes weitere Wort im Munde. Die Gräfin Schildberg kreischte: „Du mußt anspannen lassen — sofort!" und hielt ihm den Zettel hin. Jetzt erst erkannte Wolff Joachim den Zustand der beiden Damen. „Wenn ich doch gestern Abend Andacht gehalten hätte!" wimmerte die Gräfin. „Dann hättest du dich heute selber ausgelacht, Tante! Oder glaubst du, daß die Kerls aufzumucken wagen, wenn sie gestern Kloppe bekommen haben?" Er lachte belustigt. Dabei kam ihm ein guter Gedanke: „Meinethalben fahrt! Ja — ich lasse sofort anspannen. Aber nehmt den Kerl, den Maler mit!" „Und die Pastorsleute und Mara!" hauchte die Mutter. „Unsinn — Mara bleibt hier!" Damit ging der Sohn zum Zimmer hinaus. Das fehlte noch: Mara mit dem Menschen allein lassen! „Ich will

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/377>, abgerufen am 19.10.2024.