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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

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Zur Geschichte des staatsbürgerlichen Unterrichts

Dergleichen Volksfeste würden außer den angegebenen noch andere günstige
Wirkungen üben. Dadurch, daß hier fast alle Richtungen der menschlichen
Tätigkeit nebeneinander sich bewähren könnten, käme in das Volk das Bewußt¬
sein von der Notwendigkeit des Zusammenhandelns aller Nationalkräfte. Die
materielle und die ideelle Richtung unserer Zeit, die so häufig miteinander im
Streite liegen, würden sich dadurch am ersten versöhnen: die Unentbehrlichkeit
der einen wie der anderen für die Erreichung einer nationalen Größe würde
am leichtesten in die Augen springen. "Volksfeste, in diesem Sinne eingerichtet,
würden eine unermeßliche Wirkung hervorbringen: sie würden wesentlich dazu
beitragen, uns das zu verschaffen, was wir bedürfen, nämlich ein wahres National¬
gefühl und eine wahre Nationalkraft."

Die Zeiten, da Volksfeste ernstlich als Mittel politischer Bildung in Betracht
kamen, liegen weit hinter uns. Die Entwicklung der parlamentarischen Ein¬
richtungen hat den Kampf um das Ob und Wie politischer Unterweisung, die
Frage nach der Selbsttätigkeit der freien Bürger in dem als notwendige Lebens¬
form begriffenen Staate auf ganz andere Kampfplätze verlegt. Hier dürfen
vielleicht noch zwei Männer gehört werden, die von entgegengesetzten Stand¬
punkten in das gewandelte Problem hineinleuchten. Wilhelm Heinrich Riehl,
einer der ausgezeichnetsten Kenner des Volkes in der zweiten Hälfte des ver¬
flossenen Jahrhunderts, war der Meinung, daß die Verfassung und die damit
gegebene neue Stellung des einzelnen Bürgers zum Staate wohl ins Volks¬
bewußtsein übergehen könne, ohne daß deshalb die Einzelheiten verstandesmäßig
aufgenommen werden, und er möchte die starke Schicht der reinen Gefühls¬
politiker im Volke nicht missen. "Die politische Bildung verbreitet sich über
alle Volksschichten, aber sie vertieft sich nur bei einzelnen. Und hierin eben
liegt die steigende Gefahr. Denn durch so allgemeine, aber oberflächliche
Kenntnis des politischen Lebens wächst der Trieb, in dieses Leben selbständig
einzugreifen, ohne daß die Befähigung gleichermaßen zunähme." Und an anderer
Stelle: "Das Studium der Verfassung hat nur dann einen Sinn, wenn es im
Zusammenhange mit eigener 'Kritik betrieben wird; wollte man den Kindern
einen politischen Katechismus einprägen, so wäre das nur eine Anleitung zum
unreifen Räsonieren." Und wenn hier gewiß Klippen liegen, die auch von
der heutigen staatsbürgerlichen Erziehung schwer zu umsegeln sein werden, so
besteht doch Treitschkes Bekenntnis zum Staatsbewußtsein nicht minder zu Recht
und gibt den Beweis der Notwendigkeit einer politischen Erziehung jedes ein¬
zelnen: "Für den Staat besteht die physische Notwendigkeit und die sittliche
Pflicht, alles zu befördern, was der persönlichen Ausbildung seiner Bürger
dient. Und wieder besteht für den einzelnen die psychische Notwendigkeit und
die sittliche Pflicht, an einem Staate teilzunehmen und ihm jedes persönliche
Opfer zu bringen, das die Erhaltung der Gesamtheit fordert." Daß diese
Teilnahme nur auf Grund der im einzelnen Bürger erwachsenen Überzeugung
stattfinden kann, daß mithin jeder vor die entscheidenden Fragen gestellt


Grenzboten III 1913 23
Zur Geschichte des staatsbürgerlichen Unterrichts

Dergleichen Volksfeste würden außer den angegebenen noch andere günstige
Wirkungen üben. Dadurch, daß hier fast alle Richtungen der menschlichen
Tätigkeit nebeneinander sich bewähren könnten, käme in das Volk das Bewußt¬
sein von der Notwendigkeit des Zusammenhandelns aller Nationalkräfte. Die
materielle und die ideelle Richtung unserer Zeit, die so häufig miteinander im
Streite liegen, würden sich dadurch am ersten versöhnen: die Unentbehrlichkeit
der einen wie der anderen für die Erreichung einer nationalen Größe würde
am leichtesten in die Augen springen. „Volksfeste, in diesem Sinne eingerichtet,
würden eine unermeßliche Wirkung hervorbringen: sie würden wesentlich dazu
beitragen, uns das zu verschaffen, was wir bedürfen, nämlich ein wahres National¬
gefühl und eine wahre Nationalkraft."

Die Zeiten, da Volksfeste ernstlich als Mittel politischer Bildung in Betracht
kamen, liegen weit hinter uns. Die Entwicklung der parlamentarischen Ein¬
richtungen hat den Kampf um das Ob und Wie politischer Unterweisung, die
Frage nach der Selbsttätigkeit der freien Bürger in dem als notwendige Lebens¬
form begriffenen Staate auf ganz andere Kampfplätze verlegt. Hier dürfen
vielleicht noch zwei Männer gehört werden, die von entgegengesetzten Stand¬
punkten in das gewandelte Problem hineinleuchten. Wilhelm Heinrich Riehl,
einer der ausgezeichnetsten Kenner des Volkes in der zweiten Hälfte des ver¬
flossenen Jahrhunderts, war der Meinung, daß die Verfassung und die damit
gegebene neue Stellung des einzelnen Bürgers zum Staate wohl ins Volks¬
bewußtsein übergehen könne, ohne daß deshalb die Einzelheiten verstandesmäßig
aufgenommen werden, und er möchte die starke Schicht der reinen Gefühls¬
politiker im Volke nicht missen. „Die politische Bildung verbreitet sich über
alle Volksschichten, aber sie vertieft sich nur bei einzelnen. Und hierin eben
liegt die steigende Gefahr. Denn durch so allgemeine, aber oberflächliche
Kenntnis des politischen Lebens wächst der Trieb, in dieses Leben selbständig
einzugreifen, ohne daß die Befähigung gleichermaßen zunähme." Und an anderer
Stelle: „Das Studium der Verfassung hat nur dann einen Sinn, wenn es im
Zusammenhange mit eigener 'Kritik betrieben wird; wollte man den Kindern
einen politischen Katechismus einprägen, so wäre das nur eine Anleitung zum
unreifen Räsonieren." Und wenn hier gewiß Klippen liegen, die auch von
der heutigen staatsbürgerlichen Erziehung schwer zu umsegeln sein werden, so
besteht doch Treitschkes Bekenntnis zum Staatsbewußtsein nicht minder zu Recht
und gibt den Beweis der Notwendigkeit einer politischen Erziehung jedes ein¬
zelnen: „Für den Staat besteht die physische Notwendigkeit und die sittliche
Pflicht, alles zu befördern, was der persönlichen Ausbildung seiner Bürger
dient. Und wieder besteht für den einzelnen die psychische Notwendigkeit und
die sittliche Pflicht, an einem Staate teilzunehmen und ihm jedes persönliche
Opfer zu bringen, das die Erhaltung der Gesamtheit fordert." Daß diese
Teilnahme nur auf Grund der im einzelnen Bürger erwachsenen Überzeugung
stattfinden kann, daß mithin jeder vor die entscheidenden Fragen gestellt


Grenzboten III 1913 23
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[0365] Zur Geschichte des staatsbürgerlichen Unterrichts Dergleichen Volksfeste würden außer den angegebenen noch andere günstige Wirkungen üben. Dadurch, daß hier fast alle Richtungen der menschlichen Tätigkeit nebeneinander sich bewähren könnten, käme in das Volk das Bewußt¬ sein von der Notwendigkeit des Zusammenhandelns aller Nationalkräfte. Die materielle und die ideelle Richtung unserer Zeit, die so häufig miteinander im Streite liegen, würden sich dadurch am ersten versöhnen: die Unentbehrlichkeit der einen wie der anderen für die Erreichung einer nationalen Größe würde am leichtesten in die Augen springen. „Volksfeste, in diesem Sinne eingerichtet, würden eine unermeßliche Wirkung hervorbringen: sie würden wesentlich dazu beitragen, uns das zu verschaffen, was wir bedürfen, nämlich ein wahres National¬ gefühl und eine wahre Nationalkraft." Die Zeiten, da Volksfeste ernstlich als Mittel politischer Bildung in Betracht kamen, liegen weit hinter uns. Die Entwicklung der parlamentarischen Ein¬ richtungen hat den Kampf um das Ob und Wie politischer Unterweisung, die Frage nach der Selbsttätigkeit der freien Bürger in dem als notwendige Lebens¬ form begriffenen Staate auf ganz andere Kampfplätze verlegt. Hier dürfen vielleicht noch zwei Männer gehört werden, die von entgegengesetzten Stand¬ punkten in das gewandelte Problem hineinleuchten. Wilhelm Heinrich Riehl, einer der ausgezeichnetsten Kenner des Volkes in der zweiten Hälfte des ver¬ flossenen Jahrhunderts, war der Meinung, daß die Verfassung und die damit gegebene neue Stellung des einzelnen Bürgers zum Staate wohl ins Volks¬ bewußtsein übergehen könne, ohne daß deshalb die Einzelheiten verstandesmäßig aufgenommen werden, und er möchte die starke Schicht der reinen Gefühls¬ politiker im Volke nicht missen. „Die politische Bildung verbreitet sich über alle Volksschichten, aber sie vertieft sich nur bei einzelnen. Und hierin eben liegt die steigende Gefahr. Denn durch so allgemeine, aber oberflächliche Kenntnis des politischen Lebens wächst der Trieb, in dieses Leben selbständig einzugreifen, ohne daß die Befähigung gleichermaßen zunähme." Und an anderer Stelle: „Das Studium der Verfassung hat nur dann einen Sinn, wenn es im Zusammenhange mit eigener 'Kritik betrieben wird; wollte man den Kindern einen politischen Katechismus einprägen, so wäre das nur eine Anleitung zum unreifen Räsonieren." Und wenn hier gewiß Klippen liegen, die auch von der heutigen staatsbürgerlichen Erziehung schwer zu umsegeln sein werden, so besteht doch Treitschkes Bekenntnis zum Staatsbewußtsein nicht minder zu Recht und gibt den Beweis der Notwendigkeit einer politischen Erziehung jedes ein¬ zelnen: „Für den Staat besteht die physische Notwendigkeit und die sittliche Pflicht, alles zu befördern, was der persönlichen Ausbildung seiner Bürger dient. Und wieder besteht für den einzelnen die psychische Notwendigkeit und die sittliche Pflicht, an einem Staate teilzunehmen und ihm jedes persönliche Opfer zu bringen, das die Erhaltung der Gesamtheit fordert." Daß diese Teilnahme nur auf Grund der im einzelnen Bürger erwachsenen Überzeugung stattfinden kann, daß mithin jeder vor die entscheidenden Fragen gestellt Grenzboten III 1913 23

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/365>, abgerufen am 28.12.2024.