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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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Bernb Jsemann (beide Berlin, S. Fischer).
Wales Buch, ein Entwicklungsroman, fällt
etwas auseinander. Die Menschen des Werks
sind zum guten Teil von fernher ins Reichs¬
land verschlagen und leben deshalb ohne feste
Beziehung zum Boden und der Umwelt; die
müssen sie sich an jedem neuen Ort neu er¬
obern. Das gibt den an sich zunächst ziem¬
lich landläufigen Schicksalen des Knaben einen
gewissen Reiz, der freilich nachher nachläßt,
und der Schluß mit dem Weglaufen aus der
Schule und der seltsamen Zurückführung wirkt
etwas angeflickt. Aber Fiale versteht zu er¬
zählen und wird sich voraussichtlich noch er¬
freulich entwickeln. Das gleiche gilt von
Bernb Jsemann, nur daß seine Erzählungen
stark französisch wirken, manchmal beinahe wie
Übersetzungen -- man fühlt die Scheide
zweier Kulturen, und insbesondere der Vor¬
trag der zweiten Geschichte, eines etwas ge¬
wagten Abenteuers, hat etwas durchaus
Welsches. Aber auch diese Novellen versprechen
etwas für die Zukunft.

Ein solches Versprechen für die Zukunft
hatte auch Klara Hofer mit ihrem ersten
Roman, dem ergreifenden Werk "Weh dir,
daß du ein Enkel biset" gegeben. Ihr allzu
schnell darauf gefolgtes neues Werk "Der
gleitende Purpur" (Berlin, Fleischel u. Co.)
steht doch nicht auf der Höhe des ersten.
Klara Hofer hat sich hier bemüht, breiter zu
malen, den Hof, an dem ihre Geschichte spielt,
durch viele kleine Züge gegenständlicher zu
machen; aber sie hat den Kern ihrer Erzäh¬
lung damit etwas verkleidet, anstatt ihn durch
die Umgebung zu verdeutlichen. Die Er¬
zählung von der Liebe der leise alternden
Frau zu dem jungen Manne, von dessen
Gegenliebe und von der Überwindung, von
der Rettung in die erbarmenden Arme einer
Dritten würde stärker wirken ohne die vielen
Einflechtungcn, insbesondere auch ohne die
zahllosen Anspielungen und Anführungen aus
allen möglichen Gegenden der Weltliteratur.
Was Klara Hofer kann: vertiefte Schilderung
weiblichen Empfindens, das vor tragische Ent¬
scheidungen gestellt ist, kommt auf die Weise
nicht voll heraus, so viel des Feinen auch in
diesem Werke ist.

Auch die neuen Bücher vonAdeleGerhard
und Agnes Harder stehen nicht aus der Höhe

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ihrer letzten Schöpfungen. Adele Gerhard
hat in "Vom Sinken und Werden" (Berlin,
Bruno Cassirer) ein Gegenstück zu ihrem vor¬
trefflichen Berliner Roman von der Familie
Vanderhouten schaffen wollen, ein Zeitbild
aus Altköln; aber merkwürdigerweise ist der
geborenen Rheinländerin die Berliner Dar¬
stellung besser gelungen als die Kölnische.
Dort war alles ineinander verflochten -- hier
folgt es mehr nacheinander und liegt neben¬
einander, ohne die stimmungsmäßige Ver¬
tiefung, die dort alles hatte. Es ist freilich
nichts verzeichnet, aber es geht uns hier so
wenig bis ans Letzte wie in dem zweiten
Roman "Magdalis Heimroths Leidensweg"
(gleichfalls bei Cassirer). Das adlige Frauen¬
bild des Werks, Magdalis, ist fein heraus¬
gekommen, aber ihre Umwelt behält etwas
Unpersönliches, Zufälliges, Stückhaftes. Die
Gestalt selbst hat Adele Gerhard so gefesselt,
daß das übrige nicht genügend durchgearbeitet
worden ist.

Agnes Harders halb humoristische Geschichte
"Der blonde Schöpf und seine Freier"
(Dresden, Carl Meißner) ist Wohl eine Art
Ausruhbuch nach der tiefer schürfenden
"Heiligen Niza". Das Buch ist gewandt er¬
zählt, auch in allen Einzelheiten glaubhaft,
aber ohne die dem letzten Roman der Schrift¬
stellerin eignende Wärme. Man folgt dem
geschickten Aufbau mehr mit einer gewissen
technischen Neugier als mit dem tieferen An¬
teil, den Agnes Harder dort zu erzwingen
wußte.

Ob Wohl eins dieser Bücher noch nach
vierunddreißig Jahren so anmutig und un-
verstaubt wirken wird wie Julius Roden-
bergS "Grandidiers", die uns jetzt endlich
wieder beschert werden (Stuttgart, Deutsche
Verlagsanstalt)? Diese Geschichte aus der
französischen Kolonie Berlins ist nicht nur
mit vollendeter Liebenswürdigkeit erzählt,
sondern auch mit einem feinen Realismus,
der uns die Dinge wirklich schauen läßt, und
mit einem unüberhörbaren Einklang natio-
len Empfindens. Der Kampf zwischen den
längst eingedeutschten, angesehenen Berliner
Hugenotten und den französisch gebliebenen
Grandidiers wird durchgeführt und entschieden
im Donnerhall des großen .Krieges von 1870.
Tief ergreifend ist insbesondere der Besuch

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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Bernb Jsemann (beide Berlin, S. Fischer).
Wales Buch, ein Entwicklungsroman, fällt
etwas auseinander. Die Menschen des Werks
sind zum guten Teil von fernher ins Reichs¬
land verschlagen und leben deshalb ohne feste
Beziehung zum Boden und der Umwelt; die
müssen sie sich an jedem neuen Ort neu er¬
obern. Das gibt den an sich zunächst ziem¬
lich landläufigen Schicksalen des Knaben einen
gewissen Reiz, der freilich nachher nachläßt,
und der Schluß mit dem Weglaufen aus der
Schule und der seltsamen Zurückführung wirkt
etwas angeflickt. Aber Fiale versteht zu er¬
zählen und wird sich voraussichtlich noch er¬
freulich entwickeln. Das gleiche gilt von
Bernb Jsemann, nur daß seine Erzählungen
stark französisch wirken, manchmal beinahe wie
Übersetzungen — man fühlt die Scheide
zweier Kulturen, und insbesondere der Vor¬
trag der zweiten Geschichte, eines etwas ge¬
wagten Abenteuers, hat etwas durchaus
Welsches. Aber auch diese Novellen versprechen
etwas für die Zukunft.

Ein solches Versprechen für die Zukunft
hatte auch Klara Hofer mit ihrem ersten
Roman, dem ergreifenden Werk „Weh dir,
daß du ein Enkel biset" gegeben. Ihr allzu
schnell darauf gefolgtes neues Werk „Der
gleitende Purpur" (Berlin, Fleischel u. Co.)
steht doch nicht auf der Höhe des ersten.
Klara Hofer hat sich hier bemüht, breiter zu
malen, den Hof, an dem ihre Geschichte spielt,
durch viele kleine Züge gegenständlicher zu
machen; aber sie hat den Kern ihrer Erzäh¬
lung damit etwas verkleidet, anstatt ihn durch
die Umgebung zu verdeutlichen. Die Er¬
zählung von der Liebe der leise alternden
Frau zu dem jungen Manne, von dessen
Gegenliebe und von der Überwindung, von
der Rettung in die erbarmenden Arme einer
Dritten würde stärker wirken ohne die vielen
Einflechtungcn, insbesondere auch ohne die
zahllosen Anspielungen und Anführungen aus
allen möglichen Gegenden der Weltliteratur.
Was Klara Hofer kann: vertiefte Schilderung
weiblichen Empfindens, das vor tragische Ent¬
scheidungen gestellt ist, kommt auf die Weise
nicht voll heraus, so viel des Feinen auch in
diesem Werke ist.

Auch die neuen Bücher vonAdeleGerhard
und Agnes Harder stehen nicht aus der Höhe

[Spaltenumbruch]

ihrer letzten Schöpfungen. Adele Gerhard
hat in „Vom Sinken und Werden" (Berlin,
Bruno Cassirer) ein Gegenstück zu ihrem vor¬
trefflichen Berliner Roman von der Familie
Vanderhouten schaffen wollen, ein Zeitbild
aus Altköln; aber merkwürdigerweise ist der
geborenen Rheinländerin die Berliner Dar¬
stellung besser gelungen als die Kölnische.
Dort war alles ineinander verflochten — hier
folgt es mehr nacheinander und liegt neben¬
einander, ohne die stimmungsmäßige Ver¬
tiefung, die dort alles hatte. Es ist freilich
nichts verzeichnet, aber es geht uns hier so
wenig bis ans Letzte wie in dem zweiten
Roman „Magdalis Heimroths Leidensweg"
(gleichfalls bei Cassirer). Das adlige Frauen¬
bild des Werks, Magdalis, ist fein heraus¬
gekommen, aber ihre Umwelt behält etwas
Unpersönliches, Zufälliges, Stückhaftes. Die
Gestalt selbst hat Adele Gerhard so gefesselt,
daß das übrige nicht genügend durchgearbeitet
worden ist.

Agnes Harders halb humoristische Geschichte
„Der blonde Schöpf und seine Freier"
(Dresden, Carl Meißner) ist Wohl eine Art
Ausruhbuch nach der tiefer schürfenden
„Heiligen Niza". Das Buch ist gewandt er¬
zählt, auch in allen Einzelheiten glaubhaft,
aber ohne die dem letzten Roman der Schrift¬
stellerin eignende Wärme. Man folgt dem
geschickten Aufbau mehr mit einer gewissen
technischen Neugier als mit dem tieferen An¬
teil, den Agnes Harder dort zu erzwingen
wußte.

Ob Wohl eins dieser Bücher noch nach
vierunddreißig Jahren so anmutig und un-
verstaubt wirken wird wie Julius Roden-
bergS „Grandidiers", die uns jetzt endlich
wieder beschert werden (Stuttgart, Deutsche
Verlagsanstalt)? Diese Geschichte aus der
französischen Kolonie Berlins ist nicht nur
mit vollendeter Liebenswürdigkeit erzählt,
sondern auch mit einem feinen Realismus,
der uns die Dinge wirklich schauen läßt, und
mit einem unüberhörbaren Einklang natio-
len Empfindens. Der Kampf zwischen den
längst eingedeutschten, angesehenen Berliner
Hugenotten und den französisch gebliebenen
Grandidiers wird durchgeführt und entschieden
im Donnerhall des großen .Krieges von 1870.
Tief ergreifend ist insbesondere der Besuch

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[0345] Maßgebliches und Unmaßgebliches Bernb Jsemann (beide Berlin, S. Fischer). Wales Buch, ein Entwicklungsroman, fällt etwas auseinander. Die Menschen des Werks sind zum guten Teil von fernher ins Reichs¬ land verschlagen und leben deshalb ohne feste Beziehung zum Boden und der Umwelt; die müssen sie sich an jedem neuen Ort neu er¬ obern. Das gibt den an sich zunächst ziem¬ lich landläufigen Schicksalen des Knaben einen gewissen Reiz, der freilich nachher nachläßt, und der Schluß mit dem Weglaufen aus der Schule und der seltsamen Zurückführung wirkt etwas angeflickt. Aber Fiale versteht zu er¬ zählen und wird sich voraussichtlich noch er¬ freulich entwickeln. Das gleiche gilt von Bernb Jsemann, nur daß seine Erzählungen stark französisch wirken, manchmal beinahe wie Übersetzungen — man fühlt die Scheide zweier Kulturen, und insbesondere der Vor¬ trag der zweiten Geschichte, eines etwas ge¬ wagten Abenteuers, hat etwas durchaus Welsches. Aber auch diese Novellen versprechen etwas für die Zukunft. Ein solches Versprechen für die Zukunft hatte auch Klara Hofer mit ihrem ersten Roman, dem ergreifenden Werk „Weh dir, daß du ein Enkel biset" gegeben. Ihr allzu schnell darauf gefolgtes neues Werk „Der gleitende Purpur" (Berlin, Fleischel u. Co.) steht doch nicht auf der Höhe des ersten. Klara Hofer hat sich hier bemüht, breiter zu malen, den Hof, an dem ihre Geschichte spielt, durch viele kleine Züge gegenständlicher zu machen; aber sie hat den Kern ihrer Erzäh¬ lung damit etwas verkleidet, anstatt ihn durch die Umgebung zu verdeutlichen. Die Er¬ zählung von der Liebe der leise alternden Frau zu dem jungen Manne, von dessen Gegenliebe und von der Überwindung, von der Rettung in die erbarmenden Arme einer Dritten würde stärker wirken ohne die vielen Einflechtungcn, insbesondere auch ohne die zahllosen Anspielungen und Anführungen aus allen möglichen Gegenden der Weltliteratur. Was Klara Hofer kann: vertiefte Schilderung weiblichen Empfindens, das vor tragische Ent¬ scheidungen gestellt ist, kommt auf die Weise nicht voll heraus, so viel des Feinen auch in diesem Werke ist. Auch die neuen Bücher vonAdeleGerhard und Agnes Harder stehen nicht aus der Höhe ihrer letzten Schöpfungen. Adele Gerhard hat in „Vom Sinken und Werden" (Berlin, Bruno Cassirer) ein Gegenstück zu ihrem vor¬ trefflichen Berliner Roman von der Familie Vanderhouten schaffen wollen, ein Zeitbild aus Altköln; aber merkwürdigerweise ist der geborenen Rheinländerin die Berliner Dar¬ stellung besser gelungen als die Kölnische. Dort war alles ineinander verflochten — hier folgt es mehr nacheinander und liegt neben¬ einander, ohne die stimmungsmäßige Ver¬ tiefung, die dort alles hatte. Es ist freilich nichts verzeichnet, aber es geht uns hier so wenig bis ans Letzte wie in dem zweiten Roman „Magdalis Heimroths Leidensweg" (gleichfalls bei Cassirer). Das adlige Frauen¬ bild des Werks, Magdalis, ist fein heraus¬ gekommen, aber ihre Umwelt behält etwas Unpersönliches, Zufälliges, Stückhaftes. Die Gestalt selbst hat Adele Gerhard so gefesselt, daß das übrige nicht genügend durchgearbeitet worden ist. Agnes Harders halb humoristische Geschichte „Der blonde Schöpf und seine Freier" (Dresden, Carl Meißner) ist Wohl eine Art Ausruhbuch nach der tiefer schürfenden „Heiligen Niza". Das Buch ist gewandt er¬ zählt, auch in allen Einzelheiten glaubhaft, aber ohne die dem letzten Roman der Schrift¬ stellerin eignende Wärme. Man folgt dem geschickten Aufbau mehr mit einer gewissen technischen Neugier als mit dem tieferen An¬ teil, den Agnes Harder dort zu erzwingen wußte. Ob Wohl eins dieser Bücher noch nach vierunddreißig Jahren so anmutig und un- verstaubt wirken wird wie Julius Roden- bergS „Grandidiers", die uns jetzt endlich wieder beschert werden (Stuttgart, Deutsche Verlagsanstalt)? Diese Geschichte aus der französischen Kolonie Berlins ist nicht nur mit vollendeter Liebenswürdigkeit erzählt, sondern auch mit einem feinen Realismus, der uns die Dinge wirklich schauen läßt, und mit einem unüberhörbaren Einklang natio- len Empfindens. Der Kampf zwischen den längst eingedeutschten, angesehenen Berliner Hugenotten und den französisch gebliebenen Grandidiers wird durchgeführt und entschieden im Donnerhall des großen .Krieges von 1870. Tief ergreifend ist insbesondere der Besuch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/345>, abgerufen am 28.12.2024.