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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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schließlich zugrunde, unbeweint, weil ein neues
Geschlecht von der Kraft der früheren hart¬
händig emporwächst.

Diese Abwandlung der Geschlechter, frei¬
lich in sehr seltsamer Weise, hat auch Eugen
Reiche! zum Gegenstand seines neuen Romans
"Die Ahnenreiho" (Berlin, Felix Lehmann)
gewählt. Diese Familie aber gedeiht nicht
in gerader Linie weiter, sondern immer in
Nebenschößlingen -- nicht die in unguem
Ehen erzeugten Kinder, sondern die Sprö߬
linge außerehelicher Liebe führen den Stamm
des Geschlechtes kraftvoll fort und sichern ihm
schließlich die Zukunft. Auch Reichel erzählt
manchmal allzu breit und bemüht sich zu
sichtbar, Kulturbilder seiner ostpreußischen
Heimat zu entwerfen. Aber er gibt viele
reizvolle Einflechtungen, unter denen dieTor-
tiade, die romantische Vorgeschichte des Ge¬
schlechtes, am besten gelungen ist. Was an
dem Buche fesselt, ist der Ernst der Erzählung,
die männliche Lebensauffassung, der freilich
die künstlerische Formung nicht überall die
Wage hält.

Ein Lebensbild aus vergangener Zeit gibt
Hertha Koenig in ihrem Roman "Emilie
Reinbeck" (Berlin, S. Fischer); sie versucht,
aus Familienpapieren, aufgefundenen Be¬
kenntnissen, literarhistorischen Erinnerungen
ein Bild der zarten Frau aufzubauen, die in
Nikolaus Lenaus Leben eine so große Rolle
gespielt hat. Ein Frauenleben wächst auf,
das im Kreise der schwäbischen Dichter mit
Poesie und auch mit Empfindsamkeit genährt
Worden ist, dem ein wirkliches Lebensglück
nicht beschicken war, und das dann durch die
Verbindung mit dem unglücklichen Dichter
einen tieferen Sinn und eine höhere Weihe
erhielt. Auch in diesem Buche wäre weniger
mehr gewesen, aber man freut sich der feinen
Malerei des einzelnen, der lebensvollen Ge¬
staltung des württembergischen Lebens jener
Tage, der niemals übertreibender Darstellung
des Dichters Lenau in seinen entscheidenden
Lebenskämpfen.

Diese besondere Art des geschichtlichen
Romans ist nicht mit der jetzt beliebten sen¬
sationellen Ausschlachtung berühmter Persön¬
lichkeiten zu verwechseln. Auch sie ist aber
freilich ein Mittelding zwischen Dichtung und
geschichtlicher Darstellung. In sehr eigen¬

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artiger Weise hat der Engländer Maurice
Hewlett versucht, sechs entscheidende Jahre
aus dem Leben Maria Stuarts darzustellen:
"Die Chronik der Königin" (Frankfurt a. M,
Rütten u. Loening). Hewlett schildert, mehr
im Stil einer Chronik als in dem eines
Romans, die Jahre, die Maria Stuart von
ihrer Abreise aus Frankreich bis zu ihren:
Sturz erlebt hat, ihre Heirat mit Darnley,
ihre Verbindung mit Bothwell. Er gibt nicht
den Versuch einer "Rettung", sondern er stellt
einen Menschen dar, der früh in falsche Um¬
gebung gekommen ist und nun immer wieder
durch den Schmutz wandeln muß. Er ideali¬
siert Maria Stuart nicht, sondern er zeigt ihr
Bild, wie es sich in der Geschichte und in
den Augen ihrer Umgebung, vor allein eines
jugendlichen Pagen, malt. Er spricht oft in
seltsamen Worten im Stil der Zeit, er baut
in seinem umfänglichen Buch langsam, aber
sicher seine Bilder auf, er tritt scheinbar selbst
ganz zurück, aber man fühlt doch überall den
inneren Anteil und lebt mit der Königin
und ihrem Hof; man spürt deutlich, wie sich
das Netz des Schicksals über Maria Stuart
zu unentrinnbaren Unheil zusammeuwebt.
Hervorzuheben ist die vortreffliche Übersetzung
des schwierigen Werks durch Gustav Danelius.

So etwas wie geschichtliche Geltung kann
auch die Prager Geschichte von Karl Hans
Strobl "Das Wirtshaus zum König Przemysl"
beanspruchen (Leipzig, L. Staackmann). Denn
Strobl, der uns schon manches Bild aus
Böhmen gezeichnet hat, gibt auch hier eine
Erzählung von dem Kampf zwischen Deutschen
und Tschechen in Prag. Das Leben eines
jungen Studenten wird durch die Liebe zu
einer tschechischen Wirtstochter zuerst erhellt
und dann verdüstert, da sie von dem eifer"
süchtigen Deutschenhasser, ihrem Landsmann,
erstochen wird. Strobl erzählt wie immer
spannend, rasch, ohne sich bei psychologischen
Ausmalungen aufzuhalten, und unsere
Spannung wird um so stärker, da eben alles
vor dem Hintergrunde des Nationalitäten¬
kampfes geschieht.

Gewiß spielt bei solchen Büchern der stoff¬
liche Reiz stark mit. Er überwiegt in zwei
Gaben von der deutsch-französischen Sprach¬
grenze, dem Roman "Freitagskind" von Otto
Fiale und den "Lothringer Novellen" von

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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schließlich zugrunde, unbeweint, weil ein neues
Geschlecht von der Kraft der früheren hart¬
händig emporwächst.

Diese Abwandlung der Geschlechter, frei¬
lich in sehr seltsamer Weise, hat auch Eugen
Reiche! zum Gegenstand seines neuen Romans
„Die Ahnenreiho" (Berlin, Felix Lehmann)
gewählt. Diese Familie aber gedeiht nicht
in gerader Linie weiter, sondern immer in
Nebenschößlingen — nicht die in unguem
Ehen erzeugten Kinder, sondern die Sprö߬
linge außerehelicher Liebe führen den Stamm
des Geschlechtes kraftvoll fort und sichern ihm
schließlich die Zukunft. Auch Reichel erzählt
manchmal allzu breit und bemüht sich zu
sichtbar, Kulturbilder seiner ostpreußischen
Heimat zu entwerfen. Aber er gibt viele
reizvolle Einflechtungen, unter denen dieTor-
tiade, die romantische Vorgeschichte des Ge¬
schlechtes, am besten gelungen ist. Was an
dem Buche fesselt, ist der Ernst der Erzählung,
die männliche Lebensauffassung, der freilich
die künstlerische Formung nicht überall die
Wage hält.

Ein Lebensbild aus vergangener Zeit gibt
Hertha Koenig in ihrem Roman „Emilie
Reinbeck" (Berlin, S. Fischer); sie versucht,
aus Familienpapieren, aufgefundenen Be¬
kenntnissen, literarhistorischen Erinnerungen
ein Bild der zarten Frau aufzubauen, die in
Nikolaus Lenaus Leben eine so große Rolle
gespielt hat. Ein Frauenleben wächst auf,
das im Kreise der schwäbischen Dichter mit
Poesie und auch mit Empfindsamkeit genährt
Worden ist, dem ein wirkliches Lebensglück
nicht beschicken war, und das dann durch die
Verbindung mit dem unglücklichen Dichter
einen tieferen Sinn und eine höhere Weihe
erhielt. Auch in diesem Buche wäre weniger
mehr gewesen, aber man freut sich der feinen
Malerei des einzelnen, der lebensvollen Ge¬
staltung des württembergischen Lebens jener
Tage, der niemals übertreibender Darstellung
des Dichters Lenau in seinen entscheidenden
Lebenskämpfen.

Diese besondere Art des geschichtlichen
Romans ist nicht mit der jetzt beliebten sen¬
sationellen Ausschlachtung berühmter Persön¬
lichkeiten zu verwechseln. Auch sie ist aber
freilich ein Mittelding zwischen Dichtung und
geschichtlicher Darstellung. In sehr eigen¬

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artiger Weise hat der Engländer Maurice
Hewlett versucht, sechs entscheidende Jahre
aus dem Leben Maria Stuarts darzustellen:
„Die Chronik der Königin" (Frankfurt a. M,
Rütten u. Loening). Hewlett schildert, mehr
im Stil einer Chronik als in dem eines
Romans, die Jahre, die Maria Stuart von
ihrer Abreise aus Frankreich bis zu ihren:
Sturz erlebt hat, ihre Heirat mit Darnley,
ihre Verbindung mit Bothwell. Er gibt nicht
den Versuch einer „Rettung", sondern er stellt
einen Menschen dar, der früh in falsche Um¬
gebung gekommen ist und nun immer wieder
durch den Schmutz wandeln muß. Er ideali¬
siert Maria Stuart nicht, sondern er zeigt ihr
Bild, wie es sich in der Geschichte und in
den Augen ihrer Umgebung, vor allein eines
jugendlichen Pagen, malt. Er spricht oft in
seltsamen Worten im Stil der Zeit, er baut
in seinem umfänglichen Buch langsam, aber
sicher seine Bilder auf, er tritt scheinbar selbst
ganz zurück, aber man fühlt doch überall den
inneren Anteil und lebt mit der Königin
und ihrem Hof; man spürt deutlich, wie sich
das Netz des Schicksals über Maria Stuart
zu unentrinnbaren Unheil zusammeuwebt.
Hervorzuheben ist die vortreffliche Übersetzung
des schwierigen Werks durch Gustav Danelius.

So etwas wie geschichtliche Geltung kann
auch die Prager Geschichte von Karl Hans
Strobl „Das Wirtshaus zum König Przemysl"
beanspruchen (Leipzig, L. Staackmann). Denn
Strobl, der uns schon manches Bild aus
Böhmen gezeichnet hat, gibt auch hier eine
Erzählung von dem Kampf zwischen Deutschen
und Tschechen in Prag. Das Leben eines
jungen Studenten wird durch die Liebe zu
einer tschechischen Wirtstochter zuerst erhellt
und dann verdüstert, da sie von dem eifer»
süchtigen Deutschenhasser, ihrem Landsmann,
erstochen wird. Strobl erzählt wie immer
spannend, rasch, ohne sich bei psychologischen
Ausmalungen aufzuhalten, und unsere
Spannung wird um so stärker, da eben alles
vor dem Hintergrunde des Nationalitäten¬
kampfes geschieht.

Gewiß spielt bei solchen Büchern der stoff¬
liche Reiz stark mit. Er überwiegt in zwei
Gaben von der deutsch-französischen Sprach¬
grenze, dem Roman „Freitagskind" von Otto
Fiale und den „Lothringer Novellen" von

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[0344] Maßgebliches und Unmaßgebliches schließlich zugrunde, unbeweint, weil ein neues Geschlecht von der Kraft der früheren hart¬ händig emporwächst. Diese Abwandlung der Geschlechter, frei¬ lich in sehr seltsamer Weise, hat auch Eugen Reiche! zum Gegenstand seines neuen Romans „Die Ahnenreiho" (Berlin, Felix Lehmann) gewählt. Diese Familie aber gedeiht nicht in gerader Linie weiter, sondern immer in Nebenschößlingen — nicht die in unguem Ehen erzeugten Kinder, sondern die Sprö߬ linge außerehelicher Liebe führen den Stamm des Geschlechtes kraftvoll fort und sichern ihm schließlich die Zukunft. Auch Reichel erzählt manchmal allzu breit und bemüht sich zu sichtbar, Kulturbilder seiner ostpreußischen Heimat zu entwerfen. Aber er gibt viele reizvolle Einflechtungen, unter denen dieTor- tiade, die romantische Vorgeschichte des Ge¬ schlechtes, am besten gelungen ist. Was an dem Buche fesselt, ist der Ernst der Erzählung, die männliche Lebensauffassung, der freilich die künstlerische Formung nicht überall die Wage hält. Ein Lebensbild aus vergangener Zeit gibt Hertha Koenig in ihrem Roman „Emilie Reinbeck" (Berlin, S. Fischer); sie versucht, aus Familienpapieren, aufgefundenen Be¬ kenntnissen, literarhistorischen Erinnerungen ein Bild der zarten Frau aufzubauen, die in Nikolaus Lenaus Leben eine so große Rolle gespielt hat. Ein Frauenleben wächst auf, das im Kreise der schwäbischen Dichter mit Poesie und auch mit Empfindsamkeit genährt Worden ist, dem ein wirkliches Lebensglück nicht beschicken war, und das dann durch die Verbindung mit dem unglücklichen Dichter einen tieferen Sinn und eine höhere Weihe erhielt. Auch in diesem Buche wäre weniger mehr gewesen, aber man freut sich der feinen Malerei des einzelnen, der lebensvollen Ge¬ staltung des württembergischen Lebens jener Tage, der niemals übertreibender Darstellung des Dichters Lenau in seinen entscheidenden Lebenskämpfen. Diese besondere Art des geschichtlichen Romans ist nicht mit der jetzt beliebten sen¬ sationellen Ausschlachtung berühmter Persön¬ lichkeiten zu verwechseln. Auch sie ist aber freilich ein Mittelding zwischen Dichtung und geschichtlicher Darstellung. In sehr eigen¬ artiger Weise hat der Engländer Maurice Hewlett versucht, sechs entscheidende Jahre aus dem Leben Maria Stuarts darzustellen: „Die Chronik der Königin" (Frankfurt a. M, Rütten u. Loening). Hewlett schildert, mehr im Stil einer Chronik als in dem eines Romans, die Jahre, die Maria Stuart von ihrer Abreise aus Frankreich bis zu ihren: Sturz erlebt hat, ihre Heirat mit Darnley, ihre Verbindung mit Bothwell. Er gibt nicht den Versuch einer „Rettung", sondern er stellt einen Menschen dar, der früh in falsche Um¬ gebung gekommen ist und nun immer wieder durch den Schmutz wandeln muß. Er ideali¬ siert Maria Stuart nicht, sondern er zeigt ihr Bild, wie es sich in der Geschichte und in den Augen ihrer Umgebung, vor allein eines jugendlichen Pagen, malt. Er spricht oft in seltsamen Worten im Stil der Zeit, er baut in seinem umfänglichen Buch langsam, aber sicher seine Bilder auf, er tritt scheinbar selbst ganz zurück, aber man fühlt doch überall den inneren Anteil und lebt mit der Königin und ihrem Hof; man spürt deutlich, wie sich das Netz des Schicksals über Maria Stuart zu unentrinnbaren Unheil zusammeuwebt. Hervorzuheben ist die vortreffliche Übersetzung des schwierigen Werks durch Gustav Danelius. So etwas wie geschichtliche Geltung kann auch die Prager Geschichte von Karl Hans Strobl „Das Wirtshaus zum König Przemysl" beanspruchen (Leipzig, L. Staackmann). Denn Strobl, der uns schon manches Bild aus Böhmen gezeichnet hat, gibt auch hier eine Erzählung von dem Kampf zwischen Deutschen und Tschechen in Prag. Das Leben eines jungen Studenten wird durch die Liebe zu einer tschechischen Wirtstochter zuerst erhellt und dann verdüstert, da sie von dem eifer» süchtigen Deutschenhasser, ihrem Landsmann, erstochen wird. Strobl erzählt wie immer spannend, rasch, ohne sich bei psychologischen Ausmalungen aufzuhalten, und unsere Spannung wird um so stärker, da eben alles vor dem Hintergrunde des Nationalitäten¬ kampfes geschieht. Gewiß spielt bei solchen Büchern der stoff¬ liche Reiz stark mit. Er überwiegt in zwei Gaben von der deutsch-französischen Sprach¬ grenze, dem Roman „Freitagskind" von Otto Fiale und den „Lothringer Novellen" von

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/344>, abgerufen am 19.10.2024.