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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

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Sturm

Dort auf dem Divan lag der junge Förster mit geschlossenen Augen, und
neben ihm kniete Edles, die ihm das Blut von der Stirn gewaschen hatte.

In wildem Schmerz warf sich Evi über ihn und preßte schluchzend ihr
Gesicht an seine Brust.

"Herr von Rehren hat ihn gefunden," berichtete Edles.

"Er hatte sich bis ans Hoftor geschleppt und war dort ohnmächtig zu¬
sammengebrochen. Eben war er für eine kleine Weile erwacht und hatte nach
Evi gefragt."

"Doktor!" sagte der alte Wenkendorff mit Tränen im Auge: "Retten Sie
mir den Jungen!"

Schlosser entfernte die Kompresse behutsam von der Stirn des Verwundeten:
"Ein Kopfschuß!" Er pfiff bedenklich vor sich hin.

Dann faßte er Evi bei den Schultern: "Mädel, geh jetzt! Beruhige dich.
Dein Weinen schadet deinem Sandberg ja nur!"

Aus tränenüberströmten Augen blickte Evi zu dem Doktor auf: "Lasten
Sie mich hier!" Als sie seine abwehrende Geste sah, glitt sie zu seinen Füßen
nieder und umfaßte seine Knie: "Bitte, bitte, Herr Doktor! Ich will ganz still
sein. Ich werde Ihnen helfen -- nur schicken Sie mich nicht fort!"

Da baten auch die Schwestern für sie, und Doktor Schlosser ließ sie
gewähren.

Noch zwei lange Stunden dauerte der Kampf, den hier Liebe und Wissen¬
schaft gegen den Tod führten. Was war über Nacht aus dem wilden, impul¬
siver Kind geworden?

Mit stillwaltender Fürsorge und Zartheit ging sie dem Arzt zur Hand, sah
ihm an den Augen ab, was er brauchte und wich ihm nicht von der Seite.

Als um acht Uhr morgens der Tod eintrat, ohne daß Sandberg noch ein¬
mal zum Bewußtsein erwacht war, kam die alte Evi wieder zum Vorschein.

Ihr Schrei gellte durch das Haus, und als der Vater bestürzt herbeigeeilt
kam, wurde er Zeuge eines leidenschaftlichen Ausbruchs ohnegleichen.

"Ich geb dich nicht her!" rief Evi und bedeckte das Gesicht des Toten mit
ihren Küssen. "Ich bin schuld an allem. Ich hab das weiße Eichhörnchen
erschossen! Du lebtest heute noch.

Lieber Sandberg, wach auf -- du schläfst ja nur -- sprich doch zu mir!
Sag doch nur einmal noch zu mir: meine kleine Wildkatze! Schilt mich! Ach
wäre ich doch nicht aus dem Haus gerannt -- dann könnte ich dir jetzt sagen,
wie lieb ich dich hab, wie rasend lieb! Mein Mann sollst du werden -- hörst
du, Sandberg?"

Wimmernd brach sie zusammen und mußte ohnmächtig von den Schwestern
aus dem Zimmer getragen werden.

Doktor Schlosser reichte dem Freiherrn die Hand und preßte sie mit langem
Druck: "Die Stimme des Bluts!" sagte er.




Sturm

Dort auf dem Divan lag der junge Förster mit geschlossenen Augen, und
neben ihm kniete Edles, die ihm das Blut von der Stirn gewaschen hatte.

In wildem Schmerz warf sich Evi über ihn und preßte schluchzend ihr
Gesicht an seine Brust.

„Herr von Rehren hat ihn gefunden," berichtete Edles.

„Er hatte sich bis ans Hoftor geschleppt und war dort ohnmächtig zu¬
sammengebrochen. Eben war er für eine kleine Weile erwacht und hatte nach
Evi gefragt."

„Doktor!" sagte der alte Wenkendorff mit Tränen im Auge: „Retten Sie
mir den Jungen!"

Schlosser entfernte die Kompresse behutsam von der Stirn des Verwundeten:
„Ein Kopfschuß!" Er pfiff bedenklich vor sich hin.

Dann faßte er Evi bei den Schultern: „Mädel, geh jetzt! Beruhige dich.
Dein Weinen schadet deinem Sandberg ja nur!"

Aus tränenüberströmten Augen blickte Evi zu dem Doktor auf: „Lasten
Sie mich hier!" Als sie seine abwehrende Geste sah, glitt sie zu seinen Füßen
nieder und umfaßte seine Knie: „Bitte, bitte, Herr Doktor! Ich will ganz still
sein. Ich werde Ihnen helfen — nur schicken Sie mich nicht fort!"

Da baten auch die Schwestern für sie, und Doktor Schlosser ließ sie
gewähren.

Noch zwei lange Stunden dauerte der Kampf, den hier Liebe und Wissen¬
schaft gegen den Tod führten. Was war über Nacht aus dem wilden, impul¬
siver Kind geworden?

Mit stillwaltender Fürsorge und Zartheit ging sie dem Arzt zur Hand, sah
ihm an den Augen ab, was er brauchte und wich ihm nicht von der Seite.

Als um acht Uhr morgens der Tod eintrat, ohne daß Sandberg noch ein¬
mal zum Bewußtsein erwacht war, kam die alte Evi wieder zum Vorschein.

Ihr Schrei gellte durch das Haus, und als der Vater bestürzt herbeigeeilt
kam, wurde er Zeuge eines leidenschaftlichen Ausbruchs ohnegleichen.

„Ich geb dich nicht her!" rief Evi und bedeckte das Gesicht des Toten mit
ihren Küssen. „Ich bin schuld an allem. Ich hab das weiße Eichhörnchen
erschossen! Du lebtest heute noch.

Lieber Sandberg, wach auf — du schläfst ja nur — sprich doch zu mir!
Sag doch nur einmal noch zu mir: meine kleine Wildkatze! Schilt mich! Ach
wäre ich doch nicht aus dem Haus gerannt — dann könnte ich dir jetzt sagen,
wie lieb ich dich hab, wie rasend lieb! Mein Mann sollst du werden — hörst
du, Sandberg?"

Wimmernd brach sie zusammen und mußte ohnmächtig von den Schwestern
aus dem Zimmer getragen werden.

Doktor Schlosser reichte dem Freiherrn die Hand und preßte sie mit langem
Druck: „Die Stimme des Bluts!" sagte er.




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[0332] Sturm Dort auf dem Divan lag der junge Förster mit geschlossenen Augen, und neben ihm kniete Edles, die ihm das Blut von der Stirn gewaschen hatte. In wildem Schmerz warf sich Evi über ihn und preßte schluchzend ihr Gesicht an seine Brust. „Herr von Rehren hat ihn gefunden," berichtete Edles. „Er hatte sich bis ans Hoftor geschleppt und war dort ohnmächtig zu¬ sammengebrochen. Eben war er für eine kleine Weile erwacht und hatte nach Evi gefragt." „Doktor!" sagte der alte Wenkendorff mit Tränen im Auge: „Retten Sie mir den Jungen!" Schlosser entfernte die Kompresse behutsam von der Stirn des Verwundeten: „Ein Kopfschuß!" Er pfiff bedenklich vor sich hin. Dann faßte er Evi bei den Schultern: „Mädel, geh jetzt! Beruhige dich. Dein Weinen schadet deinem Sandberg ja nur!" Aus tränenüberströmten Augen blickte Evi zu dem Doktor auf: „Lasten Sie mich hier!" Als sie seine abwehrende Geste sah, glitt sie zu seinen Füßen nieder und umfaßte seine Knie: „Bitte, bitte, Herr Doktor! Ich will ganz still sein. Ich werde Ihnen helfen — nur schicken Sie mich nicht fort!" Da baten auch die Schwestern für sie, und Doktor Schlosser ließ sie gewähren. Noch zwei lange Stunden dauerte der Kampf, den hier Liebe und Wissen¬ schaft gegen den Tod führten. Was war über Nacht aus dem wilden, impul¬ siver Kind geworden? Mit stillwaltender Fürsorge und Zartheit ging sie dem Arzt zur Hand, sah ihm an den Augen ab, was er brauchte und wich ihm nicht von der Seite. Als um acht Uhr morgens der Tod eintrat, ohne daß Sandberg noch ein¬ mal zum Bewußtsein erwacht war, kam die alte Evi wieder zum Vorschein. Ihr Schrei gellte durch das Haus, und als der Vater bestürzt herbeigeeilt kam, wurde er Zeuge eines leidenschaftlichen Ausbruchs ohnegleichen. „Ich geb dich nicht her!" rief Evi und bedeckte das Gesicht des Toten mit ihren Küssen. „Ich bin schuld an allem. Ich hab das weiße Eichhörnchen erschossen! Du lebtest heute noch. Lieber Sandberg, wach auf — du schläfst ja nur — sprich doch zu mir! Sag doch nur einmal noch zu mir: meine kleine Wildkatze! Schilt mich! Ach wäre ich doch nicht aus dem Haus gerannt — dann könnte ich dir jetzt sagen, wie lieb ich dich hab, wie rasend lieb! Mein Mann sollst du werden — hörst du, Sandberg?" Wimmernd brach sie zusammen und mußte ohnmächtig von den Schwestern aus dem Zimmer getragen werden. Doktor Schlosser reichte dem Freiherrn die Hand und preßte sie mit langem Druck: „Die Stimme des Bluts!" sagte er.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/332>, abgerufen am 19.10.2024.