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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

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Sturm

der sich ihr Trotz entlud. Sie strich um jede Scheune. Sie kontrollierte die
Ställe und blieb lauschend am Spritzenhause stehen. Nichts regte sich.

Sie war jeden Augenblick bereit, dem Anschlagen der Hunde durch ihren
Pfiff zu begegnen und wunderte sich, daß sich bisher noch keiner der Köter
gemeldet hatte.

"Der Wächter wird sie bei sich haben," denkt Eoi und macht sich auf, den
alten Tommingas zu suchen, der vielleicht in irgendeinem Winkel schläft. Hinter
dem Gewächshaus, wo es so schön warm ist. wird er wohl hocken.

Dumpf und schwer ist die Nacht. Kein Windhauch bewegt die kahlen Äste.
Es ist wundervoll unheimlich.

Alles hat ein seltsames neues Gesicht. So hat Eoi die alten Scheunen
noch nie gesehen: die Luken unter dem Dache gucken ordentlich wie Augen
unter einem tief in die Stirn gezogenen Hut, und das Holztor nimmt sich aus,
wie ein gestützter breiter Bart. Das Antlitz eines Riesen ist es geworden.
Und das Herrenhaus selbst liegt wie ein schlafendes Ungeheuer auf zwei
mächtigen Pranken da. . .

Ein hoher Staketenzaun, nur vom Gewächshaus unterbrochen, schließt den
Gemüsegarten ab. In dieser Nacht stand die in das feste Lattengefüge geschnittene
Pforte weit offen.

"Was hat der alte Tommingas im Garten zu suchen? Voller Neugierde
geht Eoi den breiten Mittelweg entlang, der sich weit hinten unter den Obst¬
bäumen verliert. Die Luft ist voll vom Geruch feuchten, verwesenden Laubes.
Evi schaudert es -- Friedhofslust.

Sie sieht im Dunkel den Stapel Bretter nicht, mit dem die Beete ab¬
gedeckt werden sollen, sie stolpert, fällt... In einem jähen Knall löst sich
der Schuß ihres Gewehres. Nun liegt sie da mit schmerzenden Kopfe, denn
der Kolbenschlag traf ihre Stirn, liegt da, wie betäubt, keines Gedankens
sähig . . .

Aber was ist das? Sie fährt in die Höhe. Ein zweiter Schuß! Ein
dritter! Eine ganze Salve trällert. Und jetzt setzt es heran, von hinten aus
dem Garten, eine wilde Jagd -- duckt sich, lauscht, springt auf, rennt
weiter. . .

In Todesangst umkrallt Evi die Bretter. Sie ist wie erstarrt. Kaum
schlägt ihr Herz.

Als speit sie die Nacht aus, kommen die schwarzen Gestalten angestürmt --
unzählige! Einer fällt wie Evi über das unsichtbare Hindernis -- sie gibt sich
verloren. Aber er sieht sie nicht, flucht, richtet sich auf und folgt den anderen.
Evi bleibt unentdeckt . . .

Auf den ersten Schuß hin war Sandberg ins Herrenhaus gelaufen. Er
hielt sich nicht lange beim Verwundern auf, als er die Küchentür offen fand,
aber er verriegelte sie hinter sich. In ein paar Sätzen stand er oben im Saal.
Das war das Werk weniger Sekunden.


Sturm

der sich ihr Trotz entlud. Sie strich um jede Scheune. Sie kontrollierte die
Ställe und blieb lauschend am Spritzenhause stehen. Nichts regte sich.

Sie war jeden Augenblick bereit, dem Anschlagen der Hunde durch ihren
Pfiff zu begegnen und wunderte sich, daß sich bisher noch keiner der Köter
gemeldet hatte.

„Der Wächter wird sie bei sich haben," denkt Eoi und macht sich auf, den
alten Tommingas zu suchen, der vielleicht in irgendeinem Winkel schläft. Hinter
dem Gewächshaus, wo es so schön warm ist. wird er wohl hocken.

Dumpf und schwer ist die Nacht. Kein Windhauch bewegt die kahlen Äste.
Es ist wundervoll unheimlich.

Alles hat ein seltsames neues Gesicht. So hat Eoi die alten Scheunen
noch nie gesehen: die Luken unter dem Dache gucken ordentlich wie Augen
unter einem tief in die Stirn gezogenen Hut, und das Holztor nimmt sich aus,
wie ein gestützter breiter Bart. Das Antlitz eines Riesen ist es geworden.
Und das Herrenhaus selbst liegt wie ein schlafendes Ungeheuer auf zwei
mächtigen Pranken da. . .

Ein hoher Staketenzaun, nur vom Gewächshaus unterbrochen, schließt den
Gemüsegarten ab. In dieser Nacht stand die in das feste Lattengefüge geschnittene
Pforte weit offen.

„Was hat der alte Tommingas im Garten zu suchen? Voller Neugierde
geht Eoi den breiten Mittelweg entlang, der sich weit hinten unter den Obst¬
bäumen verliert. Die Luft ist voll vom Geruch feuchten, verwesenden Laubes.
Evi schaudert es — Friedhofslust.

Sie sieht im Dunkel den Stapel Bretter nicht, mit dem die Beete ab¬
gedeckt werden sollen, sie stolpert, fällt... In einem jähen Knall löst sich
der Schuß ihres Gewehres. Nun liegt sie da mit schmerzenden Kopfe, denn
der Kolbenschlag traf ihre Stirn, liegt da, wie betäubt, keines Gedankens
sähig . . .

Aber was ist das? Sie fährt in die Höhe. Ein zweiter Schuß! Ein
dritter! Eine ganze Salve trällert. Und jetzt setzt es heran, von hinten aus
dem Garten, eine wilde Jagd — duckt sich, lauscht, springt auf, rennt
weiter. . .

In Todesangst umkrallt Evi die Bretter. Sie ist wie erstarrt. Kaum
schlägt ihr Herz.

Als speit sie die Nacht aus, kommen die schwarzen Gestalten angestürmt —
unzählige! Einer fällt wie Evi über das unsichtbare Hindernis — sie gibt sich
verloren. Aber er sieht sie nicht, flucht, richtet sich auf und folgt den anderen.
Evi bleibt unentdeckt . . .

Auf den ersten Schuß hin war Sandberg ins Herrenhaus gelaufen. Er
hielt sich nicht lange beim Verwundern auf, als er die Küchentür offen fand,
aber er verriegelte sie hinter sich. In ein paar Sätzen stand er oben im Saal.
Das war das Werk weniger Sekunden.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/282>, abgerufen am 27.12.2024.