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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

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T>le Bedeutung der englischen Rinderauswandcrung

Auch Mädchen, die im allgemeinen dem Dienstmädchenberufe zugeführt werden,
können ebenso leicht in höhere Berufe gelangen. Die meisten indes verschaffen
sich durch Heirat eine sozial günstige Stellung. Aber trotz der fast unbegrenzten
Aufnahmefähigkeit des Landes für Mädchen und ihrer aussichtsreichen Zukunft,
werden viel weniger Mädchen als Knaben emigriert. Die Verantwortung der
Vereine Mädchen gegenüber ist an und für sich schwerwiegender, und die An¬
sprüche an Überwachung der weiblichen Schutzbefohlenen sehr viel größer. Aber
abgesehen davon ist die geringere Zahl der auswandernden Mädchen auch in
den englischen Verhältnissen begründet. Es gibt weniger gefährdete Mädchen
als Knaben (es kommen nur selten weibliche Straftaten vor das Jugendgericht)
und beim Abschluß der Anstaltserziehung bietet die Unterbringung, bei dem
großen Mangel an Dienstboten in England, keinerlei Schwierigkeiten.

Im allgemeinen erfreut sich die Kinderauswanderung in England des wohl¬
wollenden Interesses sachverständiger Kreise und hat sich zu einem selbständigen
Faktor im englischen Emigrationswesen entwickelt.

England mit einer Bevölkerungsdichte von 450 Menschen pro Quadratmeile
ist bei den gegenwärtigen Verhältnissen in Agrikultur und Industrie zur Erhaltung
seines 8wen8 quo auf einen steten Abfluß seiner noch regen Bevölkerungs¬
zunahme angewiesen. Und zu diesem Zwecke bietet ihm sein reicher Kolonialbesitz
treffliche Möglichkeiten. Kanada und Australien, diese großen Kolonial¬
gebiete, sind noch unabsehbare Zeitläufe hindurch imstande, Einwanderungsströme
aufzunehmen, zu absorbieren und der Entwicklung ihres Landes dienstbar zu
machen. England ist daher in der glücklichen Lage die große Menge seiner
Auswanderer dahin dirigieren zu können, wo sie unter englischer Flagge als
Bürger des "Ol-hater Lritain" ihr neues Leben aufbauen können, ja, als Send¬
boten des großen Empiregedankens, fast eine nationale Mission zu erfüllen
haben. Denn zu dessen Verwirklichung bedarf es in den Kolonien einer steten
Stärkung des britischen Elementes gegenüber dem starken Zufluß so vieler
anderer Nationalitäten, deren Einfluß leicht in entgegengesetzter Richtung, zu¬
gunsten einer Lostrennung, einer Verselbständigung der Kolonie wirken könnte.
Ohne Zweifel ist sich England heute klar, daß für seine Erhaltung der Rück¬
halt an seinem überseeischen Besitz politisch und ökonomisch unentbehrlich geworden
ist. Daher sieht die Regierung ohne Mißfallen die lebhafte Jmmigrationspro-
paganda seiner Kolonien, und unterstützt sie sogar durch eine besondere, dem
Kolonialdienst angegliederte Behörde, die "LmiZration Information (Wies",
die bestrebt ist, den alljährlichen Auswanderungsstrom möglichst in die Gebiete
zu leiten, wo er dem eigenen Interesse am besten dienen kann.

Auswanderung aber bedeutet heute, da alle Einwanderungsländer mehr
oder weniger rigorose Einwanderungsgesetze erlassen haben, nicht mehr einen
Abfluß eigentlicher Surplusbevölkerung. Ein beliebiges Abschieben aus Gefängnis.
Besserungsanstalt oder Arbeitshaus in die Kolonien gibt es nicht mehr. Nur


T>le Bedeutung der englischen Rinderauswandcrung

Auch Mädchen, die im allgemeinen dem Dienstmädchenberufe zugeführt werden,
können ebenso leicht in höhere Berufe gelangen. Die meisten indes verschaffen
sich durch Heirat eine sozial günstige Stellung. Aber trotz der fast unbegrenzten
Aufnahmefähigkeit des Landes für Mädchen und ihrer aussichtsreichen Zukunft,
werden viel weniger Mädchen als Knaben emigriert. Die Verantwortung der
Vereine Mädchen gegenüber ist an und für sich schwerwiegender, und die An¬
sprüche an Überwachung der weiblichen Schutzbefohlenen sehr viel größer. Aber
abgesehen davon ist die geringere Zahl der auswandernden Mädchen auch in
den englischen Verhältnissen begründet. Es gibt weniger gefährdete Mädchen
als Knaben (es kommen nur selten weibliche Straftaten vor das Jugendgericht)
und beim Abschluß der Anstaltserziehung bietet die Unterbringung, bei dem
großen Mangel an Dienstboten in England, keinerlei Schwierigkeiten.

Im allgemeinen erfreut sich die Kinderauswanderung in England des wohl¬
wollenden Interesses sachverständiger Kreise und hat sich zu einem selbständigen
Faktor im englischen Emigrationswesen entwickelt.

England mit einer Bevölkerungsdichte von 450 Menschen pro Quadratmeile
ist bei den gegenwärtigen Verhältnissen in Agrikultur und Industrie zur Erhaltung
seines 8wen8 quo auf einen steten Abfluß seiner noch regen Bevölkerungs¬
zunahme angewiesen. Und zu diesem Zwecke bietet ihm sein reicher Kolonialbesitz
treffliche Möglichkeiten. Kanada und Australien, diese großen Kolonial¬
gebiete, sind noch unabsehbare Zeitläufe hindurch imstande, Einwanderungsströme
aufzunehmen, zu absorbieren und der Entwicklung ihres Landes dienstbar zu
machen. England ist daher in der glücklichen Lage die große Menge seiner
Auswanderer dahin dirigieren zu können, wo sie unter englischer Flagge als
Bürger des „Ol-hater Lritain" ihr neues Leben aufbauen können, ja, als Send¬
boten des großen Empiregedankens, fast eine nationale Mission zu erfüllen
haben. Denn zu dessen Verwirklichung bedarf es in den Kolonien einer steten
Stärkung des britischen Elementes gegenüber dem starken Zufluß so vieler
anderer Nationalitäten, deren Einfluß leicht in entgegengesetzter Richtung, zu¬
gunsten einer Lostrennung, einer Verselbständigung der Kolonie wirken könnte.
Ohne Zweifel ist sich England heute klar, daß für seine Erhaltung der Rück¬
halt an seinem überseeischen Besitz politisch und ökonomisch unentbehrlich geworden
ist. Daher sieht die Regierung ohne Mißfallen die lebhafte Jmmigrationspro-
paganda seiner Kolonien, und unterstützt sie sogar durch eine besondere, dem
Kolonialdienst angegliederte Behörde, die „LmiZration Information (Wies",
die bestrebt ist, den alljährlichen Auswanderungsstrom möglichst in die Gebiete
zu leiten, wo er dem eigenen Interesse am besten dienen kann.

Auswanderung aber bedeutet heute, da alle Einwanderungsländer mehr
oder weniger rigorose Einwanderungsgesetze erlassen haben, nicht mehr einen
Abfluß eigentlicher Surplusbevölkerung. Ein beliebiges Abschieben aus Gefängnis.
Besserungsanstalt oder Arbeitshaus in die Kolonien gibt es nicht mehr. Nur


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[0217] T>le Bedeutung der englischen Rinderauswandcrung Auch Mädchen, die im allgemeinen dem Dienstmädchenberufe zugeführt werden, können ebenso leicht in höhere Berufe gelangen. Die meisten indes verschaffen sich durch Heirat eine sozial günstige Stellung. Aber trotz der fast unbegrenzten Aufnahmefähigkeit des Landes für Mädchen und ihrer aussichtsreichen Zukunft, werden viel weniger Mädchen als Knaben emigriert. Die Verantwortung der Vereine Mädchen gegenüber ist an und für sich schwerwiegender, und die An¬ sprüche an Überwachung der weiblichen Schutzbefohlenen sehr viel größer. Aber abgesehen davon ist die geringere Zahl der auswandernden Mädchen auch in den englischen Verhältnissen begründet. Es gibt weniger gefährdete Mädchen als Knaben (es kommen nur selten weibliche Straftaten vor das Jugendgericht) und beim Abschluß der Anstaltserziehung bietet die Unterbringung, bei dem großen Mangel an Dienstboten in England, keinerlei Schwierigkeiten. Im allgemeinen erfreut sich die Kinderauswanderung in England des wohl¬ wollenden Interesses sachverständiger Kreise und hat sich zu einem selbständigen Faktor im englischen Emigrationswesen entwickelt. England mit einer Bevölkerungsdichte von 450 Menschen pro Quadratmeile ist bei den gegenwärtigen Verhältnissen in Agrikultur und Industrie zur Erhaltung seines 8wen8 quo auf einen steten Abfluß seiner noch regen Bevölkerungs¬ zunahme angewiesen. Und zu diesem Zwecke bietet ihm sein reicher Kolonialbesitz treffliche Möglichkeiten. Kanada und Australien, diese großen Kolonial¬ gebiete, sind noch unabsehbare Zeitläufe hindurch imstande, Einwanderungsströme aufzunehmen, zu absorbieren und der Entwicklung ihres Landes dienstbar zu machen. England ist daher in der glücklichen Lage die große Menge seiner Auswanderer dahin dirigieren zu können, wo sie unter englischer Flagge als Bürger des „Ol-hater Lritain" ihr neues Leben aufbauen können, ja, als Send¬ boten des großen Empiregedankens, fast eine nationale Mission zu erfüllen haben. Denn zu dessen Verwirklichung bedarf es in den Kolonien einer steten Stärkung des britischen Elementes gegenüber dem starken Zufluß so vieler anderer Nationalitäten, deren Einfluß leicht in entgegengesetzter Richtung, zu¬ gunsten einer Lostrennung, einer Verselbständigung der Kolonie wirken könnte. Ohne Zweifel ist sich England heute klar, daß für seine Erhaltung der Rück¬ halt an seinem überseeischen Besitz politisch und ökonomisch unentbehrlich geworden ist. Daher sieht die Regierung ohne Mißfallen die lebhafte Jmmigrationspro- paganda seiner Kolonien, und unterstützt sie sogar durch eine besondere, dem Kolonialdienst angegliederte Behörde, die „LmiZration Information (Wies", die bestrebt ist, den alljährlichen Auswanderungsstrom möglichst in die Gebiete zu leiten, wo er dem eigenen Interesse am besten dienen kann. Auswanderung aber bedeutet heute, da alle Einwanderungsländer mehr oder weniger rigorose Einwanderungsgesetze erlassen haben, nicht mehr einen Abfluß eigentlicher Surplusbevölkerung. Ein beliebiges Abschieben aus Gefängnis. Besserungsanstalt oder Arbeitshaus in die Kolonien gibt es nicht mehr. Nur

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/217>, abgerufen am 28.12.2024.