Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die armenisch-kurdische Frage

ihren armenischen Landsleuten noch der religiöse getreten, der sür das Ver¬
hältnis der beiden Völker in der neuesten Zeit verhängnisvoll werden sollte.
Die im türkischen Reich lebenden .Kurden sind teils ansässig, teils Nomaden.
Die letzteren fuhren allerdings nur vom Frühjahr bis Herbst ein Wanderleben,
das sie zum Teil bis über die Grenzen von Persien und Rußland führt und wohl
mit ein Grund für die große Verbreitung des Volkes gewesen ist- im Winter
zwingt sie Schnee und Kälte, tief gelegene Dörfer aufzusuchen. Von der an
sässigen Bevölkerung sind der größte Teil Bauern, die an Fleiß und Fried¬
fertigkeit dem armenischen Landvolk nicht nachstehen*). Alle Kurden aber leben
in völlig mittelalterlichen Zuständen. In zahllose Stämme zersplittert, stehen
sie unter der Herrschaft eines Feudaladels, der noch jetzt die Anschauungen und
Steigungen der Raubritter des Mittelalters hat. Dieser Raubadel mit seinen:
zahlreichen Anhang ist es, der wahrscheinlich schon seit alten Zeiten die fried-
lichen und fleißigen Bauern, gleichviel ob Armenier oder Kurden, auf das
schamloseste terrorisiert, bedrückt und ausraubt, und der den Versuchen
der türkischen Regierung, Besserung zu schaffen den hartnäckigsten Widerstand
entgegensetzt. Der größte Teil der Kurden ist überhaupt erst seit 1837 bis
1848 der Pforte unterworfen und auch das zum Teil nur dem Namen nach.
Die Veranlassung dazu hatte die Zentralisierungspolitik des Sultan Mahmud
des Zweiten gebildet, sodann die von den Kurden unter den nestorianischen
Christen 1846 angerichteten Gemetzel, zu deren Beendigung die Regierung auf
Drängen des damals allmächtigen englischen Botschafters Canning die Expedi¬
tionen unternehmen mußte. Für das türkische Reich ist der Zuwachs durch das
kurdische Element von fragwürdigen Nutzen geworden. Steuern werden selten,
jedenfalls nicht regelmäßig gezahlt, und auf die Rekrutierung scheint die Pforte
nach den üblen Erfahrungen im Feldzug gegen Ibrahim Pascha meistens ver¬
zichtet zu haben. Um so häufiger waren die Schwierigkeiten, die die Wider-
haarigkeit der knrdischen Häuptlinge ihr bereiteten.

Die größte Schwierigkeit aber bereitete ihr die Stellungnahme zu dem
Gegensatz von Kurden und Armeniern, der sich in der zweiten Hälfte des neun¬
zehnten Jahrhunderts schnell verschärfte.

Wir hatten oben gesehen, daß die Lage des armenischen Volkes nicht
schlimmer, eher etwas günstiger war als die der anderen Rajahvölker, und
jedenfalls günstiger als die des türkischen Herrenvolkes, das denselben
Übelständen unterworfen war, dazu noch die schwere, das Mark des Volkes
erschöpfende Blutsteuer zu tragen hatte. Man kann es aber den Armeniern
nicht verdenken, wenn der Wunsch nach Besserung bei ihnen laut wurde, zumal
seitdem sie sahen, wie die christlichen Balkanvölker eines nach dem anderen dem
Joch der Türken zu entschlüpfen verstanden. Nur war der Weg, den sie ein-



*) Wie auch der armenische Patriarch in Konstantinopel anerkannt hat, Osman. Lloyd
1913, Ur. 122.
Die armenisch-kurdische Frage

ihren armenischen Landsleuten noch der religiöse getreten, der sür das Ver¬
hältnis der beiden Völker in der neuesten Zeit verhängnisvoll werden sollte.
Die im türkischen Reich lebenden .Kurden sind teils ansässig, teils Nomaden.
Die letzteren fuhren allerdings nur vom Frühjahr bis Herbst ein Wanderleben,
das sie zum Teil bis über die Grenzen von Persien und Rußland führt und wohl
mit ein Grund für die große Verbreitung des Volkes gewesen ist- im Winter
zwingt sie Schnee und Kälte, tief gelegene Dörfer aufzusuchen. Von der an
sässigen Bevölkerung sind der größte Teil Bauern, die an Fleiß und Fried¬
fertigkeit dem armenischen Landvolk nicht nachstehen*). Alle Kurden aber leben
in völlig mittelalterlichen Zuständen. In zahllose Stämme zersplittert, stehen
sie unter der Herrschaft eines Feudaladels, der noch jetzt die Anschauungen und
Steigungen der Raubritter des Mittelalters hat. Dieser Raubadel mit seinen:
zahlreichen Anhang ist es, der wahrscheinlich schon seit alten Zeiten die fried-
lichen und fleißigen Bauern, gleichviel ob Armenier oder Kurden, auf das
schamloseste terrorisiert, bedrückt und ausraubt, und der den Versuchen
der türkischen Regierung, Besserung zu schaffen den hartnäckigsten Widerstand
entgegensetzt. Der größte Teil der Kurden ist überhaupt erst seit 1837 bis
1848 der Pforte unterworfen und auch das zum Teil nur dem Namen nach.
Die Veranlassung dazu hatte die Zentralisierungspolitik des Sultan Mahmud
des Zweiten gebildet, sodann die von den Kurden unter den nestorianischen
Christen 1846 angerichteten Gemetzel, zu deren Beendigung die Regierung auf
Drängen des damals allmächtigen englischen Botschafters Canning die Expedi¬
tionen unternehmen mußte. Für das türkische Reich ist der Zuwachs durch das
kurdische Element von fragwürdigen Nutzen geworden. Steuern werden selten,
jedenfalls nicht regelmäßig gezahlt, und auf die Rekrutierung scheint die Pforte
nach den üblen Erfahrungen im Feldzug gegen Ibrahim Pascha meistens ver¬
zichtet zu haben. Um so häufiger waren die Schwierigkeiten, die die Wider-
haarigkeit der knrdischen Häuptlinge ihr bereiteten.

Die größte Schwierigkeit aber bereitete ihr die Stellungnahme zu dem
Gegensatz von Kurden und Armeniern, der sich in der zweiten Hälfte des neun¬
zehnten Jahrhunderts schnell verschärfte.

Wir hatten oben gesehen, daß die Lage des armenischen Volkes nicht
schlimmer, eher etwas günstiger war als die der anderen Rajahvölker, und
jedenfalls günstiger als die des türkischen Herrenvolkes, das denselben
Übelständen unterworfen war, dazu noch die schwere, das Mark des Volkes
erschöpfende Blutsteuer zu tragen hatte. Man kann es aber den Armeniern
nicht verdenken, wenn der Wunsch nach Besserung bei ihnen laut wurde, zumal
seitdem sie sahen, wie die christlichen Balkanvölker eines nach dem anderen dem
Joch der Türken zu entschlüpfen verstanden. Nur war der Weg, den sie ein-



*) Wie auch der armenische Patriarch in Konstantinopel anerkannt hat, Osman. Lloyd
1913, Ur. 122.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0019" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/326189"/>
          <fw type="header" place="top"> Die armenisch-kurdische Frage</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_32" prev="#ID_31"> ihren armenischen Landsleuten noch der religiöse getreten, der sür das Ver¬<lb/>
hältnis der beiden Völker in der neuesten Zeit verhängnisvoll werden sollte.<lb/>
Die im türkischen Reich lebenden .Kurden sind teils ansässig, teils Nomaden.<lb/>
Die letzteren fuhren allerdings nur vom Frühjahr bis Herbst ein Wanderleben,<lb/>
das sie zum Teil bis über die Grenzen von Persien und Rußland führt und wohl<lb/>
mit ein Grund für die große Verbreitung des Volkes gewesen ist- im Winter<lb/>
zwingt sie Schnee und Kälte, tief gelegene Dörfer aufzusuchen. Von der an<lb/>
sässigen Bevölkerung sind der größte Teil Bauern, die an Fleiß und Fried¬<lb/>
fertigkeit dem armenischen Landvolk nicht nachstehen*). Alle Kurden aber leben<lb/>
in völlig mittelalterlichen Zuständen. In zahllose Stämme zersplittert, stehen<lb/>
sie unter der Herrschaft eines Feudaladels, der noch jetzt die Anschauungen und<lb/>
Steigungen der Raubritter des Mittelalters hat. Dieser Raubadel mit seinen:<lb/>
zahlreichen Anhang ist es, der wahrscheinlich schon seit alten Zeiten die fried-<lb/>
lichen und fleißigen Bauern, gleichviel ob Armenier oder Kurden, auf das<lb/>
schamloseste terrorisiert, bedrückt und ausraubt, und der den Versuchen<lb/>
der türkischen Regierung, Besserung zu schaffen den hartnäckigsten Widerstand<lb/>
entgegensetzt. Der größte Teil der Kurden ist überhaupt erst seit 1837 bis<lb/>
1848 der Pforte unterworfen und auch das zum Teil nur dem Namen nach.<lb/>
Die Veranlassung dazu hatte die Zentralisierungspolitik des Sultan Mahmud<lb/>
des Zweiten gebildet, sodann die von den Kurden unter den nestorianischen<lb/>
Christen 1846 angerichteten Gemetzel, zu deren Beendigung die Regierung auf<lb/>
Drängen des damals allmächtigen englischen Botschafters Canning die Expedi¬<lb/>
tionen unternehmen mußte. Für das türkische Reich ist der Zuwachs durch das<lb/>
kurdische Element von fragwürdigen Nutzen geworden. Steuern werden selten,<lb/>
jedenfalls nicht regelmäßig gezahlt, und auf die Rekrutierung scheint die Pforte<lb/>
nach den üblen Erfahrungen im Feldzug gegen Ibrahim Pascha meistens ver¬<lb/>
zichtet zu haben. Um so häufiger waren die Schwierigkeiten, die die Wider-<lb/>
haarigkeit der knrdischen Häuptlinge ihr bereiteten.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_33"> Die größte Schwierigkeit aber bereitete ihr die Stellungnahme zu dem<lb/>
Gegensatz von Kurden und Armeniern, der sich in der zweiten Hälfte des neun¬<lb/>
zehnten Jahrhunderts schnell verschärfte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_34" next="#ID_35"> Wir hatten oben gesehen, daß die Lage des armenischen Volkes nicht<lb/>
schlimmer, eher etwas günstiger war als die der anderen Rajahvölker, und<lb/>
jedenfalls günstiger als die des türkischen Herrenvolkes, das denselben<lb/>
Übelständen unterworfen war, dazu noch die schwere, das Mark des Volkes<lb/>
erschöpfende Blutsteuer zu tragen hatte. Man kann es aber den Armeniern<lb/>
nicht verdenken, wenn der Wunsch nach Besserung bei ihnen laut wurde, zumal<lb/>
seitdem sie sahen, wie die christlichen Balkanvölker eines nach dem anderen dem<lb/>
Joch der Türken zu entschlüpfen verstanden.  Nur war der Weg, den sie ein-</p><lb/>
          <note xml:id="FID_6" place="foot"> *) Wie auch der armenische Patriarch in Konstantinopel anerkannt hat, Osman. Lloyd<lb/>
1913, Ur. 122.</note><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0019] Die armenisch-kurdische Frage ihren armenischen Landsleuten noch der religiöse getreten, der sür das Ver¬ hältnis der beiden Völker in der neuesten Zeit verhängnisvoll werden sollte. Die im türkischen Reich lebenden .Kurden sind teils ansässig, teils Nomaden. Die letzteren fuhren allerdings nur vom Frühjahr bis Herbst ein Wanderleben, das sie zum Teil bis über die Grenzen von Persien und Rußland führt und wohl mit ein Grund für die große Verbreitung des Volkes gewesen ist- im Winter zwingt sie Schnee und Kälte, tief gelegene Dörfer aufzusuchen. Von der an sässigen Bevölkerung sind der größte Teil Bauern, die an Fleiß und Fried¬ fertigkeit dem armenischen Landvolk nicht nachstehen*). Alle Kurden aber leben in völlig mittelalterlichen Zuständen. In zahllose Stämme zersplittert, stehen sie unter der Herrschaft eines Feudaladels, der noch jetzt die Anschauungen und Steigungen der Raubritter des Mittelalters hat. Dieser Raubadel mit seinen: zahlreichen Anhang ist es, der wahrscheinlich schon seit alten Zeiten die fried- lichen und fleißigen Bauern, gleichviel ob Armenier oder Kurden, auf das schamloseste terrorisiert, bedrückt und ausraubt, und der den Versuchen der türkischen Regierung, Besserung zu schaffen den hartnäckigsten Widerstand entgegensetzt. Der größte Teil der Kurden ist überhaupt erst seit 1837 bis 1848 der Pforte unterworfen und auch das zum Teil nur dem Namen nach. Die Veranlassung dazu hatte die Zentralisierungspolitik des Sultan Mahmud des Zweiten gebildet, sodann die von den Kurden unter den nestorianischen Christen 1846 angerichteten Gemetzel, zu deren Beendigung die Regierung auf Drängen des damals allmächtigen englischen Botschafters Canning die Expedi¬ tionen unternehmen mußte. Für das türkische Reich ist der Zuwachs durch das kurdische Element von fragwürdigen Nutzen geworden. Steuern werden selten, jedenfalls nicht regelmäßig gezahlt, und auf die Rekrutierung scheint die Pforte nach den üblen Erfahrungen im Feldzug gegen Ibrahim Pascha meistens ver¬ zichtet zu haben. Um so häufiger waren die Schwierigkeiten, die die Wider- haarigkeit der knrdischen Häuptlinge ihr bereiteten. Die größte Schwierigkeit aber bereitete ihr die Stellungnahme zu dem Gegensatz von Kurden und Armeniern, der sich in der zweiten Hälfte des neun¬ zehnten Jahrhunderts schnell verschärfte. Wir hatten oben gesehen, daß die Lage des armenischen Volkes nicht schlimmer, eher etwas günstiger war als die der anderen Rajahvölker, und jedenfalls günstiger als die des türkischen Herrenvolkes, das denselben Übelständen unterworfen war, dazu noch die schwere, das Mark des Volkes erschöpfende Blutsteuer zu tragen hatte. Man kann es aber den Armeniern nicht verdenken, wenn der Wunsch nach Besserung bei ihnen laut wurde, zumal seitdem sie sahen, wie die christlichen Balkanvölker eines nach dem anderen dem Joch der Türken zu entschlüpfen verstanden. Nur war der Weg, den sie ein- *) Wie auch der armenische Patriarch in Konstantinopel anerkannt hat, Osman. Lloyd 1913, Ur. 122.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/19
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/19>, abgerufen am 27.12.2024.