Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Kämpfe unserer Lehrerschaft

Man redet in unseren Tagen so viel von Erziehung, daß man glauben
sollte, es sei die bekannteste und leichteste Sache von der Welt. Allerdings gibt
es eine Art der Erziehung, die nicht allzuschwierig, besser gesagt, die von vorn¬
herein möglich scheint. Es ist die Erziehung durch psychologische Gewöhnung.
Durch den Besuch der Schule, durch den Zwang zum Lernen, durch den Zwang
des Verkehrs mit Lehrer und Mitschülern, durch die einzelne Vorschrift und die
regelmäßige Befolgung unter der Aufsicht des Lehrers, durch Warnung und
Beispiel, durch Weckung treibender psychischer Kräfte und Beseitigung ebensolcher
Hemmungen wird ein Kind "erzogen", d. h. in den sozialen Zusammenhang,
in den es später eintreten soll, derart eingewöhnt, daß es bald ohne allzugroße
Schwierigkeiten sich hineinfinden kann. Es ist klar, daß hier die Schule mächtig
fürs "Leben" wirkt. Das ist die Erziehung, die Dr. Raub einzig im Auge
hat, und es ist richtig, daß hier Volksschule und höhere Schule teilweise ein
gemeinsames Arbeitsfeld haben. Doch liegt die spezielle Aufgabe der höheren
Schule keineswegs aus diesem beschränkten Gebiet der psychologischen Ein¬
gewöhnung, wenn es auch die einzige Art ist, in der die Volksschule erzieht,
und wenn auch die höhere Schule durch umfassende Versuche, wie z. B. Ein¬
führung der Selbstverwaltung der Schüler, sportlicher und geselliger Vereini¬
gungen usw. gerade in der letzten Zeit auch diese Erziehungsart besonders zu
pflegen schien. Ihre eigentliche Aufgabe ist eine tiefere und weit schwierigere.

Es bedarf keiner langen Auseinandersetzung, um zu zeigen, daß die psycho¬
logische Gewöhnung eigentlich gar keine Erziehung im vollen Sinne des Wortes
ist. Sie kann gar nichts anderes sein, als eine Entfaltung der in Wirklichkeit
schon vorhandenen Fähigkeiten nach einer bestimmten Richtung; sie vermag auf
keinen Fall etwas einzupflanzen, was nicht im Grunde der Seele schon vor¬
bereitet lag, und was in einigermaßen günstigen Umständen sich auch ganz von
selbst entwickelt hätte. Diese Erziehung ist im wesentlichen negativer Art, indem
sie in der Hauptsache die Hemmungen zu beseitigen hat. die einer bestimmten
Gewöhnung entgegenstehen, sie ist durchaus individualistisch, weil es sich immer
nur um Bekämpfung oder Förderung der gerade vorhandenen Eigenart des
Zöglings handelt. So kommt es dazu, daß von diesem Standpunkt aus die
schwersten Vorwürfe erhoben werden gegen alle allgemeinen Bildungsmittel und
Bildungsanstalten (Gurlitt!). Dabei sollen ihre Erfolge nicht bestritten werden.
Doch wird mir jeder zugestehen, daß Anpassungsfähigkeit an die soziale Um¬
gebung, daß Mut, Ausdauer, selbst Willensstärke und Charakterfestigkeit nicht
in jedem Falle ein Vorzug sind -- nämlich offenbar nur dann, wenn sie in
den Dienst eines guten Zweckes treten. Geistige Spannkraft, Willensstärke,
Charakterfestigkeit zeigt auch der Verbrecher. Damit ist gesagt, daß Erziehung
im wahren Sinne des Wortes nur die heißen darf, die gute Menschen zum
Endziele hat, gute Menschen im weitesten Sinne des Wortes, Menschen also,
die zur Richtschnur ihres Handelns das Gute, das Sittengesetz nehmen, die
überhaupt für ihr Denken die Wahrheit, für ihr Handeln die Sittlichkeit, für


Kämpfe unserer Lehrerschaft

Man redet in unseren Tagen so viel von Erziehung, daß man glauben
sollte, es sei die bekannteste und leichteste Sache von der Welt. Allerdings gibt
es eine Art der Erziehung, die nicht allzuschwierig, besser gesagt, die von vorn¬
herein möglich scheint. Es ist die Erziehung durch psychologische Gewöhnung.
Durch den Besuch der Schule, durch den Zwang zum Lernen, durch den Zwang
des Verkehrs mit Lehrer und Mitschülern, durch die einzelne Vorschrift und die
regelmäßige Befolgung unter der Aufsicht des Lehrers, durch Warnung und
Beispiel, durch Weckung treibender psychischer Kräfte und Beseitigung ebensolcher
Hemmungen wird ein Kind „erzogen", d. h. in den sozialen Zusammenhang,
in den es später eintreten soll, derart eingewöhnt, daß es bald ohne allzugroße
Schwierigkeiten sich hineinfinden kann. Es ist klar, daß hier die Schule mächtig
fürs „Leben" wirkt. Das ist die Erziehung, die Dr. Raub einzig im Auge
hat, und es ist richtig, daß hier Volksschule und höhere Schule teilweise ein
gemeinsames Arbeitsfeld haben. Doch liegt die spezielle Aufgabe der höheren
Schule keineswegs aus diesem beschränkten Gebiet der psychologischen Ein¬
gewöhnung, wenn es auch die einzige Art ist, in der die Volksschule erzieht,
und wenn auch die höhere Schule durch umfassende Versuche, wie z. B. Ein¬
führung der Selbstverwaltung der Schüler, sportlicher und geselliger Vereini¬
gungen usw. gerade in der letzten Zeit auch diese Erziehungsart besonders zu
pflegen schien. Ihre eigentliche Aufgabe ist eine tiefere und weit schwierigere.

Es bedarf keiner langen Auseinandersetzung, um zu zeigen, daß die psycho¬
logische Gewöhnung eigentlich gar keine Erziehung im vollen Sinne des Wortes
ist. Sie kann gar nichts anderes sein, als eine Entfaltung der in Wirklichkeit
schon vorhandenen Fähigkeiten nach einer bestimmten Richtung; sie vermag auf
keinen Fall etwas einzupflanzen, was nicht im Grunde der Seele schon vor¬
bereitet lag, und was in einigermaßen günstigen Umständen sich auch ganz von
selbst entwickelt hätte. Diese Erziehung ist im wesentlichen negativer Art, indem
sie in der Hauptsache die Hemmungen zu beseitigen hat. die einer bestimmten
Gewöhnung entgegenstehen, sie ist durchaus individualistisch, weil es sich immer
nur um Bekämpfung oder Förderung der gerade vorhandenen Eigenart des
Zöglings handelt. So kommt es dazu, daß von diesem Standpunkt aus die
schwersten Vorwürfe erhoben werden gegen alle allgemeinen Bildungsmittel und
Bildungsanstalten (Gurlitt!). Dabei sollen ihre Erfolge nicht bestritten werden.
Doch wird mir jeder zugestehen, daß Anpassungsfähigkeit an die soziale Um¬
gebung, daß Mut, Ausdauer, selbst Willensstärke und Charakterfestigkeit nicht
in jedem Falle ein Vorzug sind — nämlich offenbar nur dann, wenn sie in
den Dienst eines guten Zweckes treten. Geistige Spannkraft, Willensstärke,
Charakterfestigkeit zeigt auch der Verbrecher. Damit ist gesagt, daß Erziehung
im wahren Sinne des Wortes nur die heißen darf, die gute Menschen zum
Endziele hat, gute Menschen im weitesten Sinne des Wortes, Menschen also,
die zur Richtschnur ihres Handelns das Gute, das Sittengesetz nehmen, die
überhaupt für ihr Denken die Wahrheit, für ihr Handeln die Sittlichkeit, für


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0172" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/326342"/>
            <fw type="header" place="top"> Kämpfe unserer Lehrerschaft</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_789"> Man redet in unseren Tagen so viel von Erziehung, daß man glauben<lb/>
sollte, es sei die bekannteste und leichteste Sache von der Welt. Allerdings gibt<lb/>
es eine Art der Erziehung, die nicht allzuschwierig, besser gesagt, die von vorn¬<lb/>
herein möglich scheint. Es ist die Erziehung durch psychologische Gewöhnung.<lb/>
Durch den Besuch der Schule, durch den Zwang zum Lernen, durch den Zwang<lb/>
des Verkehrs mit Lehrer und Mitschülern, durch die einzelne Vorschrift und die<lb/>
regelmäßige Befolgung unter der Aufsicht des Lehrers, durch Warnung und<lb/>
Beispiel, durch Weckung treibender psychischer Kräfte und Beseitigung ebensolcher<lb/>
Hemmungen wird ein Kind &#x201E;erzogen", d. h. in den sozialen Zusammenhang,<lb/>
in den es später eintreten soll, derart eingewöhnt, daß es bald ohne allzugroße<lb/>
Schwierigkeiten sich hineinfinden kann. Es ist klar, daß hier die Schule mächtig<lb/>
fürs &#x201E;Leben" wirkt. Das ist die Erziehung, die Dr. Raub einzig im Auge<lb/>
hat, und es ist richtig, daß hier Volksschule und höhere Schule teilweise ein<lb/>
gemeinsames Arbeitsfeld haben. Doch liegt die spezielle Aufgabe der höheren<lb/>
Schule keineswegs aus diesem beschränkten Gebiet der psychologischen Ein¬<lb/>
gewöhnung, wenn es auch die einzige Art ist, in der die Volksschule erzieht,<lb/>
und wenn auch die höhere Schule durch umfassende Versuche, wie z. B. Ein¬<lb/>
führung der Selbstverwaltung der Schüler, sportlicher und geselliger Vereini¬<lb/>
gungen usw. gerade in der letzten Zeit auch diese Erziehungsart besonders zu<lb/>
pflegen schien.  Ihre eigentliche Aufgabe ist eine tiefere und weit schwierigere.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_790" next="#ID_791"> Es bedarf keiner langen Auseinandersetzung, um zu zeigen, daß die psycho¬<lb/>
logische Gewöhnung eigentlich gar keine Erziehung im vollen Sinne des Wortes<lb/>
ist. Sie kann gar nichts anderes sein, als eine Entfaltung der in Wirklichkeit<lb/>
schon vorhandenen Fähigkeiten nach einer bestimmten Richtung; sie vermag auf<lb/>
keinen Fall etwas einzupflanzen, was nicht im Grunde der Seele schon vor¬<lb/>
bereitet lag, und was in einigermaßen günstigen Umständen sich auch ganz von<lb/>
selbst entwickelt hätte. Diese Erziehung ist im wesentlichen negativer Art, indem<lb/>
sie in der Hauptsache die Hemmungen zu beseitigen hat. die einer bestimmten<lb/>
Gewöhnung entgegenstehen, sie ist durchaus individualistisch, weil es sich immer<lb/>
nur um Bekämpfung oder Förderung der gerade vorhandenen Eigenart des<lb/>
Zöglings handelt. So kommt es dazu, daß von diesem Standpunkt aus die<lb/>
schwersten Vorwürfe erhoben werden gegen alle allgemeinen Bildungsmittel und<lb/>
Bildungsanstalten (Gurlitt!). Dabei sollen ihre Erfolge nicht bestritten werden.<lb/>
Doch wird mir jeder zugestehen, daß Anpassungsfähigkeit an die soziale Um¬<lb/>
gebung, daß Mut, Ausdauer, selbst Willensstärke und Charakterfestigkeit nicht<lb/>
in jedem Falle ein Vorzug sind &#x2014; nämlich offenbar nur dann, wenn sie in<lb/>
den Dienst eines guten Zweckes treten. Geistige Spannkraft, Willensstärke,<lb/>
Charakterfestigkeit zeigt auch der Verbrecher. Damit ist gesagt, daß Erziehung<lb/>
im wahren Sinne des Wortes nur die heißen darf, die gute Menschen zum<lb/>
Endziele hat, gute Menschen im weitesten Sinne des Wortes, Menschen also,<lb/>
die zur Richtschnur ihres Handelns das Gute, das Sittengesetz nehmen, die<lb/>
überhaupt für ihr Denken die Wahrheit, für ihr Handeln die Sittlichkeit, für</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0172] Kämpfe unserer Lehrerschaft Man redet in unseren Tagen so viel von Erziehung, daß man glauben sollte, es sei die bekannteste und leichteste Sache von der Welt. Allerdings gibt es eine Art der Erziehung, die nicht allzuschwierig, besser gesagt, die von vorn¬ herein möglich scheint. Es ist die Erziehung durch psychologische Gewöhnung. Durch den Besuch der Schule, durch den Zwang zum Lernen, durch den Zwang des Verkehrs mit Lehrer und Mitschülern, durch die einzelne Vorschrift und die regelmäßige Befolgung unter der Aufsicht des Lehrers, durch Warnung und Beispiel, durch Weckung treibender psychischer Kräfte und Beseitigung ebensolcher Hemmungen wird ein Kind „erzogen", d. h. in den sozialen Zusammenhang, in den es später eintreten soll, derart eingewöhnt, daß es bald ohne allzugroße Schwierigkeiten sich hineinfinden kann. Es ist klar, daß hier die Schule mächtig fürs „Leben" wirkt. Das ist die Erziehung, die Dr. Raub einzig im Auge hat, und es ist richtig, daß hier Volksschule und höhere Schule teilweise ein gemeinsames Arbeitsfeld haben. Doch liegt die spezielle Aufgabe der höheren Schule keineswegs aus diesem beschränkten Gebiet der psychologischen Ein¬ gewöhnung, wenn es auch die einzige Art ist, in der die Volksschule erzieht, und wenn auch die höhere Schule durch umfassende Versuche, wie z. B. Ein¬ führung der Selbstverwaltung der Schüler, sportlicher und geselliger Vereini¬ gungen usw. gerade in der letzten Zeit auch diese Erziehungsart besonders zu pflegen schien. Ihre eigentliche Aufgabe ist eine tiefere und weit schwierigere. Es bedarf keiner langen Auseinandersetzung, um zu zeigen, daß die psycho¬ logische Gewöhnung eigentlich gar keine Erziehung im vollen Sinne des Wortes ist. Sie kann gar nichts anderes sein, als eine Entfaltung der in Wirklichkeit schon vorhandenen Fähigkeiten nach einer bestimmten Richtung; sie vermag auf keinen Fall etwas einzupflanzen, was nicht im Grunde der Seele schon vor¬ bereitet lag, und was in einigermaßen günstigen Umständen sich auch ganz von selbst entwickelt hätte. Diese Erziehung ist im wesentlichen negativer Art, indem sie in der Hauptsache die Hemmungen zu beseitigen hat. die einer bestimmten Gewöhnung entgegenstehen, sie ist durchaus individualistisch, weil es sich immer nur um Bekämpfung oder Förderung der gerade vorhandenen Eigenart des Zöglings handelt. So kommt es dazu, daß von diesem Standpunkt aus die schwersten Vorwürfe erhoben werden gegen alle allgemeinen Bildungsmittel und Bildungsanstalten (Gurlitt!). Dabei sollen ihre Erfolge nicht bestritten werden. Doch wird mir jeder zugestehen, daß Anpassungsfähigkeit an die soziale Um¬ gebung, daß Mut, Ausdauer, selbst Willensstärke und Charakterfestigkeit nicht in jedem Falle ein Vorzug sind — nämlich offenbar nur dann, wenn sie in den Dienst eines guten Zweckes treten. Geistige Spannkraft, Willensstärke, Charakterfestigkeit zeigt auch der Verbrecher. Damit ist gesagt, daß Erziehung im wahren Sinne des Wortes nur die heißen darf, die gute Menschen zum Endziele hat, gute Menschen im weitesten Sinne des Wortes, Menschen also, die zur Richtschnur ihres Handelns das Gute, das Sittengesetz nehmen, die überhaupt für ihr Denken die Wahrheit, für ihr Handeln die Sittlichkeit, für

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/172
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/172>, abgerufen am 20.10.2024.