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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

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Der gegenwärtige Stand der Uindercmswanderung ans England

nur einen Teil allgemeiner sozialer Arbeit, wie dies bei der Heilsarmee der
Fall ist.

Auch herrscht zwischen den Agencies ein Unterschied bezüglich des Ge¬
schlechts der auswandernden Kinder.

Barnardo und andere emigrieren sowohl Knaben als Mädchen, Mr. Fegan
und die Children Alt Society aber z. B. nur Knaben. Ausschließlich Mädchen
werden nur von einigen Frauenvereinen emigriert und dann handelt es sich
um nicht im eigentlichen Kindesalter stehende Mädchen.

Jugendliche Auswanderer aus Neformatories*) und jugendlichen Gefängnissen
(Borstalanstalten), die immer über 16 Jahre alt sind, werden direkt emigriert
und durch einen Agenten, der dafür ein geringes Entgelt erhält, in Kanada
in guten Stellungen untergebracht.

Die gesetzlichen Vorschriften bedingen eine gewisse Gleichmäßigkeit der Tätigkeit
sämtlicher Vereine: vor allem die Vorbereitung der zur Auswanderung bestimmten
Kinder in einer Anstalt während sechs Monaten, wovon mindestens zwei in
einem Heim des Vereins zuzubringen sind, dem die Beurteilung und Verant¬
wortung sür die Auswanderung zusteht. Die Aufnahme in ein solches Heim zum
Zweck der Auswanderung hängt zum großen Teil von der ärztlichen Untersuchung
ab. Die kanadischen Vorschriften sind betreffs der Gesundheit sehr rigoros und
der Verein würde bei leichtsinnigen Aufnahmen Gefahr laufen, kurz vor der
Ausreise alle körperlich nicht vorwurfsfreien Kinder von dem kanadischen
"Examinator" zurückgewiesen zu sehen.

In obiger Zusammenstellung kommt der Löwenanteil der Kinder auf
Barnardo. Es steht dies in Einklang mit Barnardos Stellung in England**).
Er hat in seinen Anstalten etwa 9000 Kinder und sie bedeuten damit das gro߬
artigste Unternehmen privater Fürsorge, dem nur die Walsh Seraph Society
der Church of England vergleichbar ist. Diese emigrieren verhältnismäßig sehr
wenige Kinder, trotzdem auch sie ungefähr 3000 Kinder unter ihrer Obhut
haben. Es mag dies mit den kirchlichen Verhältnissen in Kanada zusammen¬
hängen. Die Church of England steht dort numerisch nicht an erster Stelle,
sondern Katholiken. Methodisten und Presbyterianer sind sehr viel verbreiteter.
(Außer diesen zählt man in Kanada 71 verschiedene Glaubensbekenntnisse.)
Nun besteht zwar für jeden Verein die gesetzliche Verpflichtung, katholische
Kinder nur in katholischen Familien und protestantische Kinder ebenso nur in
protestantischen Familien unterzubringen, eine Berücksichtigung aber der zahlreichen
protestantischen Schattierungen im sektenreichen Osten Kanadas, der für die
Unterbringung von Kindern fast ausschließlich in Frage kommt, kann nicht statt¬
finden. Die Zahl der Familien, die der Church of England angehören und
bereit sind Kinder aufzunehmen, ist dort nicht groß genug und außerdem finden




*) Fürsorgeanstalten.
Bernardo ist zwar 1908 gestorben, sein Werk aber besteht in seinem Namen und
Geiste weiter, als stünde er noch an der Spitze.
Der gegenwärtige Stand der Uindercmswanderung ans England

nur einen Teil allgemeiner sozialer Arbeit, wie dies bei der Heilsarmee der
Fall ist.

Auch herrscht zwischen den Agencies ein Unterschied bezüglich des Ge¬
schlechts der auswandernden Kinder.

Barnardo und andere emigrieren sowohl Knaben als Mädchen, Mr. Fegan
und die Children Alt Society aber z. B. nur Knaben. Ausschließlich Mädchen
werden nur von einigen Frauenvereinen emigriert und dann handelt es sich
um nicht im eigentlichen Kindesalter stehende Mädchen.

Jugendliche Auswanderer aus Neformatories*) und jugendlichen Gefängnissen
(Borstalanstalten), die immer über 16 Jahre alt sind, werden direkt emigriert
und durch einen Agenten, der dafür ein geringes Entgelt erhält, in Kanada
in guten Stellungen untergebracht.

Die gesetzlichen Vorschriften bedingen eine gewisse Gleichmäßigkeit der Tätigkeit
sämtlicher Vereine: vor allem die Vorbereitung der zur Auswanderung bestimmten
Kinder in einer Anstalt während sechs Monaten, wovon mindestens zwei in
einem Heim des Vereins zuzubringen sind, dem die Beurteilung und Verant¬
wortung sür die Auswanderung zusteht. Die Aufnahme in ein solches Heim zum
Zweck der Auswanderung hängt zum großen Teil von der ärztlichen Untersuchung
ab. Die kanadischen Vorschriften sind betreffs der Gesundheit sehr rigoros und
der Verein würde bei leichtsinnigen Aufnahmen Gefahr laufen, kurz vor der
Ausreise alle körperlich nicht vorwurfsfreien Kinder von dem kanadischen
„Examinator" zurückgewiesen zu sehen.

In obiger Zusammenstellung kommt der Löwenanteil der Kinder auf
Barnardo. Es steht dies in Einklang mit Barnardos Stellung in England**).
Er hat in seinen Anstalten etwa 9000 Kinder und sie bedeuten damit das gro߬
artigste Unternehmen privater Fürsorge, dem nur die Walsh Seraph Society
der Church of England vergleichbar ist. Diese emigrieren verhältnismäßig sehr
wenige Kinder, trotzdem auch sie ungefähr 3000 Kinder unter ihrer Obhut
haben. Es mag dies mit den kirchlichen Verhältnissen in Kanada zusammen¬
hängen. Die Church of England steht dort numerisch nicht an erster Stelle,
sondern Katholiken. Methodisten und Presbyterianer sind sehr viel verbreiteter.
(Außer diesen zählt man in Kanada 71 verschiedene Glaubensbekenntnisse.)
Nun besteht zwar für jeden Verein die gesetzliche Verpflichtung, katholische
Kinder nur in katholischen Familien und protestantische Kinder ebenso nur in
protestantischen Familien unterzubringen, eine Berücksichtigung aber der zahlreichen
protestantischen Schattierungen im sektenreichen Osten Kanadas, der für die
Unterbringung von Kindern fast ausschließlich in Frage kommt, kann nicht statt¬
finden. Die Zahl der Familien, die der Church of England angehören und
bereit sind Kinder aufzunehmen, ist dort nicht groß genug und außerdem finden




*) Fürsorgeanstalten.
Bernardo ist zwar 1908 gestorben, sein Werk aber besteht in seinem Namen und
Geiste weiter, als stünde er noch an der Spitze.
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[0133] Der gegenwärtige Stand der Uindercmswanderung ans England nur einen Teil allgemeiner sozialer Arbeit, wie dies bei der Heilsarmee der Fall ist. Auch herrscht zwischen den Agencies ein Unterschied bezüglich des Ge¬ schlechts der auswandernden Kinder. Barnardo und andere emigrieren sowohl Knaben als Mädchen, Mr. Fegan und die Children Alt Society aber z. B. nur Knaben. Ausschließlich Mädchen werden nur von einigen Frauenvereinen emigriert und dann handelt es sich um nicht im eigentlichen Kindesalter stehende Mädchen. Jugendliche Auswanderer aus Neformatories*) und jugendlichen Gefängnissen (Borstalanstalten), die immer über 16 Jahre alt sind, werden direkt emigriert und durch einen Agenten, der dafür ein geringes Entgelt erhält, in Kanada in guten Stellungen untergebracht. Die gesetzlichen Vorschriften bedingen eine gewisse Gleichmäßigkeit der Tätigkeit sämtlicher Vereine: vor allem die Vorbereitung der zur Auswanderung bestimmten Kinder in einer Anstalt während sechs Monaten, wovon mindestens zwei in einem Heim des Vereins zuzubringen sind, dem die Beurteilung und Verant¬ wortung sür die Auswanderung zusteht. Die Aufnahme in ein solches Heim zum Zweck der Auswanderung hängt zum großen Teil von der ärztlichen Untersuchung ab. Die kanadischen Vorschriften sind betreffs der Gesundheit sehr rigoros und der Verein würde bei leichtsinnigen Aufnahmen Gefahr laufen, kurz vor der Ausreise alle körperlich nicht vorwurfsfreien Kinder von dem kanadischen „Examinator" zurückgewiesen zu sehen. In obiger Zusammenstellung kommt der Löwenanteil der Kinder auf Barnardo. Es steht dies in Einklang mit Barnardos Stellung in England**). Er hat in seinen Anstalten etwa 9000 Kinder und sie bedeuten damit das gro߬ artigste Unternehmen privater Fürsorge, dem nur die Walsh Seraph Society der Church of England vergleichbar ist. Diese emigrieren verhältnismäßig sehr wenige Kinder, trotzdem auch sie ungefähr 3000 Kinder unter ihrer Obhut haben. Es mag dies mit den kirchlichen Verhältnissen in Kanada zusammen¬ hängen. Die Church of England steht dort numerisch nicht an erster Stelle, sondern Katholiken. Methodisten und Presbyterianer sind sehr viel verbreiteter. (Außer diesen zählt man in Kanada 71 verschiedene Glaubensbekenntnisse.) Nun besteht zwar für jeden Verein die gesetzliche Verpflichtung, katholische Kinder nur in katholischen Familien und protestantische Kinder ebenso nur in protestantischen Familien unterzubringen, eine Berücksichtigung aber der zahlreichen protestantischen Schattierungen im sektenreichen Osten Kanadas, der für die Unterbringung von Kindern fast ausschließlich in Frage kommt, kann nicht statt¬ finden. Die Zahl der Familien, die der Church of England angehören und bereit sind Kinder aufzunehmen, ist dort nicht groß genug und außerdem finden *) Fürsorgeanstalten. Bernardo ist zwar 1908 gestorben, sein Werk aber besteht in seinem Namen und Geiste weiter, als stünde er noch an der Spitze.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/133>, abgerufen am 28.12.2024.