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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

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Beethovens Weltanschauung

ein, das Symbol einer unverrückbar festen Weltordnung: der Dichter wird zum
Seher, der in heiliger Begeisterung, wie mit ausgebreiteten Armen das All an
seine Brust ziehen möchte in der beseligenden Erkenntnis des tat toan U8i,
der All-Einheit alles Seienden, und in strahlendem Glänze geht das Stück
zu Ende,


Denn alle Lust will Ewigkeit,
Will tiefe, tiefe Ewigkeit.

Die Frage nach Beethovens Religiosität ist damit eigentlich schon zur Genüge
beantwortet. "Ich bin was da ist. Ich bin alles, was ist, was war, was
sein wird. Kein sterblicher Mensch hat meinen Schleier aufgehoben. Er ist
allein von ihm selbst, und diesem einzigen sind alle Dinge ihr Dasein schuldig."
Diese drei Inschriften aus dem Tempel der ägyptischen Neith hatte Beethoven
unter Glas und Rahmen auf seinem Schreibtisch stehen, und in sein Tagebuch
hat er einmal eingetragen: "Hart ist der Zustand jetzt für dich; doch der da
droben ist, o er ist, und ohne ihn ist nichts." Beethoven war tief religiös.
Nicht im Sinne eines kirchlich bestimmten Dogma und im katholischen nun schon
gar nicht, vielmehr lebt, wie Richard Wagner treffend bemerkt (Geh. Schriften
IX, 95). der ganze Geist des deutschen Protestantismus in ihm; sein Erbauungs¬
buch sind die "Betrachtungen über die Werke Gottes im Reiche der Natur und
Vorsehung" des lutherischen Pietisten Christian Sturm, auch Luthers Tischreden
liest er. Aber er geht doch noch weit über den dogmatisch gebundenen Pro¬
testantismus hinaus, und mit zunehmendem Alter bohrt er sich, wie sein Tage¬
buch beweist, immer tiefer in das letzte und höchste Problem des Transzendenten
hinein, bis schließlich mit der großen Messe das letzte gewaltige Ringen beginnt,
die Auseinandersetzung des Individuums mit der Gottheit. "Opfere noch einmal
alle Kleinigkeiten des gesellschaftlichen Lebens deiner Kunst. O Gott über alles!"
hatte er vor Beginn dieses Werkes sich im Tagebuch gemahnt, und selten ist
wohl ein auf religiösem Gebiet schaffender Künstler von seiner Aufgabe so er¬
griffen gewesen, wie Beethoven in jener Zeit, so daß er in seinem Zustande
völliger Weltentrücktheit seiner Umgebung wie ein Besessener erschien. Wie die
gesamte Beethovensche Tondichtung trägt auch diese Messe den Stempel eines
schier unerhörten Subjektivismus. "Von Herzen möge es zu Herzen gehen"
steht über dem Kyrie, sie gehört darum auch nicht eigentlich in die Kirche als
den Versammlungsort einer auf ein Dogma eingeschworenen Gemeinde. Beethoven


Sonaten, die immer noch ihren Ehrenplatz behaupten dürfte, hauptsächlich wegen der geist¬
vollen Anmerkungen des Herausgebers in Band 3 bis 6. Von neueren Ausgaben möge an
dieser Stelle noch die zurzeit viel umstrittene Phrasierungsausgabe von Riemann (Simrock)
erwähnt werden, deren Gebrauch für das Verständnis des Aufbaues des Tonstückes nicht
genug empfohlen werden kann. Von den Volksausgaben überragt die in der Kollektion
Litolff erschienene Neuausgabe von Schultze - Biesant, ebenfalls sorgfältig und verständnisvoll
Phrasiert, wenn auch nicht so ins einzelne gehend wie die von Riemann, alle anderen, auch
bezüglich der Ausstattung.*
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Beethovens Weltanschauung

ein, das Symbol einer unverrückbar festen Weltordnung: der Dichter wird zum
Seher, der in heiliger Begeisterung, wie mit ausgebreiteten Armen das All an
seine Brust ziehen möchte in der beseligenden Erkenntnis des tat toan U8i,
der All-Einheit alles Seienden, und in strahlendem Glänze geht das Stück
zu Ende,


Denn alle Lust will Ewigkeit,
Will tiefe, tiefe Ewigkeit.

Die Frage nach Beethovens Religiosität ist damit eigentlich schon zur Genüge
beantwortet. „Ich bin was da ist. Ich bin alles, was ist, was war, was
sein wird. Kein sterblicher Mensch hat meinen Schleier aufgehoben. Er ist
allein von ihm selbst, und diesem einzigen sind alle Dinge ihr Dasein schuldig."
Diese drei Inschriften aus dem Tempel der ägyptischen Neith hatte Beethoven
unter Glas und Rahmen auf seinem Schreibtisch stehen, und in sein Tagebuch
hat er einmal eingetragen: „Hart ist der Zustand jetzt für dich; doch der da
droben ist, o er ist, und ohne ihn ist nichts." Beethoven war tief religiös.
Nicht im Sinne eines kirchlich bestimmten Dogma und im katholischen nun schon
gar nicht, vielmehr lebt, wie Richard Wagner treffend bemerkt (Geh. Schriften
IX, 95). der ganze Geist des deutschen Protestantismus in ihm; sein Erbauungs¬
buch sind die „Betrachtungen über die Werke Gottes im Reiche der Natur und
Vorsehung" des lutherischen Pietisten Christian Sturm, auch Luthers Tischreden
liest er. Aber er geht doch noch weit über den dogmatisch gebundenen Pro¬
testantismus hinaus, und mit zunehmendem Alter bohrt er sich, wie sein Tage¬
buch beweist, immer tiefer in das letzte und höchste Problem des Transzendenten
hinein, bis schließlich mit der großen Messe das letzte gewaltige Ringen beginnt,
die Auseinandersetzung des Individuums mit der Gottheit. „Opfere noch einmal
alle Kleinigkeiten des gesellschaftlichen Lebens deiner Kunst. O Gott über alles!"
hatte er vor Beginn dieses Werkes sich im Tagebuch gemahnt, und selten ist
wohl ein auf religiösem Gebiet schaffender Künstler von seiner Aufgabe so er¬
griffen gewesen, wie Beethoven in jener Zeit, so daß er in seinem Zustande
völliger Weltentrücktheit seiner Umgebung wie ein Besessener erschien. Wie die
gesamte Beethovensche Tondichtung trägt auch diese Messe den Stempel eines
schier unerhörten Subjektivismus. „Von Herzen möge es zu Herzen gehen"
steht über dem Kyrie, sie gehört darum auch nicht eigentlich in die Kirche als
den Versammlungsort einer auf ein Dogma eingeschworenen Gemeinde. Beethoven


Sonaten, die immer noch ihren Ehrenplatz behaupten dürfte, hauptsächlich wegen der geist¬
vollen Anmerkungen des Herausgebers in Band 3 bis 6. Von neueren Ausgaben möge an
dieser Stelle noch die zurzeit viel umstrittene Phrasierungsausgabe von Riemann (Simrock)
erwähnt werden, deren Gebrauch für das Verständnis des Aufbaues des Tonstückes nicht
genug empfohlen werden kann. Von den Volksausgaben überragt die in der Kollektion
Litolff erschienene Neuausgabe von Schultze - Biesant, ebenfalls sorgfältig und verständnisvoll
Phrasiert, wenn auch nicht so ins einzelne gehend wie die von Riemann, alle anderen, auch
bezüglich der Ausstattung.*
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[0127] Beethovens Weltanschauung ein, das Symbol einer unverrückbar festen Weltordnung: der Dichter wird zum Seher, der in heiliger Begeisterung, wie mit ausgebreiteten Armen das All an seine Brust ziehen möchte in der beseligenden Erkenntnis des tat toan U8i, der All-Einheit alles Seienden, und in strahlendem Glänze geht das Stück zu Ende, Denn alle Lust will Ewigkeit, Will tiefe, tiefe Ewigkeit. Die Frage nach Beethovens Religiosität ist damit eigentlich schon zur Genüge beantwortet. „Ich bin was da ist. Ich bin alles, was ist, was war, was sein wird. Kein sterblicher Mensch hat meinen Schleier aufgehoben. Er ist allein von ihm selbst, und diesem einzigen sind alle Dinge ihr Dasein schuldig." Diese drei Inschriften aus dem Tempel der ägyptischen Neith hatte Beethoven unter Glas und Rahmen auf seinem Schreibtisch stehen, und in sein Tagebuch hat er einmal eingetragen: „Hart ist der Zustand jetzt für dich; doch der da droben ist, o er ist, und ohne ihn ist nichts." Beethoven war tief religiös. Nicht im Sinne eines kirchlich bestimmten Dogma und im katholischen nun schon gar nicht, vielmehr lebt, wie Richard Wagner treffend bemerkt (Geh. Schriften IX, 95). der ganze Geist des deutschen Protestantismus in ihm; sein Erbauungs¬ buch sind die „Betrachtungen über die Werke Gottes im Reiche der Natur und Vorsehung" des lutherischen Pietisten Christian Sturm, auch Luthers Tischreden liest er. Aber er geht doch noch weit über den dogmatisch gebundenen Pro¬ testantismus hinaus, und mit zunehmendem Alter bohrt er sich, wie sein Tage¬ buch beweist, immer tiefer in das letzte und höchste Problem des Transzendenten hinein, bis schließlich mit der großen Messe das letzte gewaltige Ringen beginnt, die Auseinandersetzung des Individuums mit der Gottheit. „Opfere noch einmal alle Kleinigkeiten des gesellschaftlichen Lebens deiner Kunst. O Gott über alles!" hatte er vor Beginn dieses Werkes sich im Tagebuch gemahnt, und selten ist wohl ein auf religiösem Gebiet schaffender Künstler von seiner Aufgabe so er¬ griffen gewesen, wie Beethoven in jener Zeit, so daß er in seinem Zustande völliger Weltentrücktheit seiner Umgebung wie ein Besessener erschien. Wie die gesamte Beethovensche Tondichtung trägt auch diese Messe den Stempel eines schier unerhörten Subjektivismus. „Von Herzen möge es zu Herzen gehen" steht über dem Kyrie, sie gehört darum auch nicht eigentlich in die Kirche als den Versammlungsort einer auf ein Dogma eingeschworenen Gemeinde. Beethoven Sonaten, die immer noch ihren Ehrenplatz behaupten dürfte, hauptsächlich wegen der geist¬ vollen Anmerkungen des Herausgebers in Band 3 bis 6. Von neueren Ausgaben möge an dieser Stelle noch die zurzeit viel umstrittene Phrasierungsausgabe von Riemann (Simrock) erwähnt werden, deren Gebrauch für das Verständnis des Aufbaues des Tonstückes nicht genug empfohlen werden kann. Von den Volksausgaben überragt die in der Kollektion Litolff erschienene Neuausgabe von Schultze - Biesant, ebenfalls sorgfältig und verständnisvoll Phrasiert, wenn auch nicht so ins einzelne gehend wie die von Riemann, alle anderen, auch bezüglich der Ausstattung.* 8

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/127>, abgerufen am 28.12.2024.