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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

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Reichstag und Reichsfinanzen

Wir Deutschen haben uns erfreulicherweise schon so sehr an die Gestalt
gewöhnt, die der Vereinigung der deutschen Stämme durch Bismarcks Lebens¬
werk gegeben worden ist, daß wir uns kaum noch vorzustellen vermögen, welche
Folgen eine Erschütterung der unter Mühen und Schmerzen geschaffenen ver¬
fassungsmäßigen Form haben könnte. Trotz der verhältnismäßigen Kürze der
Zeit können wir uns kaum noch den Zustand vergegenwärtigen, in dem Unitarier
und Föderalisten, Reichstreue und Partikularisten ernsthafte Gegensätze im
politischen Heerlager bedeuteten. Wo diese Gegensätze jetzt noch bestehen, haben
sie einen ganz anderm Charakter angenommen. Teils sind sie gänzlich unpolitisch
geworden und nur der verhältnismäßig harmlose Ausdruck von Gefühlswerten
und Stimmungen, teils sind sie Nebenerscheinungen politischer Gegensätze, deren
Bedeutung im Grunde eine andere ist und deren Austrag nicht in diesen staats¬
rechtlichen Fragen gesucht werden kann.

Daraus könnte wohl geschlossen werden, daß es eigentlich keine politischen
Sorgen mehr verursachen könne, wenn aus anderen Gründen irgendeine Ver¬
schiebung in den Rechten von Reich und Einzelstaaten einträte. Aber vor einer
so leichtherzigen Auffassung muß doch gewarnt werden. Nicht als ob daraus
unmittelbar folgenschwere Differenzen zwischen den einzelnen Bundesstaaten ent¬
stehen könnten. Aber ist für unsere gesamte Kräfteentwicklung von ausnehmen¬
der Bedeutung, daß das Gefühl erhalten bleibt, jeder einzelne deutsche Stamm,
jede auf solchen Verschiedenheiten beruhende, historisch gewordene Gruppierung
könne sich im Reich den eigenen Bedürfnissen entsprechend selbständig ent¬
wickeln, ohne daß die gemeinsamen Angelegenheiten des deutschen Vaterlandes
dadurch Abbruch erleiden. Das Dasein der deutschen Einzelstaaten bedeutet
sür unsere nun einmal unabänderliche nationale Eigenart eine wertvolle Kraft¬
steigerung, die wir nicht entbehren können und wollen, aber es behält diese
Bedeutung nur, wenn es sich neben den Anforderungen der Reichsgemeiuschaft
genügend behauptet; andernfalls ist es mindestens unökonomisch und wäre besser
durch einen Einheitsstaat mit stark entwickelter kommunaler Selbstverwaltung
zu ersetzen. Daß aber eine solche Umwandlung unserer ganzen geschichtlichen
Entwicklung widerspricht und niemals ohne die heftigsten inneren Erschütterungen
vor sich gehen könnte, liegt wohl auf der Hand. Deshalb ist die Wahrung
einer sorgfältig abgestrecktem und streng festgehaltenen Grenzlinie zwischen Reich
und Einzelstaaten eine Lebensfrage für unsere innere Gesundheit, -- auch dann,
wenn von irgendwelchen Befürchtungen hinsichtlich einer möglichen Auflösung
des Deutschen Reiches gar nicht die Rede ist.

Selbständige Aufgaben innerhalb unserer nationalen Gemeinschaft können
die deutschen Einzelstaaten nur erfüllen, wenn sie entsprechende finanzielle Be¬
wegungsfreiheit haben, und deshalb müssen sie das Recht der Selbstbestimmung
behalten, um ihre Finanzen den von ihnen übernommenen Aufgaben entsprechend
auszubauen. Das schließt nicht aus, daß sie einen großen Teil dessen, was
sie brauchen, und vielleicht noch mehr vom Reich erhalten. Das hat mit der


Reichstag und Reichsfinanzen

Wir Deutschen haben uns erfreulicherweise schon so sehr an die Gestalt
gewöhnt, die der Vereinigung der deutschen Stämme durch Bismarcks Lebens¬
werk gegeben worden ist, daß wir uns kaum noch vorzustellen vermögen, welche
Folgen eine Erschütterung der unter Mühen und Schmerzen geschaffenen ver¬
fassungsmäßigen Form haben könnte. Trotz der verhältnismäßigen Kürze der
Zeit können wir uns kaum noch den Zustand vergegenwärtigen, in dem Unitarier
und Föderalisten, Reichstreue und Partikularisten ernsthafte Gegensätze im
politischen Heerlager bedeuteten. Wo diese Gegensätze jetzt noch bestehen, haben
sie einen ganz anderm Charakter angenommen. Teils sind sie gänzlich unpolitisch
geworden und nur der verhältnismäßig harmlose Ausdruck von Gefühlswerten
und Stimmungen, teils sind sie Nebenerscheinungen politischer Gegensätze, deren
Bedeutung im Grunde eine andere ist und deren Austrag nicht in diesen staats¬
rechtlichen Fragen gesucht werden kann.

Daraus könnte wohl geschlossen werden, daß es eigentlich keine politischen
Sorgen mehr verursachen könne, wenn aus anderen Gründen irgendeine Ver¬
schiebung in den Rechten von Reich und Einzelstaaten einträte. Aber vor einer
so leichtherzigen Auffassung muß doch gewarnt werden. Nicht als ob daraus
unmittelbar folgenschwere Differenzen zwischen den einzelnen Bundesstaaten ent¬
stehen könnten. Aber ist für unsere gesamte Kräfteentwicklung von ausnehmen¬
der Bedeutung, daß das Gefühl erhalten bleibt, jeder einzelne deutsche Stamm,
jede auf solchen Verschiedenheiten beruhende, historisch gewordene Gruppierung
könne sich im Reich den eigenen Bedürfnissen entsprechend selbständig ent¬
wickeln, ohne daß die gemeinsamen Angelegenheiten des deutschen Vaterlandes
dadurch Abbruch erleiden. Das Dasein der deutschen Einzelstaaten bedeutet
sür unsere nun einmal unabänderliche nationale Eigenart eine wertvolle Kraft¬
steigerung, die wir nicht entbehren können und wollen, aber es behält diese
Bedeutung nur, wenn es sich neben den Anforderungen der Reichsgemeiuschaft
genügend behauptet; andernfalls ist es mindestens unökonomisch und wäre besser
durch einen Einheitsstaat mit stark entwickelter kommunaler Selbstverwaltung
zu ersetzen. Daß aber eine solche Umwandlung unserer ganzen geschichtlichen
Entwicklung widerspricht und niemals ohne die heftigsten inneren Erschütterungen
vor sich gehen könnte, liegt wohl auf der Hand. Deshalb ist die Wahrung
einer sorgfältig abgestrecktem und streng festgehaltenen Grenzlinie zwischen Reich
und Einzelstaaten eine Lebensfrage für unsere innere Gesundheit, — auch dann,
wenn von irgendwelchen Befürchtungen hinsichtlich einer möglichen Auflösung
des Deutschen Reiches gar nicht die Rede ist.

Selbständige Aufgaben innerhalb unserer nationalen Gemeinschaft können
die deutschen Einzelstaaten nur erfüllen, wenn sie entsprechende finanzielle Be¬
wegungsfreiheit haben, und deshalb müssen sie das Recht der Selbstbestimmung
behalten, um ihre Finanzen den von ihnen übernommenen Aufgaben entsprechend
auszubauen. Das schließt nicht aus, daß sie einen großen Teil dessen, was
sie brauchen, und vielleicht noch mehr vom Reich erhalten. Das hat mit der


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[0116] Reichstag und Reichsfinanzen Wir Deutschen haben uns erfreulicherweise schon so sehr an die Gestalt gewöhnt, die der Vereinigung der deutschen Stämme durch Bismarcks Lebens¬ werk gegeben worden ist, daß wir uns kaum noch vorzustellen vermögen, welche Folgen eine Erschütterung der unter Mühen und Schmerzen geschaffenen ver¬ fassungsmäßigen Form haben könnte. Trotz der verhältnismäßigen Kürze der Zeit können wir uns kaum noch den Zustand vergegenwärtigen, in dem Unitarier und Föderalisten, Reichstreue und Partikularisten ernsthafte Gegensätze im politischen Heerlager bedeuteten. Wo diese Gegensätze jetzt noch bestehen, haben sie einen ganz anderm Charakter angenommen. Teils sind sie gänzlich unpolitisch geworden und nur der verhältnismäßig harmlose Ausdruck von Gefühlswerten und Stimmungen, teils sind sie Nebenerscheinungen politischer Gegensätze, deren Bedeutung im Grunde eine andere ist und deren Austrag nicht in diesen staats¬ rechtlichen Fragen gesucht werden kann. Daraus könnte wohl geschlossen werden, daß es eigentlich keine politischen Sorgen mehr verursachen könne, wenn aus anderen Gründen irgendeine Ver¬ schiebung in den Rechten von Reich und Einzelstaaten einträte. Aber vor einer so leichtherzigen Auffassung muß doch gewarnt werden. Nicht als ob daraus unmittelbar folgenschwere Differenzen zwischen den einzelnen Bundesstaaten ent¬ stehen könnten. Aber ist für unsere gesamte Kräfteentwicklung von ausnehmen¬ der Bedeutung, daß das Gefühl erhalten bleibt, jeder einzelne deutsche Stamm, jede auf solchen Verschiedenheiten beruhende, historisch gewordene Gruppierung könne sich im Reich den eigenen Bedürfnissen entsprechend selbständig ent¬ wickeln, ohne daß die gemeinsamen Angelegenheiten des deutschen Vaterlandes dadurch Abbruch erleiden. Das Dasein der deutschen Einzelstaaten bedeutet sür unsere nun einmal unabänderliche nationale Eigenart eine wertvolle Kraft¬ steigerung, die wir nicht entbehren können und wollen, aber es behält diese Bedeutung nur, wenn es sich neben den Anforderungen der Reichsgemeiuschaft genügend behauptet; andernfalls ist es mindestens unökonomisch und wäre besser durch einen Einheitsstaat mit stark entwickelter kommunaler Selbstverwaltung zu ersetzen. Daß aber eine solche Umwandlung unserer ganzen geschichtlichen Entwicklung widerspricht und niemals ohne die heftigsten inneren Erschütterungen vor sich gehen könnte, liegt wohl auf der Hand. Deshalb ist die Wahrung einer sorgfältig abgestrecktem und streng festgehaltenen Grenzlinie zwischen Reich und Einzelstaaten eine Lebensfrage für unsere innere Gesundheit, — auch dann, wenn von irgendwelchen Befürchtungen hinsichtlich einer möglichen Auflösung des Deutschen Reiches gar nicht die Rede ist. Selbständige Aufgaben innerhalb unserer nationalen Gemeinschaft können die deutschen Einzelstaaten nur erfüllen, wenn sie entsprechende finanzielle Be¬ wegungsfreiheit haben, und deshalb müssen sie das Recht der Selbstbestimmung behalten, um ihre Finanzen den von ihnen übernommenen Aufgaben entsprechend auszubauen. Das schließt nicht aus, daß sie einen großen Teil dessen, was sie brauchen, und vielleicht noch mehr vom Reich erhalten. Das hat mit der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/116>, abgerufen am 20.10.2024.