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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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?le Rodia

Erlösung", "wenn sie in ihrem Leben ihre Seele geläutert hätte, wäre ihr nach
dem Tode Wiedergeburt in höherer Kaste zuteil geworden", "Widschaja hat sie
ins Elend zurückgestoßen durch seine Rettung."

"Aber er wußte doch nicht, daß sie eine Rodia war", hielt ich ihnen
entgegen.

"Er mußte es wissen", "niemand anders konnte ihm zu jener Stunde an
der Stelle begegnen", "schon an ihrem Ausweichen hätte er ihren Stand erkennen
müssen", "er folgte nur seinem Triebel"

Jetzt erhob sich der Alte wieder. Mit hohler Stimme sprach er: "Widschaja
ist ein Rodia. Ich habe keinen Sohn. Aber verflucht sie, die ihn verführt!
Verflucht, verflucht! Unglück soll sie haben und hervorrufen, wo ihr Fuß hin¬
tritt. Und verflucht seien ihre Kinder! Auch sie sollen nur verführen und
überall Unheil stiften. Flüche von Generationen sollen sich der Rodia und
ihren Sprossen an die Fersen heften!"

Da verlor ich die Geduld. Ich sprang vor, riß die vor mir Stehenden
auseinander, hielt ihm die Fäuste vor das Gesicht und schrie ihn an: "Wie
kannst du dein eigenes Blut verfluchen? Bist du denn ein Stein? Eure Kasten
sind doch nur Menschenwerk! Setze dich über sie hinweg, wenn es einen so
edlen Menschen gilt und noch dazu deinen Sohn!"

Er sah mich mit kalter Ruhe an, aber Haß spiegelte sich in seinem Blick.
"Die Kasten sind seit Jahrtausenden in unserem Volk. Woher sie kommen,
wissen wir nicht. Aber viele Millionen sind ihren Satzungen gefolgt, und ein
einzelner ist zu gering, umzustoßen, was große Völker seit Anfang für gut
gehalten haben. Und ihr Engländer, denkt ihr denn anders? Ich weiß sehr
wohl, daß jeder aus euerer Gesellschaft ausgestoßen wird, der eine von uns zu
eigen nimmt. Ihr habt recht. Wir wollen nichts anderes. Wer seinen Stamm
nicht achtet und rein hält, geht verloren."

Er wandte sich und ging in das Haus. Die anderen zerstreuten sich. Ich
stand allein auf der Straße.

Da ging ich in schweren Gedanken heim.

Am Flusse, bei den ersten Kokospalmen meiner Pflanzung, kamen mir
Widschaja und die Rodia entgegen. Das Herz wurde mir warm und ich vergaß
all das Traurige, als ich dieses herrliche Menschenpaar sah. Wie aus dem
Paradiese waren sie. Widschaja hatte sein Rocktuch dem Mädchen gegeben und
seine Jacke sich um die Hüften geschlungen. Sein edler Körper glich dem einer
Statue. Die Rodia hatte das Tuch um den Leib gelegt und dann über die
Schulter geworfen. Ihr Wuchs war wie der einer Göttin. Unter dem gescheitelten
Haar schaute das lieblichste Antlitz hervor, mit zwei Augen gleich tiefen Seen,
in die man kein Ende findet, hineinzublicken.

Widschaja trat auf mich zu. "Ich sehe in deinen Augen." sagte er, "die
Bestätigung dessen, was ich von Anfang an gewußt habe. Sie verstoßen mich,
ich bin der Sohn meines Vaters nicht weiter. Ein Verachteter mehr. Ich


?le Rodia

Erlösung", „wenn sie in ihrem Leben ihre Seele geläutert hätte, wäre ihr nach
dem Tode Wiedergeburt in höherer Kaste zuteil geworden", „Widschaja hat sie
ins Elend zurückgestoßen durch seine Rettung."

„Aber er wußte doch nicht, daß sie eine Rodia war", hielt ich ihnen
entgegen.

„Er mußte es wissen", „niemand anders konnte ihm zu jener Stunde an
der Stelle begegnen", „schon an ihrem Ausweichen hätte er ihren Stand erkennen
müssen", „er folgte nur seinem Triebel"

Jetzt erhob sich der Alte wieder. Mit hohler Stimme sprach er: „Widschaja
ist ein Rodia. Ich habe keinen Sohn. Aber verflucht sie, die ihn verführt!
Verflucht, verflucht! Unglück soll sie haben und hervorrufen, wo ihr Fuß hin¬
tritt. Und verflucht seien ihre Kinder! Auch sie sollen nur verführen und
überall Unheil stiften. Flüche von Generationen sollen sich der Rodia und
ihren Sprossen an die Fersen heften!"

Da verlor ich die Geduld. Ich sprang vor, riß die vor mir Stehenden
auseinander, hielt ihm die Fäuste vor das Gesicht und schrie ihn an: „Wie
kannst du dein eigenes Blut verfluchen? Bist du denn ein Stein? Eure Kasten
sind doch nur Menschenwerk! Setze dich über sie hinweg, wenn es einen so
edlen Menschen gilt und noch dazu deinen Sohn!"

Er sah mich mit kalter Ruhe an, aber Haß spiegelte sich in seinem Blick.
„Die Kasten sind seit Jahrtausenden in unserem Volk. Woher sie kommen,
wissen wir nicht. Aber viele Millionen sind ihren Satzungen gefolgt, und ein
einzelner ist zu gering, umzustoßen, was große Völker seit Anfang für gut
gehalten haben. Und ihr Engländer, denkt ihr denn anders? Ich weiß sehr
wohl, daß jeder aus euerer Gesellschaft ausgestoßen wird, der eine von uns zu
eigen nimmt. Ihr habt recht. Wir wollen nichts anderes. Wer seinen Stamm
nicht achtet und rein hält, geht verloren."

Er wandte sich und ging in das Haus. Die anderen zerstreuten sich. Ich
stand allein auf der Straße.

Da ging ich in schweren Gedanken heim.

Am Flusse, bei den ersten Kokospalmen meiner Pflanzung, kamen mir
Widschaja und die Rodia entgegen. Das Herz wurde mir warm und ich vergaß
all das Traurige, als ich dieses herrliche Menschenpaar sah. Wie aus dem
Paradiese waren sie. Widschaja hatte sein Rocktuch dem Mädchen gegeben und
seine Jacke sich um die Hüften geschlungen. Sein edler Körper glich dem einer
Statue. Die Rodia hatte das Tuch um den Leib gelegt und dann über die
Schulter geworfen. Ihr Wuchs war wie der einer Göttin. Unter dem gescheitelten
Haar schaute das lieblichste Antlitz hervor, mit zwei Augen gleich tiefen Seen,
in die man kein Ende findet, hineinzublicken.

Widschaja trat auf mich zu. „Ich sehe in deinen Augen." sagte er, „die
Bestätigung dessen, was ich von Anfang an gewußt habe. Sie verstoßen mich,
ich bin der Sohn meines Vaters nicht weiter. Ein Verachteter mehr. Ich


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/98>, abgerufen am 27.07.2024.