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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Die Rodia

von Roda^ Schmutz. Vor der englischen Herrschaft hatten die Rodias ein
furchtbares Schicksal. Sie mußten abseits von der Straße wohnen, ihre Frauen
durften die Brust nicht verhüllen, ihre Gärten mußten verwildern, ihre Hütten
durften nur den einfachsten Bau zeigen, Hausgerät war ihnen verwehrt. Die
Rodias durften nur am äußersten Rande der Straße gehen und, nahte ein
anderer Singhalese, so hatten sie sofort vom Wege herunterzulaufen und sich
abseits auf den Boden zu werfen, war es auch mitten im sumpfigen Reisfeld
oder im stachelichten Busch. Als sich einmal in der Nähe von Kanoy die
Rodias stark vermehrt hatten, beklagten sich die umwohnenden Singhalesen über
den zu häufigen, lästigen Anblick; darauf ließ der König von Kandy einfach
einige abschießen. Vor dem englischen Gesetz gibt es nun zwar keine Kasten¬
unterschiede mehr, die Verachtung der Rodias aber ist geblieben, und besonders
in abgelegeneren Gegenden würde es noch heute kein Rodia wagen, auf der
Straße zu bleiben, wenn ein anderer Singhalese ihm begegnet.

Die Rodias wohnen in besonderen Dörfern zusammen. Ich habe nie er¬
fahren können, warum jene Familie ihren Heimatsort verlassen und noch tiefere
Einsamkeit aufgesucht hatte. Denn weiter abseits von den Menschen konnten
sie nicht leben. Man wußte zwar im Dorf von ihrer Anwesenheit, aber man
sah sie niemals. Nur ich erblickte hin und wieder in der Nacht, wenn ich das
Freie aufsuchte, um die nächtliche Tierwelt zu beobachten, eine dunkle Gestalt,
die an meiner Pflanzung vorbeischwebte und am Flußufer verschwand. Bald
hatte ich den Grund heraus. Die Einsamen hatten in ihrem Urwald kein
Wasser und mußten dieses vom Gintota holen. An meiner Pflanzung war das
Ufer steil und hoch, einige Schritte aber auf dem Wege zum Dorf gab es eine
Bachmündung, in der man bis an das Wasser herankonnte.

Sie werden sich denken können, daß die Neugier mich trieb, auch diese
Nachbarn kennen zu lernen. Aber die Rodias waren scheu, wie die Tiere des
Waldes. Sie verließen nur nachts ihren Schlupfwinkel. Versuchte ich dann,
einer der Gestalten nachzugehen, so war sie plötzlich verschwunden. Einigemal
auch gedachte ich. die Rodias in ihrer Behausung zu begrüßen. Aber sie mußten
mein Kommen immer gemerkt haben, denn trat ich auf die Lichtung, so war
kein Mensch zu sehen, vor den Eingang der Hütte waren Bretter gestellt, die
hierzulande die Türen vertreten, und, mochten die Armen nun in den Wald
geflohen sein oder in ihrer Hütte kauern, den Eintritt erzwingen wollte
ich nicht.

Allmählich gewöhnte ich mich an die geheimnisvollen Nachbarn und achtete
nicht mehr auf die nächtlichen Schatten, wenn ich sie vorbeihuschen sah. Sprach
ich einmal mit Widschaja von den Rodias, so brach er schnell ab. "Herr,"
sagte er dann -- er behielt, wenn er mich anredete, das englische "Sir" im
singhalesischen bei -- "nenne mir diesen Namen nicht. Für mein Volk sind die
Bewohner deines Waldes unrein und es ziemt sich nach unseren Sitten nicht,
auch nur in Gedanken mit ihnen in Berührung zu treten."


Die Rodia

von Roda^ Schmutz. Vor der englischen Herrschaft hatten die Rodias ein
furchtbares Schicksal. Sie mußten abseits von der Straße wohnen, ihre Frauen
durften die Brust nicht verhüllen, ihre Gärten mußten verwildern, ihre Hütten
durften nur den einfachsten Bau zeigen, Hausgerät war ihnen verwehrt. Die
Rodias durften nur am äußersten Rande der Straße gehen und, nahte ein
anderer Singhalese, so hatten sie sofort vom Wege herunterzulaufen und sich
abseits auf den Boden zu werfen, war es auch mitten im sumpfigen Reisfeld
oder im stachelichten Busch. Als sich einmal in der Nähe von Kanoy die
Rodias stark vermehrt hatten, beklagten sich die umwohnenden Singhalesen über
den zu häufigen, lästigen Anblick; darauf ließ der König von Kandy einfach
einige abschießen. Vor dem englischen Gesetz gibt es nun zwar keine Kasten¬
unterschiede mehr, die Verachtung der Rodias aber ist geblieben, und besonders
in abgelegeneren Gegenden würde es noch heute kein Rodia wagen, auf der
Straße zu bleiben, wenn ein anderer Singhalese ihm begegnet.

Die Rodias wohnen in besonderen Dörfern zusammen. Ich habe nie er¬
fahren können, warum jene Familie ihren Heimatsort verlassen und noch tiefere
Einsamkeit aufgesucht hatte. Denn weiter abseits von den Menschen konnten
sie nicht leben. Man wußte zwar im Dorf von ihrer Anwesenheit, aber man
sah sie niemals. Nur ich erblickte hin und wieder in der Nacht, wenn ich das
Freie aufsuchte, um die nächtliche Tierwelt zu beobachten, eine dunkle Gestalt,
die an meiner Pflanzung vorbeischwebte und am Flußufer verschwand. Bald
hatte ich den Grund heraus. Die Einsamen hatten in ihrem Urwald kein
Wasser und mußten dieses vom Gintota holen. An meiner Pflanzung war das
Ufer steil und hoch, einige Schritte aber auf dem Wege zum Dorf gab es eine
Bachmündung, in der man bis an das Wasser herankonnte.

Sie werden sich denken können, daß die Neugier mich trieb, auch diese
Nachbarn kennen zu lernen. Aber die Rodias waren scheu, wie die Tiere des
Waldes. Sie verließen nur nachts ihren Schlupfwinkel. Versuchte ich dann,
einer der Gestalten nachzugehen, so war sie plötzlich verschwunden. Einigemal
auch gedachte ich. die Rodias in ihrer Behausung zu begrüßen. Aber sie mußten
mein Kommen immer gemerkt haben, denn trat ich auf die Lichtung, so war
kein Mensch zu sehen, vor den Eingang der Hütte waren Bretter gestellt, die
hierzulande die Türen vertreten, und, mochten die Armen nun in den Wald
geflohen sein oder in ihrer Hütte kauern, den Eintritt erzwingen wollte
ich nicht.

Allmählich gewöhnte ich mich an die geheimnisvollen Nachbarn und achtete
nicht mehr auf die nächtlichen Schatten, wenn ich sie vorbeihuschen sah. Sprach
ich einmal mit Widschaja von den Rodias, so brach er schnell ab. „Herr,"
sagte er dann — er behielt, wenn er mich anredete, das englische „Sir" im
singhalesischen bei — „nenne mir diesen Namen nicht. Für mein Volk sind die
Bewohner deines Waldes unrein und es ziemt sich nach unseren Sitten nicht,
auch nur in Gedanken mit ihnen in Berührung zu treten."


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[0094] Die Rodia von Roda^ Schmutz. Vor der englischen Herrschaft hatten die Rodias ein furchtbares Schicksal. Sie mußten abseits von der Straße wohnen, ihre Frauen durften die Brust nicht verhüllen, ihre Gärten mußten verwildern, ihre Hütten durften nur den einfachsten Bau zeigen, Hausgerät war ihnen verwehrt. Die Rodias durften nur am äußersten Rande der Straße gehen und, nahte ein anderer Singhalese, so hatten sie sofort vom Wege herunterzulaufen und sich abseits auf den Boden zu werfen, war es auch mitten im sumpfigen Reisfeld oder im stachelichten Busch. Als sich einmal in der Nähe von Kanoy die Rodias stark vermehrt hatten, beklagten sich die umwohnenden Singhalesen über den zu häufigen, lästigen Anblick; darauf ließ der König von Kandy einfach einige abschießen. Vor dem englischen Gesetz gibt es nun zwar keine Kasten¬ unterschiede mehr, die Verachtung der Rodias aber ist geblieben, und besonders in abgelegeneren Gegenden würde es noch heute kein Rodia wagen, auf der Straße zu bleiben, wenn ein anderer Singhalese ihm begegnet. Die Rodias wohnen in besonderen Dörfern zusammen. Ich habe nie er¬ fahren können, warum jene Familie ihren Heimatsort verlassen und noch tiefere Einsamkeit aufgesucht hatte. Denn weiter abseits von den Menschen konnten sie nicht leben. Man wußte zwar im Dorf von ihrer Anwesenheit, aber man sah sie niemals. Nur ich erblickte hin und wieder in der Nacht, wenn ich das Freie aufsuchte, um die nächtliche Tierwelt zu beobachten, eine dunkle Gestalt, die an meiner Pflanzung vorbeischwebte und am Flußufer verschwand. Bald hatte ich den Grund heraus. Die Einsamen hatten in ihrem Urwald kein Wasser und mußten dieses vom Gintota holen. An meiner Pflanzung war das Ufer steil und hoch, einige Schritte aber auf dem Wege zum Dorf gab es eine Bachmündung, in der man bis an das Wasser herankonnte. Sie werden sich denken können, daß die Neugier mich trieb, auch diese Nachbarn kennen zu lernen. Aber die Rodias waren scheu, wie die Tiere des Waldes. Sie verließen nur nachts ihren Schlupfwinkel. Versuchte ich dann, einer der Gestalten nachzugehen, so war sie plötzlich verschwunden. Einigemal auch gedachte ich. die Rodias in ihrer Behausung zu begrüßen. Aber sie mußten mein Kommen immer gemerkt haben, denn trat ich auf die Lichtung, so war kein Mensch zu sehen, vor den Eingang der Hütte waren Bretter gestellt, die hierzulande die Türen vertreten, und, mochten die Armen nun in den Wald geflohen sein oder in ihrer Hütte kauern, den Eintritt erzwingen wollte ich nicht. Allmählich gewöhnte ich mich an die geheimnisvollen Nachbarn und achtete nicht mehr auf die nächtlichen Schatten, wenn ich sie vorbeihuschen sah. Sprach ich einmal mit Widschaja von den Rodias, so brach er schnell ab. „Herr," sagte er dann — er behielt, wenn er mich anredete, das englische „Sir" im singhalesischen bei — „nenne mir diesen Namen nicht. Für mein Volk sind die Bewohner deines Waldes unrein und es ziemt sich nach unseren Sitten nicht, auch nur in Gedanken mit ihnen in Berührung zu treten."

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/94>, abgerufen am 22.12.2024.