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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Die Rodia

Die weiße Jacke und das um die Hüften gelegte, gelbrote Rocktuch umkleideten
eine schöne Gestalt. Die unten hervorschauenden Füße waren wie die Hände
aristokratisch geformt. Edel war auch das Gesicht mit der leicht gebogenen
Nase und den dunklen Augen, und nach der Ansicht seiner Landsleute war
Widschaja auch dem Blute nach von vornehmer Herkunft. Er sollte von irgend¬
einer Seitenlinie des "Großen Geschlechtes" abstammen, dessen Hauptstamm
dreihundert Jahre nach Christus erlosch; dieser hatte acht Jahrhunderte Ceylon
Könige gegeben, deren Namen die Blütezeit des Singhalesenreiches bezeichnen.
Der stolze Vater -- die Mutter starb bald nach der Geburt ihres einzigen
Kindes -- hatte seinem Sohne den Namen des Begründers dieses Geschlechtes,
des Eroberers und ersten Königs der Insel gegeben.

Widschaja genoß im Dorf ungewöhnliches Ansehen. Er konnte alles von
den Leuten verlangen. Sie halfen ihm bei der Bestellung seiner Reisfelder, sie
kletterten für ihn auf die Kokospalmen, um die reifen Nüsse herunterzuholen. Das
Leben wurde ihm so sehr erleichtert, daß seine Charakterentwicklung darunter leiden
mußte. Widschaja gewöhnte sich daran, allen seinen Wünschen nachzugeben und,
wo es nur anging, andere für sich schaffen zu lassen. Aber sein Herz blieb gut,
und ein schöner Drang nach Höherbildung entwickelte sich in ihm immer mehr.
Darum schloß er sich an mich -- wir waren beide fast gleichalterig -- mit
wachsenderZuneigung an. Mir gegenüber war er nicht derKönigssproß, ichstand ihm
aber auch nicht höher, als er. sondern war für ihn einfach ein Wesen, das außerhalb
aller singhalesischen Kasten sich befand und daher ganz anders betrachtet werden
mußte. So denken übrigens alle gebildeten Singhalesen von den Europäern.

Widschaja besuchte mich oft. Er hatte englisch gelernt und las gern meine
Bücher. Wir unterhielten uns aber immer singhalesisch. Mancher würde sich
gewundert haben, wenn er uns gesehen hätte, wie wir am Flusse in lebhaftem
Gespräch entlang schritten, ich meine kurze Pfeife im Mund, er Betel kauend
und von Zeit zu Zeit den ziegelrot gefärbten Speichel auf den Boden spuckend.

Das Dorf an der Straße war aber nicht die einzige menschliche Ansiedelung
in meiner Nähe. Wenn ich vorhin sagte, daß meine Pflanzung nur urwüchsiger
Urwald umgab, so war das insofern nicht ganz richtig, als auch in diesem
Urwald eine Hütte stand. Gerade hinter meinen letzten Kokospalmen begann
ein schmaler Fußpfad, der in mannigfachen Windungen sich in den Wald hin-
einschlängelte. An seinen, Ende weidete sich eine Lichtung und hier wuchs eine
armselige Hütte aus dem Boden, umgeben von einigen Gemüsebeeten, Bananen
und Baummelonen. Das ganze machte einen weltverlorenen Eindruck, wie der
letzte Schlupfwinkel von Menschen, die sich vor den anderen fürchten und sie
um jeden Preis meiden müssen. Und es waren wirklich solche Unglückliche,
die hier wohnten. Eine Rodiafamilie hatte ihre Hütte an dieser weltfernen
Stelle errichtet. , / .

Sie werden bereits von den Rodias ^ gehört haben. Es ist die niederste
n"d von allen Singhalesen einmütig verachtete Kaste. Rodia heißt der Unreine


Grenzlinien II 1913 6
Die Rodia

Die weiße Jacke und das um die Hüften gelegte, gelbrote Rocktuch umkleideten
eine schöne Gestalt. Die unten hervorschauenden Füße waren wie die Hände
aristokratisch geformt. Edel war auch das Gesicht mit der leicht gebogenen
Nase und den dunklen Augen, und nach der Ansicht seiner Landsleute war
Widschaja auch dem Blute nach von vornehmer Herkunft. Er sollte von irgend¬
einer Seitenlinie des „Großen Geschlechtes" abstammen, dessen Hauptstamm
dreihundert Jahre nach Christus erlosch; dieser hatte acht Jahrhunderte Ceylon
Könige gegeben, deren Namen die Blütezeit des Singhalesenreiches bezeichnen.
Der stolze Vater — die Mutter starb bald nach der Geburt ihres einzigen
Kindes — hatte seinem Sohne den Namen des Begründers dieses Geschlechtes,
des Eroberers und ersten Königs der Insel gegeben.

Widschaja genoß im Dorf ungewöhnliches Ansehen. Er konnte alles von
den Leuten verlangen. Sie halfen ihm bei der Bestellung seiner Reisfelder, sie
kletterten für ihn auf die Kokospalmen, um die reifen Nüsse herunterzuholen. Das
Leben wurde ihm so sehr erleichtert, daß seine Charakterentwicklung darunter leiden
mußte. Widschaja gewöhnte sich daran, allen seinen Wünschen nachzugeben und,
wo es nur anging, andere für sich schaffen zu lassen. Aber sein Herz blieb gut,
und ein schöner Drang nach Höherbildung entwickelte sich in ihm immer mehr.
Darum schloß er sich an mich — wir waren beide fast gleichalterig — mit
wachsenderZuneigung an. Mir gegenüber war er nicht derKönigssproß, ichstand ihm
aber auch nicht höher, als er. sondern war für ihn einfach ein Wesen, das außerhalb
aller singhalesischen Kasten sich befand und daher ganz anders betrachtet werden
mußte. So denken übrigens alle gebildeten Singhalesen von den Europäern.

Widschaja besuchte mich oft. Er hatte englisch gelernt und las gern meine
Bücher. Wir unterhielten uns aber immer singhalesisch. Mancher würde sich
gewundert haben, wenn er uns gesehen hätte, wie wir am Flusse in lebhaftem
Gespräch entlang schritten, ich meine kurze Pfeife im Mund, er Betel kauend
und von Zeit zu Zeit den ziegelrot gefärbten Speichel auf den Boden spuckend.

Das Dorf an der Straße war aber nicht die einzige menschliche Ansiedelung
in meiner Nähe. Wenn ich vorhin sagte, daß meine Pflanzung nur urwüchsiger
Urwald umgab, so war das insofern nicht ganz richtig, als auch in diesem
Urwald eine Hütte stand. Gerade hinter meinen letzten Kokospalmen begann
ein schmaler Fußpfad, der in mannigfachen Windungen sich in den Wald hin-
einschlängelte. An seinen, Ende weidete sich eine Lichtung und hier wuchs eine
armselige Hütte aus dem Boden, umgeben von einigen Gemüsebeeten, Bananen
und Baummelonen. Das ganze machte einen weltverlorenen Eindruck, wie der
letzte Schlupfwinkel von Menschen, die sich vor den anderen fürchten und sie
um jeden Preis meiden müssen. Und es waren wirklich solche Unglückliche,
die hier wohnten. Eine Rodiafamilie hatte ihre Hütte an dieser weltfernen
Stelle errichtet. , / .

Sie werden bereits von den Rodias ^ gehört haben. Es ist die niederste
n»d von allen Singhalesen einmütig verachtete Kaste. Rodia heißt der Unreine


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[0093] Die Rodia Die weiße Jacke und das um die Hüften gelegte, gelbrote Rocktuch umkleideten eine schöne Gestalt. Die unten hervorschauenden Füße waren wie die Hände aristokratisch geformt. Edel war auch das Gesicht mit der leicht gebogenen Nase und den dunklen Augen, und nach der Ansicht seiner Landsleute war Widschaja auch dem Blute nach von vornehmer Herkunft. Er sollte von irgend¬ einer Seitenlinie des „Großen Geschlechtes" abstammen, dessen Hauptstamm dreihundert Jahre nach Christus erlosch; dieser hatte acht Jahrhunderte Ceylon Könige gegeben, deren Namen die Blütezeit des Singhalesenreiches bezeichnen. Der stolze Vater — die Mutter starb bald nach der Geburt ihres einzigen Kindes — hatte seinem Sohne den Namen des Begründers dieses Geschlechtes, des Eroberers und ersten Königs der Insel gegeben. Widschaja genoß im Dorf ungewöhnliches Ansehen. Er konnte alles von den Leuten verlangen. Sie halfen ihm bei der Bestellung seiner Reisfelder, sie kletterten für ihn auf die Kokospalmen, um die reifen Nüsse herunterzuholen. Das Leben wurde ihm so sehr erleichtert, daß seine Charakterentwicklung darunter leiden mußte. Widschaja gewöhnte sich daran, allen seinen Wünschen nachzugeben und, wo es nur anging, andere für sich schaffen zu lassen. Aber sein Herz blieb gut, und ein schöner Drang nach Höherbildung entwickelte sich in ihm immer mehr. Darum schloß er sich an mich — wir waren beide fast gleichalterig — mit wachsenderZuneigung an. Mir gegenüber war er nicht derKönigssproß, ichstand ihm aber auch nicht höher, als er. sondern war für ihn einfach ein Wesen, das außerhalb aller singhalesischen Kasten sich befand und daher ganz anders betrachtet werden mußte. So denken übrigens alle gebildeten Singhalesen von den Europäern. Widschaja besuchte mich oft. Er hatte englisch gelernt und las gern meine Bücher. Wir unterhielten uns aber immer singhalesisch. Mancher würde sich gewundert haben, wenn er uns gesehen hätte, wie wir am Flusse in lebhaftem Gespräch entlang schritten, ich meine kurze Pfeife im Mund, er Betel kauend und von Zeit zu Zeit den ziegelrot gefärbten Speichel auf den Boden spuckend. Das Dorf an der Straße war aber nicht die einzige menschliche Ansiedelung in meiner Nähe. Wenn ich vorhin sagte, daß meine Pflanzung nur urwüchsiger Urwald umgab, so war das insofern nicht ganz richtig, als auch in diesem Urwald eine Hütte stand. Gerade hinter meinen letzten Kokospalmen begann ein schmaler Fußpfad, der in mannigfachen Windungen sich in den Wald hin- einschlängelte. An seinen, Ende weidete sich eine Lichtung und hier wuchs eine armselige Hütte aus dem Boden, umgeben von einigen Gemüsebeeten, Bananen und Baummelonen. Das ganze machte einen weltverlorenen Eindruck, wie der letzte Schlupfwinkel von Menschen, die sich vor den anderen fürchten und sie um jeden Preis meiden müssen. Und es waren wirklich solche Unglückliche, die hier wohnten. Eine Rodiafamilie hatte ihre Hütte an dieser weltfernen Stelle errichtet. , / . Sie werden bereits von den Rodias ^ gehört haben. Es ist die niederste n»d von allen Singhalesen einmütig verachtete Kaste. Rodia heißt der Unreine Grenzlinien II 1913 6

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/93>, abgerufen am 27.07.2024.