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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Mehr Herder?

läßt. Manche Ausfälle auf den platten Intellektualismus der Aufklärung seiner
Zeit könnten ebenso gut heute geschrieben sein. Gewiß hatte diese Art, an die
Dinge heranzutreten, ihre Schattenseite: es war Herder schwierig, wenn nicht
unmöglich, die Dinge objektiv zu betrachten; ohne Affektion der Gefühlsseite
war ihm jede Geistestätigkeit zuwider. Aber gerade da, wo der Denker zum
einfühlenden Seher wird, werden wir hingerissen von den weiten Blicken in
unbekannte Länder, deren Gefilde sich ihm und uns beleben durch die Kraft
der liebend hingegebenen Intuition.

Eben hierdurch ist Herder zu einem großen sa'emann geworden. Wo er
mühelos seine Ideen hinwirft, unausgeführte, weil zur Ausführung der Drang
der schöpferischen Stunde nicht Zeit ließ, da ist für uns Nachlebende ein Schacht
voll von Schätzen, die alle zu heben noch nicht gelingen wollte. Die Jnkonse¬
quenzen, die den "Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit" anhaften,
das Unzureichende der Humanitätsidee als des Kernes und Sternes Herderscher
Zielsetzung sind ja längst erkannt. Aber daß ihm der Kulturhistoriker, der
Geschichtsphilosoph die weitesten Blicke, ja sozusagen die erste Begründung seines
Gedankengebäudes verdankt, wird darum nicht bestritten. Erst in den letzten
Jahrzehnten besinnen sich auch andere Wissenschaften darauf, was sie seinen
Anschauungen, ja auch seinen oft nur kurz hingeworfenen Andeutungen ver¬
danken. So hat der gewiß kompetente Wilhelm Wundt auf deu "Geist heutiger
Psychologie" hingewiesen, der -- im Gegensatz zu den meisten späteren Werken
über das gleiche Thema -- in Herders Schrift über den Ursprung der
Sprache lebendig sei. Wenn ich noch die Schriften des Juristen Viktor Ehrenberg
("Herders Bedeutung für die Rechtswissenschaft", 1903), des Botanikers Adolf
Hansen ("Häckels Welträtsel und Herders Weltanschauung", 1907), des Theo¬
logen Horst Stephan ("Herder in Bückeburg und seine Bedeutung für die
Kirchengeschichte", 1905) nenne, so geschieht es, um zu erweisen, daß die Schätzung
Herders als eines Bahnbrechers oder doch Anregers auf den verschiedensten
Gebieten immer mehr Fortschritte macht.

So wäre denn zu sagen: Herder wird als vorbildliche Persönlichkeit unserem
Geschlechte, das der echten Heldenverehrung wieder dringend bedarf, nichts zu
bieten haben, desto mehr aber werden wir uns in seine Schriften vertiefen,
um einerseits den Reichtum des Gefühls zu kosten, in den er alles eintaucht,
und um anderseits, von welcher Wissenschaft aus wir bei ihm einkehren, bereichert
um Ausblicke, Anregungen und Ideen diesen eigenartig selbständigen Denker
zu verlassen.




Herders als eines Säemanns muß aber auch noch in einem anderen
Zusammenhang gedacht werden, auf einem Gebiete, das alle gebildeten Deutschen
angeht. Vor kurzem hat ein Buch von Günther Jacoby, "Herder als Faust"
(Leipzig 1911, Felix Meiner), berechtigtes Aufsehen erregt und ist. soviel ich


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läßt. Manche Ausfälle auf den platten Intellektualismus der Aufklärung seiner
Zeit könnten ebenso gut heute geschrieben sein. Gewiß hatte diese Art, an die
Dinge heranzutreten, ihre Schattenseite: es war Herder schwierig, wenn nicht
unmöglich, die Dinge objektiv zu betrachten; ohne Affektion der Gefühlsseite
war ihm jede Geistestätigkeit zuwider. Aber gerade da, wo der Denker zum
einfühlenden Seher wird, werden wir hingerissen von den weiten Blicken in
unbekannte Länder, deren Gefilde sich ihm und uns beleben durch die Kraft
der liebend hingegebenen Intuition.

Eben hierdurch ist Herder zu einem großen sa'emann geworden. Wo er
mühelos seine Ideen hinwirft, unausgeführte, weil zur Ausführung der Drang
der schöpferischen Stunde nicht Zeit ließ, da ist für uns Nachlebende ein Schacht
voll von Schätzen, die alle zu heben noch nicht gelingen wollte. Die Jnkonse¬
quenzen, die den „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit" anhaften,
das Unzureichende der Humanitätsidee als des Kernes und Sternes Herderscher
Zielsetzung sind ja längst erkannt. Aber daß ihm der Kulturhistoriker, der
Geschichtsphilosoph die weitesten Blicke, ja sozusagen die erste Begründung seines
Gedankengebäudes verdankt, wird darum nicht bestritten. Erst in den letzten
Jahrzehnten besinnen sich auch andere Wissenschaften darauf, was sie seinen
Anschauungen, ja auch seinen oft nur kurz hingeworfenen Andeutungen ver¬
danken. So hat der gewiß kompetente Wilhelm Wundt auf deu „Geist heutiger
Psychologie" hingewiesen, der — im Gegensatz zu den meisten späteren Werken
über das gleiche Thema — in Herders Schrift über den Ursprung der
Sprache lebendig sei. Wenn ich noch die Schriften des Juristen Viktor Ehrenberg
(„Herders Bedeutung für die Rechtswissenschaft", 1903), des Botanikers Adolf
Hansen („Häckels Welträtsel und Herders Weltanschauung", 1907), des Theo¬
logen Horst Stephan („Herder in Bückeburg und seine Bedeutung für die
Kirchengeschichte", 1905) nenne, so geschieht es, um zu erweisen, daß die Schätzung
Herders als eines Bahnbrechers oder doch Anregers auf den verschiedensten
Gebieten immer mehr Fortschritte macht.

So wäre denn zu sagen: Herder wird als vorbildliche Persönlichkeit unserem
Geschlechte, das der echten Heldenverehrung wieder dringend bedarf, nichts zu
bieten haben, desto mehr aber werden wir uns in seine Schriften vertiefen,
um einerseits den Reichtum des Gefühls zu kosten, in den er alles eintaucht,
und um anderseits, von welcher Wissenschaft aus wir bei ihm einkehren, bereichert
um Ausblicke, Anregungen und Ideen diesen eigenartig selbständigen Denker
zu verlassen.




Herders als eines Säemanns muß aber auch noch in einem anderen
Zusammenhang gedacht werden, auf einem Gebiete, das alle gebildeten Deutschen
angeht. Vor kurzem hat ein Buch von Günther Jacoby, „Herder als Faust"
(Leipzig 1911, Felix Meiner), berechtigtes Aufsehen erregt und ist. soviel ich


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[0076] Mehr Herder? läßt. Manche Ausfälle auf den platten Intellektualismus der Aufklärung seiner Zeit könnten ebenso gut heute geschrieben sein. Gewiß hatte diese Art, an die Dinge heranzutreten, ihre Schattenseite: es war Herder schwierig, wenn nicht unmöglich, die Dinge objektiv zu betrachten; ohne Affektion der Gefühlsseite war ihm jede Geistestätigkeit zuwider. Aber gerade da, wo der Denker zum einfühlenden Seher wird, werden wir hingerissen von den weiten Blicken in unbekannte Länder, deren Gefilde sich ihm und uns beleben durch die Kraft der liebend hingegebenen Intuition. Eben hierdurch ist Herder zu einem großen sa'emann geworden. Wo er mühelos seine Ideen hinwirft, unausgeführte, weil zur Ausführung der Drang der schöpferischen Stunde nicht Zeit ließ, da ist für uns Nachlebende ein Schacht voll von Schätzen, die alle zu heben noch nicht gelingen wollte. Die Jnkonse¬ quenzen, die den „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit" anhaften, das Unzureichende der Humanitätsidee als des Kernes und Sternes Herderscher Zielsetzung sind ja längst erkannt. Aber daß ihm der Kulturhistoriker, der Geschichtsphilosoph die weitesten Blicke, ja sozusagen die erste Begründung seines Gedankengebäudes verdankt, wird darum nicht bestritten. Erst in den letzten Jahrzehnten besinnen sich auch andere Wissenschaften darauf, was sie seinen Anschauungen, ja auch seinen oft nur kurz hingeworfenen Andeutungen ver¬ danken. So hat der gewiß kompetente Wilhelm Wundt auf deu „Geist heutiger Psychologie" hingewiesen, der — im Gegensatz zu den meisten späteren Werken über das gleiche Thema — in Herders Schrift über den Ursprung der Sprache lebendig sei. Wenn ich noch die Schriften des Juristen Viktor Ehrenberg („Herders Bedeutung für die Rechtswissenschaft", 1903), des Botanikers Adolf Hansen („Häckels Welträtsel und Herders Weltanschauung", 1907), des Theo¬ logen Horst Stephan („Herder in Bückeburg und seine Bedeutung für die Kirchengeschichte", 1905) nenne, so geschieht es, um zu erweisen, daß die Schätzung Herders als eines Bahnbrechers oder doch Anregers auf den verschiedensten Gebieten immer mehr Fortschritte macht. So wäre denn zu sagen: Herder wird als vorbildliche Persönlichkeit unserem Geschlechte, das der echten Heldenverehrung wieder dringend bedarf, nichts zu bieten haben, desto mehr aber werden wir uns in seine Schriften vertiefen, um einerseits den Reichtum des Gefühls zu kosten, in den er alles eintaucht, und um anderseits, von welcher Wissenschaft aus wir bei ihm einkehren, bereichert um Ausblicke, Anregungen und Ideen diesen eigenartig selbständigen Denker zu verlassen. Herders als eines Säemanns muß aber auch noch in einem anderen Zusammenhang gedacht werden, auf einem Gebiete, das alle gebildeten Deutschen angeht. Vor kurzem hat ein Buch von Günther Jacoby, „Herder als Faust" (Leipzig 1911, Felix Meiner), berechtigtes Aufsehen erregt und ist. soviel ich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/76>, abgerufen am 27.07.2024.