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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Mehr Herder?

Schon früh hemmt ihn der Gegensatz, der in dem Bewußtsein der inneren
Fülle und der Unfähigkeit, sie restlos zu äußern, liegt. Hieraus entspringen
-- sogar im Augenblick heftigsten Vordringens nach innerer Klärung! -- kleine
Züge von Besorgnis, ob man ihn? auch die gebührende Anerkennung zolle. Auch
diese Abhängigkeit von äußerem Urteil, ein Zeichen des mangelnden inneren
Gleichgewichts, ist ein Zug, der in unserer Zeit liegt. Wenn Herder, mit seiner
Fülle der Gesichte, mit dem Gefühl, ein Reformator der Kulturphilosophie zu
sein, vom Menschenurteil beeinflußt wird, so ist es wohl ein Überbleibsel seiner
harten Jugend, eine Art Verkrüppelung, die wir an dem Wahrheitssucher be¬
sonders schmerzlich empfinden. Gar zu menschlich erscheint es uns, wenn er
den Mangel an innerer Sicherheit ersetzt durch eine zur Schau getragene Würde,
oder gar durch ein absprechendes, nörgelndes Wesen.

Kann uns, die wir in einer unharmonisch gärenden Zeit nach Bahnbrechern
in ein Land der Harmonie zwischen Wollen und Können, zwischen Ich und
Umwelt ausschauen, kann uns Herder ein Führer sein? Er lebt uns die
Schmerzen vor, die in dem Mißverhältnis der genialen Intuition und der
praktischen Auswirkung ihre Quelle haben. Er. d. h. seine Persönlichkeit, kann
uns als psychologisches Studienobjekt interessieren, er kann uns als Held einer
im tiefsten menschlichen Wesen beruhenden Tragik erscheinen, aber ein Führer,
ein Vorbild, die Verkörperung eines Ideals kann uns dieser von Grund aus
unglückliche Mensch nicht sein.

Und doch, wenn dem so ist, was verschaffte diesem Menschen die Anziehungs¬
kraft, woher stammt der beispiellose Reiz, den Herder während seiner Jugend
und selbst noch bis ins Alter hinein auf so viele Menschen, die in seinen Kreis
traten, ausgeübt hat? Das Geheimnis liegt in der Wärme seines Wesens.
Das Gefühl, womit er Menschen und Dinge aller Zeiten umfaßt, läßt ihn als
ein Wesen von einziger Art erscheinen, nicht die von den Dingen abgelöste
Schwärmerei, nicht Ästhetentum, sondern ein enthusiastisches Ergreifen und Zu-
eigenmachen alles Gegebenen. In wem dieser Ton gleiche Saiten erregte, der
konnte sich Herders Wesen nicht entziehen. So allein ist sein Verhältnis zu
Goethe zu verstehen, der durch die unfreundliche Schale ins Innere dieses
seltenen Menschen sah. Hier ist es, wo die Versenkung in Herders Schriften,
die Vorstellung von seiner Menschenart, eine wohltätige Wirkung auf uns Kinder
einer raschlebenden, verstandeskühlen Zeit üben könnte. Man muß Schriften
aus seiner ersten Lebenshälfte lesen, z. B. die "Älteste Urkunde des Menschen-
geschlechts", um zu verstehen, wie ihm in ganz unerhörtem Maße die Gabe
des Einfühlens in die Gegenstände gegeben war. Das Gefühl war das Grund¬
organ, mit dem er nahes und Fernes an sich zog und zu einer eigenen Art
von Klarheit brachte. Und er war sich dieser Wesensseite froh bewußt. Wie
er z. B. in den Briefen über Ossian das gefühlsmäßig Erlebte in der Dichtung
dem Ergrübeltem entgegenhielt, so möchte man heute oft auch auf anderen Ge¬
bieten des geistigen Lebens tun, wo verstandesdürre Arbeit das Herz unbefriedigt


Mehr Herder?

Schon früh hemmt ihn der Gegensatz, der in dem Bewußtsein der inneren
Fülle und der Unfähigkeit, sie restlos zu äußern, liegt. Hieraus entspringen
— sogar im Augenblick heftigsten Vordringens nach innerer Klärung! — kleine
Züge von Besorgnis, ob man ihn? auch die gebührende Anerkennung zolle. Auch
diese Abhängigkeit von äußerem Urteil, ein Zeichen des mangelnden inneren
Gleichgewichts, ist ein Zug, der in unserer Zeit liegt. Wenn Herder, mit seiner
Fülle der Gesichte, mit dem Gefühl, ein Reformator der Kulturphilosophie zu
sein, vom Menschenurteil beeinflußt wird, so ist es wohl ein Überbleibsel seiner
harten Jugend, eine Art Verkrüppelung, die wir an dem Wahrheitssucher be¬
sonders schmerzlich empfinden. Gar zu menschlich erscheint es uns, wenn er
den Mangel an innerer Sicherheit ersetzt durch eine zur Schau getragene Würde,
oder gar durch ein absprechendes, nörgelndes Wesen.

Kann uns, die wir in einer unharmonisch gärenden Zeit nach Bahnbrechern
in ein Land der Harmonie zwischen Wollen und Können, zwischen Ich und
Umwelt ausschauen, kann uns Herder ein Führer sein? Er lebt uns die
Schmerzen vor, die in dem Mißverhältnis der genialen Intuition und der
praktischen Auswirkung ihre Quelle haben. Er. d. h. seine Persönlichkeit, kann
uns als psychologisches Studienobjekt interessieren, er kann uns als Held einer
im tiefsten menschlichen Wesen beruhenden Tragik erscheinen, aber ein Führer,
ein Vorbild, die Verkörperung eines Ideals kann uns dieser von Grund aus
unglückliche Mensch nicht sein.

Und doch, wenn dem so ist, was verschaffte diesem Menschen die Anziehungs¬
kraft, woher stammt der beispiellose Reiz, den Herder während seiner Jugend
und selbst noch bis ins Alter hinein auf so viele Menschen, die in seinen Kreis
traten, ausgeübt hat? Das Geheimnis liegt in der Wärme seines Wesens.
Das Gefühl, womit er Menschen und Dinge aller Zeiten umfaßt, läßt ihn als
ein Wesen von einziger Art erscheinen, nicht die von den Dingen abgelöste
Schwärmerei, nicht Ästhetentum, sondern ein enthusiastisches Ergreifen und Zu-
eigenmachen alles Gegebenen. In wem dieser Ton gleiche Saiten erregte, der
konnte sich Herders Wesen nicht entziehen. So allein ist sein Verhältnis zu
Goethe zu verstehen, der durch die unfreundliche Schale ins Innere dieses
seltenen Menschen sah. Hier ist es, wo die Versenkung in Herders Schriften,
die Vorstellung von seiner Menschenart, eine wohltätige Wirkung auf uns Kinder
einer raschlebenden, verstandeskühlen Zeit üben könnte. Man muß Schriften
aus seiner ersten Lebenshälfte lesen, z. B. die „Älteste Urkunde des Menschen-
geschlechts", um zu verstehen, wie ihm in ganz unerhörtem Maße die Gabe
des Einfühlens in die Gegenstände gegeben war. Das Gefühl war das Grund¬
organ, mit dem er nahes und Fernes an sich zog und zu einer eigenen Art
von Klarheit brachte. Und er war sich dieser Wesensseite froh bewußt. Wie
er z. B. in den Briefen über Ossian das gefühlsmäßig Erlebte in der Dichtung
dem Ergrübeltem entgegenhielt, so möchte man heute oft auch auf anderen Ge¬
bieten des geistigen Lebens tun, wo verstandesdürre Arbeit das Herz unbefriedigt


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[0075] Mehr Herder? Schon früh hemmt ihn der Gegensatz, der in dem Bewußtsein der inneren Fülle und der Unfähigkeit, sie restlos zu äußern, liegt. Hieraus entspringen — sogar im Augenblick heftigsten Vordringens nach innerer Klärung! — kleine Züge von Besorgnis, ob man ihn? auch die gebührende Anerkennung zolle. Auch diese Abhängigkeit von äußerem Urteil, ein Zeichen des mangelnden inneren Gleichgewichts, ist ein Zug, der in unserer Zeit liegt. Wenn Herder, mit seiner Fülle der Gesichte, mit dem Gefühl, ein Reformator der Kulturphilosophie zu sein, vom Menschenurteil beeinflußt wird, so ist es wohl ein Überbleibsel seiner harten Jugend, eine Art Verkrüppelung, die wir an dem Wahrheitssucher be¬ sonders schmerzlich empfinden. Gar zu menschlich erscheint es uns, wenn er den Mangel an innerer Sicherheit ersetzt durch eine zur Schau getragene Würde, oder gar durch ein absprechendes, nörgelndes Wesen. Kann uns, die wir in einer unharmonisch gärenden Zeit nach Bahnbrechern in ein Land der Harmonie zwischen Wollen und Können, zwischen Ich und Umwelt ausschauen, kann uns Herder ein Führer sein? Er lebt uns die Schmerzen vor, die in dem Mißverhältnis der genialen Intuition und der praktischen Auswirkung ihre Quelle haben. Er. d. h. seine Persönlichkeit, kann uns als psychologisches Studienobjekt interessieren, er kann uns als Held einer im tiefsten menschlichen Wesen beruhenden Tragik erscheinen, aber ein Führer, ein Vorbild, die Verkörperung eines Ideals kann uns dieser von Grund aus unglückliche Mensch nicht sein. Und doch, wenn dem so ist, was verschaffte diesem Menschen die Anziehungs¬ kraft, woher stammt der beispiellose Reiz, den Herder während seiner Jugend und selbst noch bis ins Alter hinein auf so viele Menschen, die in seinen Kreis traten, ausgeübt hat? Das Geheimnis liegt in der Wärme seines Wesens. Das Gefühl, womit er Menschen und Dinge aller Zeiten umfaßt, läßt ihn als ein Wesen von einziger Art erscheinen, nicht die von den Dingen abgelöste Schwärmerei, nicht Ästhetentum, sondern ein enthusiastisches Ergreifen und Zu- eigenmachen alles Gegebenen. In wem dieser Ton gleiche Saiten erregte, der konnte sich Herders Wesen nicht entziehen. So allein ist sein Verhältnis zu Goethe zu verstehen, der durch die unfreundliche Schale ins Innere dieses seltenen Menschen sah. Hier ist es, wo die Versenkung in Herders Schriften, die Vorstellung von seiner Menschenart, eine wohltätige Wirkung auf uns Kinder einer raschlebenden, verstandeskühlen Zeit üben könnte. Man muß Schriften aus seiner ersten Lebenshälfte lesen, z. B. die „Älteste Urkunde des Menschen- geschlechts", um zu verstehen, wie ihm in ganz unerhörtem Maße die Gabe des Einfühlens in die Gegenstände gegeben war. Das Gefühl war das Grund¬ organ, mit dem er nahes und Fernes an sich zog und zu einer eigenen Art von Klarheit brachte. Und er war sich dieser Wesensseite froh bewußt. Wie er z. B. in den Briefen über Ossian das gefühlsmäßig Erlebte in der Dichtung dem Ergrübeltem entgegenhielt, so möchte man heute oft auch auf anderen Ge¬ bieten des geistigen Lebens tun, wo verstandesdürre Arbeit das Herz unbefriedigt

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/75>, abgerufen am 27.07.2024.