Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Das werdende Albanien

ebenso wie die albanischen Malissoren gelegentlich auf Räubereien angewiesen.
Malissoren, d. h. Gebirgsleute, nennt man die Bewohner des unzugänglichen
und unwirtlichen Bergzuges, der sich durch Nordalbanien längs der monte¬
negrinischen Grenze hinzieht, im Gegensatz zu den kultivierteren Ansiedlern im
Kossovogebiet und den Bewohnern des südlichen, sanftere Formen zeigenden
Berglandes, den Miriditen. Eine weitere Erklärung der Fehden gibt das den
Montenegrinern und Albanesen gemeinsame Bestehen der Blutrache, einer Sitte,
die ja sehr barbarisch erscheint, über die wir uns aber insofern nicht allzu heftig
zu entrüsten brauchen, als sie gerade den edelsten und tüchtigsten Völkern auf
einem gewissen Kulturstandpunkt eigen zu sein pflegt. Davon haben auch unsere
eigenen Vorfahren keine Ausnahme gemacht und wir verdanken dieser Sitte das
herrlichste und großartigste Epos unserer Nationalliteratur, das Nibelungenlied,
dieses hohe Lied der Mannentreue und des aufopfernden Heldenmuth. Zwischen
Montenegrinern und Albanesen hat es also zeitweise Blutrache gegeben. Wurde
aber die Sache zu kompliziert und zu umfangreich, dann wurde ein Strich
darunter gemacht und nach einer entsprechenden Verhandlung ein "Blutfriede"
geschlossen. Dann lebten die Stämme wieder in herzlicher Eintracht; von
Nationalhaß ist keine Rede.

Etwas anders gestaltete sich das Verhältnis zwischen Albanesen und Serben.
Die Albanesen brachten den Serben aus Gründen, die ihren Ursprung wohl
noch in der Zeit der ersten serbischen Eroberungen haben, eine an Verachtung
grenzende Abneigung entgegen. Die Serben aber sahen in den Albanesen die
Werkzeuge der verhaßten türkischen Herrschaft, durch deren willige Hilfe sie aus
einem Teil der von ihnen einst besetzten und stets wieder beanspruchten Gebiete
-- im Sandschak Novibazar und Altserbien -- verdrängt worden waren. Allen
Anzeichen nach scheinen diese unfreundlichen Gefühle bei den Serben stärker zu
sein als bei den Albanesen, was sich aus dem beiderseitigen Nationalcharakter
leicht erklären läßt. Nun hat der jetzige Balkankrieg nicht nur diesen Haß bei
den Serben verschärft, sondern auch die Montenegriner in die gleiche Stimmung
hineingezogen. Denn die bloße Existenz der Albanesen stellt der Erfüllung
dringender Wünsche der kriegführenden Balkankönigreiche starke Hindernisse ent¬
gegen. Deshalb haben die Montenegriner gewaltsame Bekämpfungsversuche alba¬
nischer Katholiken zum orthodoxen Bekenntnis angestellt, während die Serben auf
ihrem Siegeszuge nach Süden die albanesische Bevölkerung, wo sie konnten, einfach
niedermetzelten. Wollte man jetzt Teile des Malissoren- und Miriditengebiets zu
Montenegro schlagen, die östlichen und nordöstlichen Albanesenstämme Serbien, die
Tosken Griechenland zuleiten, so würde, da die so geschaffenen Verhältnisse von den
Albanesen niemals gutwillig ertragen werden könnten, der Unfriede auf dem
Balkan verewigt werden, und zwar schlimmer, als es je zur Zeit der Türken¬
herrschaft geschehen ist. Dazu kommen die gewichtigen Gründe, die Österreich-
Ungarn und Italien veranlassen, Serbien infolge seiner politischen Haltung
keine politische Stellung an der Ostküste des Adriatischen Meeres zu gestatten.


Das werdende Albanien

ebenso wie die albanischen Malissoren gelegentlich auf Räubereien angewiesen.
Malissoren, d. h. Gebirgsleute, nennt man die Bewohner des unzugänglichen
und unwirtlichen Bergzuges, der sich durch Nordalbanien längs der monte¬
negrinischen Grenze hinzieht, im Gegensatz zu den kultivierteren Ansiedlern im
Kossovogebiet und den Bewohnern des südlichen, sanftere Formen zeigenden
Berglandes, den Miriditen. Eine weitere Erklärung der Fehden gibt das den
Montenegrinern und Albanesen gemeinsame Bestehen der Blutrache, einer Sitte,
die ja sehr barbarisch erscheint, über die wir uns aber insofern nicht allzu heftig
zu entrüsten brauchen, als sie gerade den edelsten und tüchtigsten Völkern auf
einem gewissen Kulturstandpunkt eigen zu sein pflegt. Davon haben auch unsere
eigenen Vorfahren keine Ausnahme gemacht und wir verdanken dieser Sitte das
herrlichste und großartigste Epos unserer Nationalliteratur, das Nibelungenlied,
dieses hohe Lied der Mannentreue und des aufopfernden Heldenmuth. Zwischen
Montenegrinern und Albanesen hat es also zeitweise Blutrache gegeben. Wurde
aber die Sache zu kompliziert und zu umfangreich, dann wurde ein Strich
darunter gemacht und nach einer entsprechenden Verhandlung ein „Blutfriede"
geschlossen. Dann lebten die Stämme wieder in herzlicher Eintracht; von
Nationalhaß ist keine Rede.

Etwas anders gestaltete sich das Verhältnis zwischen Albanesen und Serben.
Die Albanesen brachten den Serben aus Gründen, die ihren Ursprung wohl
noch in der Zeit der ersten serbischen Eroberungen haben, eine an Verachtung
grenzende Abneigung entgegen. Die Serben aber sahen in den Albanesen die
Werkzeuge der verhaßten türkischen Herrschaft, durch deren willige Hilfe sie aus
einem Teil der von ihnen einst besetzten und stets wieder beanspruchten Gebiete
— im Sandschak Novibazar und Altserbien — verdrängt worden waren. Allen
Anzeichen nach scheinen diese unfreundlichen Gefühle bei den Serben stärker zu
sein als bei den Albanesen, was sich aus dem beiderseitigen Nationalcharakter
leicht erklären läßt. Nun hat der jetzige Balkankrieg nicht nur diesen Haß bei
den Serben verschärft, sondern auch die Montenegriner in die gleiche Stimmung
hineingezogen. Denn die bloße Existenz der Albanesen stellt der Erfüllung
dringender Wünsche der kriegführenden Balkankönigreiche starke Hindernisse ent¬
gegen. Deshalb haben die Montenegriner gewaltsame Bekämpfungsversuche alba¬
nischer Katholiken zum orthodoxen Bekenntnis angestellt, während die Serben auf
ihrem Siegeszuge nach Süden die albanesische Bevölkerung, wo sie konnten, einfach
niedermetzelten. Wollte man jetzt Teile des Malissoren- und Miriditengebiets zu
Montenegro schlagen, die östlichen und nordöstlichen Albanesenstämme Serbien, die
Tosken Griechenland zuleiten, so würde, da die so geschaffenen Verhältnisse von den
Albanesen niemals gutwillig ertragen werden könnten, der Unfriede auf dem
Balkan verewigt werden, und zwar schlimmer, als es je zur Zeit der Türken¬
herrschaft geschehen ist. Dazu kommen die gewichtigen Gründe, die Österreich-
Ungarn und Italien veranlassen, Serbien infolge seiner politischen Haltung
keine politische Stellung an der Ostküste des Adriatischen Meeres zu gestatten.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0070" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/325590"/>
          <fw type="header" place="top"> Das werdende Albanien</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_283" prev="#ID_282"> ebenso wie die albanischen Malissoren gelegentlich auf Räubereien angewiesen.<lb/>
Malissoren, d. h. Gebirgsleute, nennt man die Bewohner des unzugänglichen<lb/>
und unwirtlichen Bergzuges, der sich durch Nordalbanien längs der monte¬<lb/>
negrinischen Grenze hinzieht, im Gegensatz zu den kultivierteren Ansiedlern im<lb/>
Kossovogebiet und den Bewohnern des südlichen, sanftere Formen zeigenden<lb/>
Berglandes, den Miriditen. Eine weitere Erklärung der Fehden gibt das den<lb/>
Montenegrinern und Albanesen gemeinsame Bestehen der Blutrache, einer Sitte,<lb/>
die ja sehr barbarisch erscheint, über die wir uns aber insofern nicht allzu heftig<lb/>
zu entrüsten brauchen, als sie gerade den edelsten und tüchtigsten Völkern auf<lb/>
einem gewissen Kulturstandpunkt eigen zu sein pflegt. Davon haben auch unsere<lb/>
eigenen Vorfahren keine Ausnahme gemacht und wir verdanken dieser Sitte das<lb/>
herrlichste und großartigste Epos unserer Nationalliteratur, das Nibelungenlied,<lb/>
dieses hohe Lied der Mannentreue und des aufopfernden Heldenmuth. Zwischen<lb/>
Montenegrinern und Albanesen hat es also zeitweise Blutrache gegeben. Wurde<lb/>
aber die Sache zu kompliziert und zu umfangreich, dann wurde ein Strich<lb/>
darunter gemacht und nach einer entsprechenden Verhandlung ein &#x201E;Blutfriede"<lb/>
geschlossen. Dann lebten die Stämme wieder in herzlicher Eintracht; von<lb/>
Nationalhaß ist keine Rede.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_284" next="#ID_285"> Etwas anders gestaltete sich das Verhältnis zwischen Albanesen und Serben.<lb/>
Die Albanesen brachten den Serben aus Gründen, die ihren Ursprung wohl<lb/>
noch in der Zeit der ersten serbischen Eroberungen haben, eine an Verachtung<lb/>
grenzende Abneigung entgegen. Die Serben aber sahen in den Albanesen die<lb/>
Werkzeuge der verhaßten türkischen Herrschaft, durch deren willige Hilfe sie aus<lb/>
einem Teil der von ihnen einst besetzten und stets wieder beanspruchten Gebiete<lb/>
&#x2014; im Sandschak Novibazar und Altserbien &#x2014; verdrängt worden waren. Allen<lb/>
Anzeichen nach scheinen diese unfreundlichen Gefühle bei den Serben stärker zu<lb/>
sein als bei den Albanesen, was sich aus dem beiderseitigen Nationalcharakter<lb/>
leicht erklären läßt. Nun hat der jetzige Balkankrieg nicht nur diesen Haß bei<lb/>
den Serben verschärft, sondern auch die Montenegriner in die gleiche Stimmung<lb/>
hineingezogen. Denn die bloße Existenz der Albanesen stellt der Erfüllung<lb/>
dringender Wünsche der kriegführenden Balkankönigreiche starke Hindernisse ent¬<lb/>
gegen. Deshalb haben die Montenegriner gewaltsame Bekämpfungsversuche alba¬<lb/>
nischer Katholiken zum orthodoxen Bekenntnis angestellt, während die Serben auf<lb/>
ihrem Siegeszuge nach Süden die albanesische Bevölkerung, wo sie konnten, einfach<lb/>
niedermetzelten. Wollte man jetzt Teile des Malissoren- und Miriditengebiets zu<lb/>
Montenegro schlagen, die östlichen und nordöstlichen Albanesenstämme Serbien, die<lb/>
Tosken Griechenland zuleiten, so würde, da die so geschaffenen Verhältnisse von den<lb/>
Albanesen niemals gutwillig ertragen werden könnten, der Unfriede auf dem<lb/>
Balkan verewigt werden, und zwar schlimmer, als es je zur Zeit der Türken¬<lb/>
herrschaft geschehen ist. Dazu kommen die gewichtigen Gründe, die Österreich-<lb/>
Ungarn und Italien veranlassen, Serbien infolge seiner politischen Haltung<lb/>
keine politische Stellung an der Ostküste des Adriatischen Meeres zu gestatten.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0070] Das werdende Albanien ebenso wie die albanischen Malissoren gelegentlich auf Räubereien angewiesen. Malissoren, d. h. Gebirgsleute, nennt man die Bewohner des unzugänglichen und unwirtlichen Bergzuges, der sich durch Nordalbanien längs der monte¬ negrinischen Grenze hinzieht, im Gegensatz zu den kultivierteren Ansiedlern im Kossovogebiet und den Bewohnern des südlichen, sanftere Formen zeigenden Berglandes, den Miriditen. Eine weitere Erklärung der Fehden gibt das den Montenegrinern und Albanesen gemeinsame Bestehen der Blutrache, einer Sitte, die ja sehr barbarisch erscheint, über die wir uns aber insofern nicht allzu heftig zu entrüsten brauchen, als sie gerade den edelsten und tüchtigsten Völkern auf einem gewissen Kulturstandpunkt eigen zu sein pflegt. Davon haben auch unsere eigenen Vorfahren keine Ausnahme gemacht und wir verdanken dieser Sitte das herrlichste und großartigste Epos unserer Nationalliteratur, das Nibelungenlied, dieses hohe Lied der Mannentreue und des aufopfernden Heldenmuth. Zwischen Montenegrinern und Albanesen hat es also zeitweise Blutrache gegeben. Wurde aber die Sache zu kompliziert und zu umfangreich, dann wurde ein Strich darunter gemacht und nach einer entsprechenden Verhandlung ein „Blutfriede" geschlossen. Dann lebten die Stämme wieder in herzlicher Eintracht; von Nationalhaß ist keine Rede. Etwas anders gestaltete sich das Verhältnis zwischen Albanesen und Serben. Die Albanesen brachten den Serben aus Gründen, die ihren Ursprung wohl noch in der Zeit der ersten serbischen Eroberungen haben, eine an Verachtung grenzende Abneigung entgegen. Die Serben aber sahen in den Albanesen die Werkzeuge der verhaßten türkischen Herrschaft, durch deren willige Hilfe sie aus einem Teil der von ihnen einst besetzten und stets wieder beanspruchten Gebiete — im Sandschak Novibazar und Altserbien — verdrängt worden waren. Allen Anzeichen nach scheinen diese unfreundlichen Gefühle bei den Serben stärker zu sein als bei den Albanesen, was sich aus dem beiderseitigen Nationalcharakter leicht erklären läßt. Nun hat der jetzige Balkankrieg nicht nur diesen Haß bei den Serben verschärft, sondern auch die Montenegriner in die gleiche Stimmung hineingezogen. Denn die bloße Existenz der Albanesen stellt der Erfüllung dringender Wünsche der kriegführenden Balkankönigreiche starke Hindernisse ent¬ gegen. Deshalb haben die Montenegriner gewaltsame Bekämpfungsversuche alba¬ nischer Katholiken zum orthodoxen Bekenntnis angestellt, während die Serben auf ihrem Siegeszuge nach Süden die albanesische Bevölkerung, wo sie konnten, einfach niedermetzelten. Wollte man jetzt Teile des Malissoren- und Miriditengebiets zu Montenegro schlagen, die östlichen und nordöstlichen Albanesenstämme Serbien, die Tosken Griechenland zuleiten, so würde, da die so geschaffenen Verhältnisse von den Albanesen niemals gutwillig ertragen werden könnten, der Unfriede auf dem Balkan verewigt werden, und zwar schlimmer, als es je zur Zeit der Türken¬ herrschaft geschehen ist. Dazu kommen die gewichtigen Gründe, die Österreich- Ungarn und Italien veranlassen, Serbien infolge seiner politischen Haltung keine politische Stellung an der Ostküste des Adriatischen Meeres zu gestatten.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/70
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/70>, abgerufen am 22.12.2024.