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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Der Zusammenbruch der Herrschaft Napoleons des Lrsten

von denen keiner einen Vorrang mehr besaß. Sie behaupten ihre Unabhängigkeit,
sie bilden den Begriff der Souveränität völlig durch. In Frankreich erhält
er seine genaue Bestimmtheit durch Jean Botin: nach ihm ist Souveränität
die höchste Gewalt, die keine andere Gewalt über sich kennt.

Mit der Durchbildung dieser voneinander unabhängigen Staaten hebt
eine neue Epoche der Universalgeschichte an. Sie wehrten sich in gleicher Weise
kräftig gegen die Ansprüche des Papsttums, auch gegen die aus der frühmittel¬
alterlichen Vormachtstellung hergeleiteten Velleitäten des deutschen Kaisers. So
ist schließlich ganz von selber, eben gezwungen durch die gleiche Lage, jeder
Staat genötigt, den anderen die gleichen Existenzbedingungen zuzuerkennen.
Die gemeinsame Not führte sie dahin, alle gleich gearteten Gesellschaften auch
als gleichberechtigte gelten zu lassen.

Damit haben wir die zweite Phase staatlichen Lebens. Nicht mehr auf
Welteroberung gehen die Staaten aus, sondern sie verfolgen nur die Tendenz,
sich möglichst so stark zu machen, daß sie sich gegenüber dem Angriff eines
anderen Staates behaupten können. Jeder ist bestrebt, nicht sich alle Staaten
zu unterwerfen, um in Sicherheit zu existieren, sondern nur sich soviel hinzn-
zuerobern, daß er dem Angriff eines "Erbfeindes" gewachsen ist.

Diese Entwicklung währte Jahrhunderte hindurch, als plötzlich ein Mann
auftrat, der den alten Gedanken der Weltherrschaft wieder aufgriff und mit
zäher Energie, mit genialen Wollen verfolgte -- Napoleon der Erste.

Man will neuerdings in ihm nur den Getriebener sehen, im Gegensatz
zur Meinung Snbels, Treitschkes und ihrer Zeitgenossen. Das größte Welt¬
verhältnis, behauptet der Historiker Lenz, in dem Napoleon sich überhaupt
bewegt habe, sei der Kampf gegen England und der Zusammenhang desselben
mit den kontinentalen Angelegenheiten gewesen; als erster Konsul wäre Napoleon
Bonaparte an dem Frieden, den er seiner durch ein Jahrzehnt innerer Zer¬
rüttung und schwerster Kriegsgefahr ganz ermatteten Nation bei Marengo er¬
obert, persönlich interessiert gewesen und in den neuen Kampf durch die Eng¬
länder hineingezwungen worden; "England ist es, das das Steuer von Napoleons
Politik gerade hinaus in die neuen Stürme lenkte."

Gewiß ist richtig, daß England immer und immer wieder gegen den
großen Korsen ankämpfte, eigentlich ohne Unterbrechung. Aber es griff damit
den Fehdehandschuh nur auf; der ihn immer wieder hinwarf, das war unstreitig
Napoleon. England war überall beteiligt, wo der Krieg gegen den Usurpator
aufloderte; doch tat es solches nur aus dem Selbsterhaltungstrieb heraus. Es
war dazu gezwungen durch die Eroberungspolitik des französischen Kaisers; er
war der angreifende Teil, bedrohte das seemächtige Albion in seinem Bestand,
suchte es mit allen Mitteln niederzuzwingen. So wollte er Ägypten erobern,
um damit den Schlüssel zu Indien in der Hand zu haben. Als die Überfahrt,
die Eroberung Englands von Boulogne aus, die ganz ernstlich geplant war,
gescheitert war, da ordnete er die Kontinentalsperre an, um dieser Handelsmacht
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Der Zusammenbruch der Herrschaft Napoleons des Lrsten

von denen keiner einen Vorrang mehr besaß. Sie behaupten ihre Unabhängigkeit,
sie bilden den Begriff der Souveränität völlig durch. In Frankreich erhält
er seine genaue Bestimmtheit durch Jean Botin: nach ihm ist Souveränität
die höchste Gewalt, die keine andere Gewalt über sich kennt.

Mit der Durchbildung dieser voneinander unabhängigen Staaten hebt
eine neue Epoche der Universalgeschichte an. Sie wehrten sich in gleicher Weise
kräftig gegen die Ansprüche des Papsttums, auch gegen die aus der frühmittel¬
alterlichen Vormachtstellung hergeleiteten Velleitäten des deutschen Kaisers. So
ist schließlich ganz von selber, eben gezwungen durch die gleiche Lage, jeder
Staat genötigt, den anderen die gleichen Existenzbedingungen zuzuerkennen.
Die gemeinsame Not führte sie dahin, alle gleich gearteten Gesellschaften auch
als gleichberechtigte gelten zu lassen.

Damit haben wir die zweite Phase staatlichen Lebens. Nicht mehr auf
Welteroberung gehen die Staaten aus, sondern sie verfolgen nur die Tendenz,
sich möglichst so stark zu machen, daß sie sich gegenüber dem Angriff eines
anderen Staates behaupten können. Jeder ist bestrebt, nicht sich alle Staaten
zu unterwerfen, um in Sicherheit zu existieren, sondern nur sich soviel hinzn-
zuerobern, daß er dem Angriff eines „Erbfeindes" gewachsen ist.

Diese Entwicklung währte Jahrhunderte hindurch, als plötzlich ein Mann
auftrat, der den alten Gedanken der Weltherrschaft wieder aufgriff und mit
zäher Energie, mit genialen Wollen verfolgte — Napoleon der Erste.

Man will neuerdings in ihm nur den Getriebener sehen, im Gegensatz
zur Meinung Snbels, Treitschkes und ihrer Zeitgenossen. Das größte Welt¬
verhältnis, behauptet der Historiker Lenz, in dem Napoleon sich überhaupt
bewegt habe, sei der Kampf gegen England und der Zusammenhang desselben
mit den kontinentalen Angelegenheiten gewesen; als erster Konsul wäre Napoleon
Bonaparte an dem Frieden, den er seiner durch ein Jahrzehnt innerer Zer¬
rüttung und schwerster Kriegsgefahr ganz ermatteten Nation bei Marengo er¬
obert, persönlich interessiert gewesen und in den neuen Kampf durch die Eng¬
länder hineingezwungen worden; „England ist es, das das Steuer von Napoleons
Politik gerade hinaus in die neuen Stürme lenkte."

Gewiß ist richtig, daß England immer und immer wieder gegen den
großen Korsen ankämpfte, eigentlich ohne Unterbrechung. Aber es griff damit
den Fehdehandschuh nur auf; der ihn immer wieder hinwarf, das war unstreitig
Napoleon. England war überall beteiligt, wo der Krieg gegen den Usurpator
aufloderte; doch tat es solches nur aus dem Selbsterhaltungstrieb heraus. Es
war dazu gezwungen durch die Eroberungspolitik des französischen Kaisers; er
war der angreifende Teil, bedrohte das seemächtige Albion in seinem Bestand,
suchte es mit allen Mitteln niederzuzwingen. So wollte er Ägypten erobern,
um damit den Schlüssel zu Indien in der Hand zu haben. Als die Überfahrt,
die Eroberung Englands von Boulogne aus, die ganz ernstlich geplant war,
gescheitert war, da ordnete er die Kontinentalsperre an, um dieser Handelsmacht
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[0599] Der Zusammenbruch der Herrschaft Napoleons des Lrsten von denen keiner einen Vorrang mehr besaß. Sie behaupten ihre Unabhängigkeit, sie bilden den Begriff der Souveränität völlig durch. In Frankreich erhält er seine genaue Bestimmtheit durch Jean Botin: nach ihm ist Souveränität die höchste Gewalt, die keine andere Gewalt über sich kennt. Mit der Durchbildung dieser voneinander unabhängigen Staaten hebt eine neue Epoche der Universalgeschichte an. Sie wehrten sich in gleicher Weise kräftig gegen die Ansprüche des Papsttums, auch gegen die aus der frühmittel¬ alterlichen Vormachtstellung hergeleiteten Velleitäten des deutschen Kaisers. So ist schließlich ganz von selber, eben gezwungen durch die gleiche Lage, jeder Staat genötigt, den anderen die gleichen Existenzbedingungen zuzuerkennen. Die gemeinsame Not führte sie dahin, alle gleich gearteten Gesellschaften auch als gleichberechtigte gelten zu lassen. Damit haben wir die zweite Phase staatlichen Lebens. Nicht mehr auf Welteroberung gehen die Staaten aus, sondern sie verfolgen nur die Tendenz, sich möglichst so stark zu machen, daß sie sich gegenüber dem Angriff eines anderen Staates behaupten können. Jeder ist bestrebt, nicht sich alle Staaten zu unterwerfen, um in Sicherheit zu existieren, sondern nur sich soviel hinzn- zuerobern, daß er dem Angriff eines „Erbfeindes" gewachsen ist. Diese Entwicklung währte Jahrhunderte hindurch, als plötzlich ein Mann auftrat, der den alten Gedanken der Weltherrschaft wieder aufgriff und mit zäher Energie, mit genialen Wollen verfolgte — Napoleon der Erste. Man will neuerdings in ihm nur den Getriebener sehen, im Gegensatz zur Meinung Snbels, Treitschkes und ihrer Zeitgenossen. Das größte Welt¬ verhältnis, behauptet der Historiker Lenz, in dem Napoleon sich überhaupt bewegt habe, sei der Kampf gegen England und der Zusammenhang desselben mit den kontinentalen Angelegenheiten gewesen; als erster Konsul wäre Napoleon Bonaparte an dem Frieden, den er seiner durch ein Jahrzehnt innerer Zer¬ rüttung und schwerster Kriegsgefahr ganz ermatteten Nation bei Marengo er¬ obert, persönlich interessiert gewesen und in den neuen Kampf durch die Eng¬ länder hineingezwungen worden; „England ist es, das das Steuer von Napoleons Politik gerade hinaus in die neuen Stürme lenkte." Gewiß ist richtig, daß England immer und immer wieder gegen den großen Korsen ankämpfte, eigentlich ohne Unterbrechung. Aber es griff damit den Fehdehandschuh nur auf; der ihn immer wieder hinwarf, das war unstreitig Napoleon. England war überall beteiligt, wo der Krieg gegen den Usurpator aufloderte; doch tat es solches nur aus dem Selbsterhaltungstrieb heraus. Es war dazu gezwungen durch die Eroberungspolitik des französischen Kaisers; er war der angreifende Teil, bedrohte das seemächtige Albion in seinem Bestand, suchte es mit allen Mitteln niederzuzwingen. So wollte er Ägypten erobern, um damit den Schlüssel zu Indien in der Hand zu haben. Als die Überfahrt, die Eroberung Englands von Boulogne aus, die ganz ernstlich geplant war, gescheitert war, da ordnete er die Kontinentalsperre an, um dieser Handelsmacht * 38

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/599>, abgerufen am 27.07.2024.