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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Sturm

Hturm
Roman
Max Ludwig-Dohm von(Dritte Fortsetzung)

Der Brief löste in Paul von der Borke einen Wirrwarr von Gefühlen aus.

Zuerst war es ein Gefühl der Enttäuschung, daß Edles so kurz und leicht
über ihre Neckerei hinweggegangen war, die ihm vorher Anlaß zu einer gründ¬
lichen Selbstbetrachtung und Einkehr gegeben hatte.

"Bin ich am Ende gar eitel?" dachte er und verscheuchte den Ärger, in¬
dem er sich selbst verspottete.

Der Bericht über die Zuspitzung der politischen Gegensätze in der Heimat
gab ihm zu denken. Es war da offenbar eine Parallele zwischen der Forderung
des Herrn von Wenkendorff und der eben noch von Paul zurückgewiesenen
Prophezeiung seines Freundes Wasslijew. Der alte Freiherr, in dessen Art
und Wirken sich alle Vorzüge des Deutschtums offenbarten, erblickte also wie
der Russe Wasslijew in der Aufhebung der zwischen Ständen und Volk er¬
richteten Schranken das einzige Mittel, die Gefahr der Revolution zu bannen.

Und Edles stand natürlich auf feiten ihres Vaters, den sie nicht nur in
Fragen der Landwirtschaft als ihren Lehrer bewunderte. Zwischen den Zeilen
ihres Briefes las Paul denselben Vorwurf, den ihm der Freund oben vor
Angeliques Buvette entgegengedonnert hatte: "Über die lächerliche Beschäftigung
mit Deinen Tierchen vergißt Du die Not des Vaterlandes!"

"Bin ich berufen, sie zu lindern?" dachte Paul in einer Regung von
Trotz. "Ich bin Zoologe. Die Frage was wird aus dem Menschen? geht
mich nichts an. Ich arbeite an der Lösung der anderen und wichtigeren: ,wie
ist der Mensch geworden?'. Erst wenn darauf eine klare und logische Antwort
gefunden ist, werdet Ihr Politiker den rechten Weg finden, der die Menschheit
zu Glück und Frieden sührt!"

In solchem Selbstgespräch ging Paul von der Borke in seinem Zimmer
auf und ab. Durch die Fenster klang das Rauschen des Meeres, das an die
Grundmauern des steinernen Gebäudes brandete. Wie liebte er diese Musik,
deren Rhythmus ihn nun schon das dritte Jahr bei seiner Arbeit begleitete!
Sollte er sie etwa jetzt im Stich lassen?

Politik war nach seiner Meinung weiter nichts als die Auseinandersetzung
zwischen sich widerstreitenden materiellen Interessen. "Ich habe keine solchen
Interessen. Also habe ich nicht die geringste Verpflichtung, mich um politische
Streitfragen zu kümmern!"

Aber hatte er wirklich keine materiellen Interessen? Er sah die wohl¬
geordnete Bibliothek in den Regalen, die vielfältig geteilten Kästen mit seinen
Sammlungen und Präparaten, sah die guten Stiche und Radierungen an den


Sturm

Hturm
Roman
Max Ludwig-Dohm von(Dritte Fortsetzung)

Der Brief löste in Paul von der Borke einen Wirrwarr von Gefühlen aus.

Zuerst war es ein Gefühl der Enttäuschung, daß Edles so kurz und leicht
über ihre Neckerei hinweggegangen war, die ihm vorher Anlaß zu einer gründ¬
lichen Selbstbetrachtung und Einkehr gegeben hatte.

„Bin ich am Ende gar eitel?" dachte er und verscheuchte den Ärger, in¬
dem er sich selbst verspottete.

Der Bericht über die Zuspitzung der politischen Gegensätze in der Heimat
gab ihm zu denken. Es war da offenbar eine Parallele zwischen der Forderung
des Herrn von Wenkendorff und der eben noch von Paul zurückgewiesenen
Prophezeiung seines Freundes Wasslijew. Der alte Freiherr, in dessen Art
und Wirken sich alle Vorzüge des Deutschtums offenbarten, erblickte also wie
der Russe Wasslijew in der Aufhebung der zwischen Ständen und Volk er¬
richteten Schranken das einzige Mittel, die Gefahr der Revolution zu bannen.

Und Edles stand natürlich auf feiten ihres Vaters, den sie nicht nur in
Fragen der Landwirtschaft als ihren Lehrer bewunderte. Zwischen den Zeilen
ihres Briefes las Paul denselben Vorwurf, den ihm der Freund oben vor
Angeliques Buvette entgegengedonnert hatte: „Über die lächerliche Beschäftigung
mit Deinen Tierchen vergißt Du die Not des Vaterlandes!"

„Bin ich berufen, sie zu lindern?" dachte Paul in einer Regung von
Trotz. „Ich bin Zoologe. Die Frage was wird aus dem Menschen? geht
mich nichts an. Ich arbeite an der Lösung der anderen und wichtigeren: ,wie
ist der Mensch geworden?'. Erst wenn darauf eine klare und logische Antwort
gefunden ist, werdet Ihr Politiker den rechten Weg finden, der die Menschheit
zu Glück und Frieden sührt!"

In solchem Selbstgespräch ging Paul von der Borke in seinem Zimmer
auf und ab. Durch die Fenster klang das Rauschen des Meeres, das an die
Grundmauern des steinernen Gebäudes brandete. Wie liebte er diese Musik,
deren Rhythmus ihn nun schon das dritte Jahr bei seiner Arbeit begleitete!
Sollte er sie etwa jetzt im Stich lassen?

Politik war nach seiner Meinung weiter nichts als die Auseinandersetzung
zwischen sich widerstreitenden materiellen Interessen. „Ich habe keine solchen
Interessen. Also habe ich nicht die geringste Verpflichtung, mich um politische
Streitfragen zu kümmern!"

Aber hatte er wirklich keine materiellen Interessen? Er sah die wohl¬
geordnete Bibliothek in den Regalen, die vielfältig geteilten Kästen mit seinen
Sammlungen und Präparaten, sah die guten Stiche und Radierungen an den


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[0536] Sturm Hturm Roman Max Ludwig-Dohm von(Dritte Fortsetzung) Der Brief löste in Paul von der Borke einen Wirrwarr von Gefühlen aus. Zuerst war es ein Gefühl der Enttäuschung, daß Edles so kurz und leicht über ihre Neckerei hinweggegangen war, die ihm vorher Anlaß zu einer gründ¬ lichen Selbstbetrachtung und Einkehr gegeben hatte. „Bin ich am Ende gar eitel?" dachte er und verscheuchte den Ärger, in¬ dem er sich selbst verspottete. Der Bericht über die Zuspitzung der politischen Gegensätze in der Heimat gab ihm zu denken. Es war da offenbar eine Parallele zwischen der Forderung des Herrn von Wenkendorff und der eben noch von Paul zurückgewiesenen Prophezeiung seines Freundes Wasslijew. Der alte Freiherr, in dessen Art und Wirken sich alle Vorzüge des Deutschtums offenbarten, erblickte also wie der Russe Wasslijew in der Aufhebung der zwischen Ständen und Volk er¬ richteten Schranken das einzige Mittel, die Gefahr der Revolution zu bannen. Und Edles stand natürlich auf feiten ihres Vaters, den sie nicht nur in Fragen der Landwirtschaft als ihren Lehrer bewunderte. Zwischen den Zeilen ihres Briefes las Paul denselben Vorwurf, den ihm der Freund oben vor Angeliques Buvette entgegengedonnert hatte: „Über die lächerliche Beschäftigung mit Deinen Tierchen vergißt Du die Not des Vaterlandes!" „Bin ich berufen, sie zu lindern?" dachte Paul in einer Regung von Trotz. „Ich bin Zoologe. Die Frage was wird aus dem Menschen? geht mich nichts an. Ich arbeite an der Lösung der anderen und wichtigeren: ,wie ist der Mensch geworden?'. Erst wenn darauf eine klare und logische Antwort gefunden ist, werdet Ihr Politiker den rechten Weg finden, der die Menschheit zu Glück und Frieden sührt!" In solchem Selbstgespräch ging Paul von der Borke in seinem Zimmer auf und ab. Durch die Fenster klang das Rauschen des Meeres, das an die Grundmauern des steinernen Gebäudes brandete. Wie liebte er diese Musik, deren Rhythmus ihn nun schon das dritte Jahr bei seiner Arbeit begleitete! Sollte er sie etwa jetzt im Stich lassen? Politik war nach seiner Meinung weiter nichts als die Auseinandersetzung zwischen sich widerstreitenden materiellen Interessen. „Ich habe keine solchen Interessen. Also habe ich nicht die geringste Verpflichtung, mich um politische Streitfragen zu kümmern!" Aber hatte er wirklich keine materiellen Interessen? Er sah die wohl¬ geordnete Bibliothek in den Regalen, die vielfältig geteilten Kästen mit seinen Sammlungen und Präparaten, sah die guten Stiche und Radierungen an den

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/536>, abgerufen am 30.12.2024.